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Während aber Ministerin Fischer nicht nur den Versicherten die angeblich »unumgänglichen Leistungskürzungen« zumutete, sondern sich auch noch mit den Lobbyverbänden der Ärzte, Apotheker, Krankenhäuser und Pharmakonzerne anlegte, trat Ulla Schmidt ihr Amt mit einem anderen Auftrag an: Bis zur Wahl 2002 soll sie für Ruhe an der Ärzte- und Pharmafront sorgen, nur den begrenzten Konflikt mit den »zu teuren und zu vielen« Krankenhäusern führen, den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen fördern und die »Eigenverantwortung der Patienten« mittels finanzieller Anreize oder Sanktionen »stärken«. Inzwischen bescheinigen alle Parteien, am meisten die eigenen »Parteifreunde«, der amtierenden Ministerin, daß sie mit ihrem Ministerium unfähig sei, die »anstehenden Probleme« zu lösen. Das war aber auch nicht ihr Auftrag. Sie soll das Thema bis zum Wahltag aus dem Streit der Parteien heraushalten – was ihr wohl gelingen wird, weil inzwischen Opposition und Regierungsparteien wie im Chor singen, daß im nächsten Jahr das Gesundheitswesen grundlegend reformiert werden soll. Nennenswerte Unterschiede sind kaum wahrnehmbar; dissonant singen sie gelegentlich auf beiden Seiten. Die Gesundheitspolitik unter Ministerin Schmidt erfüllt indes eine weitere, weniger auffällige Order: den Druck auf das System der gesetzlichen Krankenversorgung derart zu erhöhen, daß dessen Umbau, womit im wesentlichen ein Abbau gemeint ist, unausweichlich erscheint. In diesem Sinne werden die Kassen bedrängt, ihre Leistungen zu verringern und zugleich die Beiträge anzuheben, so daß die gesetzliche Krankenversicherung auch bei den Mitgliedern immer mehr in Mißkredit gerät. Offenbar versprechen sich starke Lobbygruppen ein gutes Geschäft, wenn nach der Teilprivatisierung der Rente bald auch die gesetzliche Krankenversorgung für Markt und private Versicherungsgesellschaften geöffnet wird. Die Forderungen der Wirtschaftsverbände sind ähnlich wie schon in der Rentenpolitik: Senkung des Arbeitgeberanteils, Expansionsmöglichkeiten für Versicherungskonzerne, bessere Geschäfte für die Pharmaindustrie. Den Mechanismus der Leistungskürzungen bekommen zur Zeit besonders die Krankenhäuser zu spüren: Deutschland hat angeblich zu viele Krankenhäuser. Die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Birgit Fischer kündigte an, daß die Hälfte aller Krankenhäuser in den nächsten fünf Jahren wegfallen müsse. Aus der Finanzierung maroder Kliniken haben sich die Länder bereits ebenso zurückgezogen wie aus dem Krankenhausneubau. So wird man bald auch hierzulande wie in England auf Operationstermine Jahre warten müssen, außer wenn Lebensgefahr besteht. Das Bundesgesundheitsministerium hat den Krankenhäusern vorgegeben, »Fallpauschalen« einzuführen. In Zukunft werden Operationen und Verweildauer je nach der Kategorie des Krankheitsfalles pauschal abgerechnet. Wenn nach einer Blinddarmoperation die Heilung nicht wie vorgeschrieben voranschreitet, wird der Patient trotzdem entlassen. Trotz aller Sparerei steigen die Beiträge in diesem Jahr um etwa 0,5 Prozent auf durchschnittlich 14 Prozent vom Bruttolohn – mit der Folge, daß nicht nur, wie üblich, der Protest der Arbeitgeber anschwillt, sondern allmählich auch die Arbeitnehmer anfangen, auf ihren Lohnzetteln nachzurechnen. Meinungsbildende Magazine rechnen ihnen vor, wieviel ihnen für ein marodes Gesundheitssystem abgezogen wird, und verstärken den Unmut durch schräge Darstellungen, in denen sie wichtige Einzelheiten auslassen. Daß die Beiträge steigen müssen, hat mehrere Ursachen. An erster Stelle ist der sinkende Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Bruttoinlandsprodukt zu nennen. Wenn es den Gewerkschaften regelmäßig nicht gelingt, Lohnerhöhungen durchzusetzen, die wenigstens dem Preisanstieg und dem Produktivitätszuwachs entsprechen (in den neunziger Jahren wurde oft nicht einmal die Preissteigerungsrate erreicht), dann schwindet das Potential für Sozialbeiträge. Wenn außerdem die Arbeitslosigkeit wieder zunimmt und zugleich der Krankenkassenbeitrag für Arbeitslose von der Bundesregierung um einen Milliardenbetrag abgesenkt wird, wie vor einem Jahr geschehen, dann müssen die Beiträge der noch Beschäftigten weiter erhöht werden. Der Unsinn, daß schon seit Jahren der Wettbewerb zwischen AOK, Ersatzkassen und Betriebskrankenkassen forciert worden ist, führt ebenfalls zu Beitragserhöhungen bei AOKs und Ersatzkassen. Vorrangig die Gesunden, Ledigen und gut Verdienenden wechseln zu den etwas billigeren Betriebskassen mit ihrem im Schnitt gesünderen und einkommensstärkeren Mitgliederstamm. Die bisherigen Regelungen für einen nachträglichen »Risikostrukturausgleich« zwischen den Kassen (der vorrangig die unterschiedliche Alterszusammensetzung berücksichtigt und nicht die unterschiedliche Verdienststruktur), haben daran wenig ändern können. So liegen die Beiträge bei den Betriebskassen um etwa zwei Prozentpunkte unter denen von AOK und Barmer. Auch die jüngste Entscheidung der Ministerin, Miet- und Kapitaleinkünfte von freiwillig Versicherten nicht in die Beitragsberechnung einzubeziehen, wird zur Folge haben, daß die Kassen, um Verluste auszugleichen, den Beitragssatz erhöhen. Das Bundesverfassungsgericht hatte Gleichbehandlung von pflicht- und freiwillig versicherten Rentnern angemahnt. Anstatt nun auch bei Pflichtversicherten Einkünfte aus Vermietungen und größerem Kapitalbesitz mit zu berücksichtigen, verfügte die Ministerin die generelle Freistellung – ein echtes Geschenk für all diejenigen, die für ihren Lebensabend vorrangig Immobilien und Kapitalvermögen angesammelt haben und die Rente mehr als Zubrot beziehen: Nur die kleine Rente ist ab jetzt beitragswirksam! Daß Ulla Schmidt nun fordert, die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben, darf man wohl als bloßes Getöse im Vorwahlkampf verstehen – wenngleich die Forderung überfällig ist. Zur Zeit liegt diese Grenze bei einem Bruttolohn von 3375 Euro. Wer beispielsweise 5000 Euro verdient, wird nur mit 9,5 statt mit 14 Prozent (Eigenanteil 4.75 statt 7 Prozent) belastet. Eine Art umgedrehte Progression für die Reichen! Die regierenden Politiker steuern im Einvernehmen mit ihren Hauptwahlkampfgegnern das System der gesetzlichen Krankenkassen weiter in die Krise. Offenbar wollen sie die Pflichtversicherung auf »Grundleistungen« reduzieren. Für »Wahlleistungen« vorzusorgen, bleibt dann jedem selber überlassen. Der »Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte« warnt vor solchem »neoliberalen Systemwechsel«: Aus der »schon herrschenden Zwei- Klassen-Medizin« würde eine »Drei-Klassen-Medizin«, die nicht nur zwischen Privat- und Kassenpatienten, sondern auch noch zwischen gesetzlich versicherten Patienten mit und ohne Zusatzversorgung unterscheide. Den Forderungen dieser Ärzte ist zuzustimmen: Erst durch die Einbeziehung aller Bevölkerungsschichten in eine allgemeine Pflichtversicherung ließe sich verhindern, daß Krankheit noch mehr als bisher zu einem individuellen Risiko wird. Eine Politik, die nur auf Markt, Wettbewerb und Privatisierung setzt, muß gestoppt werden. Gesundheit, Pflege und Heilung sind keine Ware. Kontext:
Erschienen in Ossietzky 4/2002 |
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