Pisa - einmal hin und zurück

von Wolfgang Eckert

Wenn ich mit dem Nachmittagsbus von Zwickau nach Aue fahre, sitzen sie meistens auf den vordersten Plätzen, ihre Schulranzen, die viel zu groß sind, auf den Knien. Beide haben die gleichen Zöpfe und kunstvoll gestrickten Kappen. Sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich, Zwillinge eben. Mich erinnern sie an das doppelte Lottchen.

In der Frühe sind sie zur zehn Minuten entfernten Bushaltestelle gerannt, aus Angst, sie könnten die Abfahrt verpassen. Und so stehen sie im Winter und frieren. Eine halbe Stunde braucht der Bus. Dann müssen sie heraus, wuchten die schweren Ranzen auf ihre kleinen Rücken und hasten los. Wieder zehn Minuten. Ihre frühere Schule, fast vor ihrer Haustür, ist geschlossen. Bildungseinrichtungen bringen keinen Gewinn. In der neuen Schule sind sie deshalb 40 in einer Klasse. Sie sind müde und müßten jetzt erst einmal ein bißchen spielen dürfen, um locker zu werden. Aber sie müssen lernen. Die Lehrerin, die um ihre Stelle bangt und 40 Köpfe vor sich hat wie einen Schwarm unübersehbarer Vögel, erkennt nicht, daß sie müde aussehen. Warmes Essen gibt es nicht in der Schule. Um 14 Uhr ist der Unterricht zu Ende. Dann rennen sie wieder zum Bus. Ihre Ranzen drücken jetzt noch viel schwerer.

Im Ort nochmals zehn Minuten Fußweg. Nun müssen sie Schulaufgaben erledigen. Es sind nicht wenige. Leistung ist alles. Wer zurückbleibt, fällt. Die Mutter kommt von der Arbeit. Sie kocht Essen. Doch sie haben keinen Hunger, jetzt nicht mehr. »Spielt ein bißchen«, sagt die Mutter. Aber sie haben keine Lust dazu. Daß sie keine Kraft dazu haben, wissen sie nicht. Außerdem wird es dunkel. Da sollen Kinder in diesem Land nicht mehr rausgehen. So setzen sie sich vor die Kiste und sehen etwas an, das sie nicht begreifen. Die Mutter denkt zufrieden, sie ruhen sich aus. Der Vater ist nicht da. Der arbeitet dreihundert Kilometer entfernt im »Westen« und kommt nur besuchsweise, weil hier sein Betrieb wie die Schule geschlossen wurde. Dann müssen die Zwillinge ins Bett. Denn früh heißt es zeitig heraus, wie wir nun wissen. Zehn Minuten rennen, eine halbe Stunde fahrt, wieder zehn Minuten im Trab, Köpfchen anstrengen, dasselbe zurück.

Sie sitzen im Bus, die schweren Ranzen auf den Knien, und starren viel zu ernst, weil müde, vor sich hin. Die Erwachsenen, die im Gang stehen, starren vorwurfsvoll auf sie herab. In ihren strafenden Blicken ist zu lesen: Früher, als wir klein waren, haben wir älteren Leuten den Platz frei gemacht!

Kürzlich stand im Regionalblatt: Der Minister, welcher über Lehrer und Schüler bestimmt, schickt seine eigenen Kinder in eine Privatschule. Er sorgt sich, sie könnten sonst wie die anderen hinter Mexiko zurückfallen.

Erschienen in Ossietzky 5/2002