Erinnerung an Chatila (1982)

von Walter Kaufmann

Hier, im Westjordanland, gefährdete mich allein schon meine auf vielen Reisen bewährte Armeejacke, sie machte mich zur Zielscheibe der Palästinenser, und geradezu ein Wunder war es, daß von den wenigen Autos, die mich, den Trampenden, in südlicher Richtung überholten, tatsächlich eins anhielt. Schon nach wenigen Worten hatte ich heraus, daß die Frau am Lenker eine Journalistin war, dem Akzent und dem Aussehen nach eine Schwedin, und natürlich war ich ihr dankbar, daß sie das Risiko einging, mich mitzunehmen.

"Aber Ihre Jacke ziehen Sie besser aus."

"Draußen pfiff der Wüstenwind", sagte ich ihr.

"Schon richtig", meinte sie. "Aber eine Kugel im Kopf wäre schlimmer."

Ich streifte die Jacke ab und stopfte sie in meine Tragetasche. Im karierten Hemd wirkte ich nicht länger soldatisch, und natürlich wollte sie wissen, was mich nach Nablus verschlagen hatte. Es machte sie stutzig, daß auch ich für eine Zeitung schrieb und es dabei nötig hatte, zu trampen. "Muß schlecht bei Kasse sein, Ihr Blatt. Oder machen Sie das, um mehr zu erfahren?"

"Beides."

Ihr Woher und Wohin erwies sich als abenteuerlich - sie war im niedergebrannten, niedergemetzelten Palästinenserlager Chatila im Libanon gewesen und nun auf dem Weg zu einer Militärkommandatur in Jerusalem. Sie zögerte, bevor sie sich entschloß, mehr zu erklären.

Offensichtlich versuchte sie mich einzuschätzen.

Beim Vorstoß in das Innere des Lagers habe sie zwischen all den ermordeten Palästinensern die Erkennungsmarke eines israelischen Soldaten gefunden.

"Was beweist, daß auch Israelis an dem Massaker beteiligt waren. Nicht bloß die libanesischen Söldner aus der Pufferzone - was Tel Aviv immer behauptet. Wie also gelangte die israelische Erkennungsmarke zwischen all die Toten?"

Sie zeigte mir die Marke, während ihre Augen angestrengt auf die inzwischen dunkle Wüstenstraße gerichtet blieben. Sicherheitshalber fuhr sie ohne Licht.

"Sollte es mir gelingen, den Soldaten zu finden und zum Reden zu bringen, wäre das der Durchbruch."

Ich schwieg.

"Oder etwa nicht!"

Ich schwieg.

So rührig sie auch war, so sicher sie auch auftrat, wenn sie nicht schon an der Armeeverwaltung scheiterte, am israelischen Geheimdienst käme sie keinesfalls vorbei, sagte ich mir.

"Was schweigen Sie immerzu. Das wäre doch der Durchbruch!"

"Zweifellos". sagte ich, doch so, daß es sie nicht überzeugte.

Sie blickte mich kurz an, und fortan schwieg auch sie.

Erschienen in Ossietzky 3/2002