Oss

von Wolfgang Eckert

Er kam auf einem uralten Fahrrad aus dem Nachbardorf zu uns in die kleinstädtische Weberei gestrampelt, Oswald Petzold, den wir freundlich kumpelhaft Oss riefen. Dieses an allen Ecken knarrende und quietschende Vehikel nannten wir Spulrad. Das war Anfang der fünfziger Jahre. Aus einer Zeit, die mir unendlich fern war, trug er einen Kaiser-Wilhelm-Bart zu mir herüber, nicht etwa, weil er Ihro Majestät so geliebt hätte, die hatte ihm eher übel mitgespielt, sondern weil er als Vorturner einer Riege mit hochgewichsten Bartenden den Mädchen imponieren wollte. Er steckte voller einfacher Weisheiten und Episoden. »Mein Lieber, merk dir mal: Wenn die Not zieht ein ins Haus, dann fliegt die Liebe zum Fenster hinaus.«

Als junger Spund suchte ich in den Mittagspausen seine Nähe, um mehr von ihm zu erfahren. »Mein Lieber«, sagte er dann zu mir, während mich sein großväterlicher Blick von der Seite streifte, »mein Lieber, wenn der Mensch schwach wird, glaubt er.« Ich wußte damals nicht, daß er solche Erkenntnis aus Dreck, Schlamm, Blut und Angstschweiß gewonnen hatte, und von Otto Dix wußte ich auch noch nichts. Wieso kommt er mir auf einmal derartig lebensnah in Erinnerung, wo er doch schon zwanzig Jahre tot ist? Vielleicht liegt es daran, daß jetzige Majestäten wieder so reden, als müßten wir unsere Heimat tausende Kilometer von ihr entfernt verteidigen.

Der alte Oss gab mir darüber, während wir unsere weißen Bohnen aus der Schüssel löffelten, sachkundige Informationen. Er litt als junger Mann an einem Nabelvortritt. Sein Hausarzt stellte ihn deshalb von der Musterung zurück. »Da kommt das Koppel drauf und reibt. Der Nabel wird sich entzünden. Die Entzündung kann nach innen gehen und tödlich sein.« Als letzter junger Mann lief Oss noch durch das Dorf. Die Nachbarn zischten hinter den Fenstern: »Der geht hier weiter herum, und unsere Söhne sind schon im Feld.« Dann stand auch er vor dem Musterungsarzt. »Nabelvortritt? Na, wunderbar! Da kommt das Koppel drauf und drückt den Nabel ein. Das Ganze macht Sie gesund!«

Oss kommentierte solche richtungweisenden Veränderungen in seinem Leben mit der Anfangszeile eines Gedichtes: »Noch eene Stunde, sagt 'se, und dann mußte fort von hier...« So lag er bald draußen in der Sappe, im französischen Land, und es kam aus der Etappe die Meldung: Erhöhte Wachsamkeit, der Feind greift an! »Mein Lieber, wir guckten uns die ganze Nacht die Augen aus dem Kopf, jeder Frosch erschreckte uns. Nichts passierte. Und sie konnten hinten in ihrem Offizierscasino beruhigt huren und saufen. Jaja, so war das.«

Als für kurze Zeit der Waffenstillstand Soldaten zu Menschen machte, hob Oss als einer der ersten die Hand und winkte hinüber in den französischen Graben. Da erschien dort ebenfalls eine winkende Hand, dann ein Kopf, und einer von denen da drüben kroch vorsichtig heraus. Langsam, ganz langsam gingen sie aufeinander zu, wurden ihre Gesichter erkennbar, das Lächeln darin, und sie standen beisammen, der Sprache des anderen nicht mächtig, redeten mit den Armen, tauschten Zigaretten und Schokolade aus, zeigten sich die Fotos ihrer Frauen, Kinder und Eltern - »Vater!«, »Madame!« -, und sie nickten eifrig, damit der andere erkennen konnte, wie schnell sie begriffen.

Tage später kam der Befehl zum Angriff. Sie sprangen auf wie gewohnt, schossen wie immer und nahmen den Graben im Sturmlauf. Da sahen sie die anderen liegen, still und schweigend, deren Familien sie nun so gut kannten ...

»Mein Lieber, das kannst du dir nicht vorstellen, die lagen dort und wir nicht, und wir hatten uns doch eben erst auf die Schultern geklopft. Wer zuerst schießt, lebt länger, merk dir das mal. Und als wir ihre Waffen erbeuteten, lasen wir denselben Namen drauf, der auch auf unseren Waffen stand: Krupp. Mein Lieber, da hab ich erst angefangen nachzudenken.«

Ich sehe ihn noch sitzen, Oss, als wäre es nicht vor fünfzig Jahren, sondern erst heute mittag gewesen. Ich sehe, wie er schluckt, wie ihm die sonst so sichere Stimme wegkippt, und ich erschrak damals, weil ich fühlte, er ist damit nicht fertig geworden, wird nie damit fertig werden.

In einem fernen asiatischen Land können jetzt amerikanische - und bald deutsche? - Soldaten beim sogenannten Feind ihre eigenen Waffen wiederentdecken. Werden sie nachzudenken beginnen? Es bleibt eine Hoffnung.

Erschienen in Ossietzky 1/2002