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Jean Villain, der den Ablauf jener "Rostocker Aktionwoche festhielt sieht starken Anlaß zu dem Verdacht, daß Vorsatz mitwirkte - nicht nur bei den Glatzköpfen, die "Ausländer aufklatschen" wollten. Aufgeschreckt durch die sich mehrenden Berichte über eine bevorstehende ausländerfeindliche "Rostocker Aktionswoche", ersucht der Ausländerbeauftragte der Stadt, Richter, am 19. August 1992 die Behörden aufs dringlichste, sich um die Sicherheit eines im Neubauviertel Lichtenhagen gelegenen Asylbewerberheims zu kümmern. Am selben Tag erhalten auch die Redaktionen der Lokalmedien anonyme Anrufe, denen zufolge in Rostock demnächst einiges geschehen werde. Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Kupfer und Rostocks Innensenator Madanz haben schon seit Tagen solche Hinweise, doch sie bleiben passiv. Selbst dann noch, als in der Rostocker Lokalpresse am 21. August mit starken Worten zu Massendemonstration gegen die in der Tat skandalösen Zustände im und rund um das Lichtenhagener Asylantenheim aufgerufen wird. Seit Wochen sind dessen Räumlichkeiten derart überlaufen, dass mehr als 100 Asylbewerber auf dem Rasen vor dem Haus kampieren müssen. Bar aller hygienischen Einrichtungen und ohne jeden Schutz vor Wind und Regen. Und schutzlos ausgesetzt auch den sich häufenden Beschimpfungen durch Anwohner, die das sich vor ihren Fenstern ausbreitende Elend mehr und mehr zu aggressiver Weißglut bringt. Zumal Hunderte von Eingaben der Bevölkerung an die Ämter unbeantwortet blieben und die Schweriner Landesregierung trotz aller Proteste mehrerer gesellschaftlicher Organisationen unentwegt weitere Flüchtlinge, darunter zahlreiche Sinti und Roma, nach Rostock-Lichtenhagen adressierte. Zusätzlich angeheizt wird an diesem Freitag die in Lichtenhagen ohnehin schon explosive Atmosphäre durch kahlgeschorene junge Leute, die dort und anderswo in Rostock Flugblätter verteilen. Darin wird den Ausländern die Hauptschuld an den aktuellen Problemen der Region gegeben und als Allheilmittel empfohlen: "Rostock muß deutsch bleiben!" Einige dieser Agitatoren, hört man, seien aus Lübeck, Hamburg, Berlin, Leipzig angereist. Das von wohlmeinenden Persönlichkeiten vorgebrachte Argument, die Ausländer stellten weniger als ein Prozent der Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns, seien also keinesfalls für die zunehmende Arbeitslosigkeit haftbar zu machen, ist zwar durchaus korrekt, bleibt aber gegen derlei politische Brunnenvergiftung wirkungslos. Schwerer als alle Logik wiegen in Lichtenhagen die sozialen Realitäten. Bis dahin hatten die etwa 60 000 seinerzeit aus allen Winkeln der DDR zusammengetrommelten Bewohner der in den siebziger Jahren zwischen Rostock und Warnemünde auf die grüne Wiese gestellten Neubauviertel ihr Brot hauptsächlich als Werft- und Hafenarbeiter, Seeleute und Fischer verdient. Jetzt, knapp zwei Jahre nach der Wende, ist von ihren Arbeitsplätzen nicht einmal mehr die Hälfte übrig geblieben. Nicht zu Unrecht äußert der Leiter des mecklenburgischen-vorpommerschen Verfassungsschutzes, Seidel, gegenüber Journalisten, zwei Drittel der Randalierer seien Heranwachsende, die als "Exekutivorgane des elterlichen Frustes" agierten... Schließlich steht just in diesen Sommertagen die beschleunigte Revision, genauer gesagt, die Kastration des Asylrechts (Artikel 16 Grundgesetz) zur Debatte. Kein Medienkommentar und keine Talkshow ohne bewegte Klagen über "Wirtschaftsflüchtlinge", die nur vom deutschen Wohlstand mitprofitieren wollten. Schon zeichnet sich ab, daß sich vielleicht auch die SPD an der verschärften Abwehr von Asylbewerbern beteiligen wird, doch noch ist nichts entschieden, nichts beschlossen, manches offen. Am Samstag, 22. August, läuft die "Aktionswoche" an. 35 weitgehend passiv bleibende Polizisten sichern den Plattenbau, in welchem das Lichtenhagener Asylantenheim untergebracht ist. Etwa 300 bis 400 junge Männer versammeln sich, brüllen stundenlang, begehen diverse Hausfriedensbrüche, weigern sich auseinanderzugehen und leisten schließlich offenen Widerstand gegen die Staatsgewalt. Die angeforderten Wasserwerfer treffen indes um volle vier Stunden zu spät ein; Rostock muß sie aus Schwerin kommen lassen. Am Sonntag versammeln sich vor dem Heim bereits 500 Randalierer, sekundiert von einer rasch anwachsenden Schar von Neugierigen. Diese schwillt am Montag, auf mindestens 3000 an. Die ersten dieser "Schlachtenbummler" beziehen ihre Posten bereits ab 15 Uhr, die vielleicht tausend Aktivisten koordinieren ihr Vorgehen fortan mittels CB-Funk. Laut Norddeutsche Neueste Nachrichten (NNN) sind es überwiegend 15- bis 16jährige, die von ihren Vätern und Großvätern "angefeuert" würden. Im inzwischen teilweise geräumten elfstöckigen Asylantenheim halten sich zu diesem Zeitpunkt noch rund 110 Vietnamesen, unter ihnen Frauen und Kinder, sowie ein ZDF-Team auf. Kurz nach 21 Uhr versuchen Demonstranten die Wasserwerfer zu stürmen, Was die Polizei seltsamerweise dazu veranlaßt, die Geräte und sich selber ein paar Seitenstraßen weit zurückzuziehen. Dort bleibt sie auch während der wenig später losbrechenden Brandorgie. Um 21.30 Uhr, genau zum Zeitpunkt, da für zwei Hundertschaften der Ordnungskräfte "Schichtwechsel" ist - sie ziehen ab, und die Ablösung bleibt aus -, fliegen die ersten Molotow-Cocktails. Zufällig sind genau in diesem Augenblick auch Innenminister Kupfer und sein in Warnemünde wohnender Rostocker Polizeichef Kordus außer Dienst. Ersterer befindet sich auf dem Rückweg nach Schwerin, letzteren hat das dringende Bedürfnis, sein Hemd zu wechseln, nach Hause getrieben. Als die Polizei dann endlich doch in das inzwischen weit fortgeschrittene Geschehen eingreift - aus mehreren Räume des Asylantenheims schlagen bereits die Flammen - applaudieren die Gaffer den Faschos und lassen die, denen Festnahme droht, immer wieder durch ihre Reihen schlüpfen. Die Feuerwehr wird um 21.38 Uhr alarmiert. Von einer Anwohnerin, nicht von der Polizei. Um 21.51 Uhr treffen die ersten Löschzüge ein, kommen jedoch nicht bis zur Brandstelle durch. Feuerwehrleute, die versuchen, den Brand mit Handlöschgeräten zu bekämpfen, werden von den Glatzköpfen bedroht und aufgefordert, sich zu "verpissen". Die im brennenden, nach wie vor von den Randalierern umringten Gebäude eingeschlossenen Vietnamesen und Fernsehleute retten sich aus den unteren Etagen nach oben und müssen sich, als dort Rauchvergiftung droht, unter Lebensgefahr über das Dach ins Nachbarhaus retten. In der Nacht zum Mittwoch, dem 26., wird die Redaktion der NNN gestürmt und auseinandergenommen. Die nunmehr 1300 Polizisten und Bundesgrenzschützer sind nach Darstellung ihrer Führung angeblich erst gegen Morgen imstande, die nach wie vor höchstens 1000 Rechtsradikalen zu bändigen. In dieser Nacht steigt die Zahl der seit Beginn der Unruhen Festgenommenen, jedoch nach Feststellung der Personalien zumeist gleich wieder Freigelassenen auf 244, die der Verhafteten auf ganze 15. Mecklenburg-Vorpommerns Premierminister Seite (CDU) lehnt jegliche Verantwortung für die Eskalation der Krawalle ab und stellt sich, wie die Agenturen melden, "demonstrativ vor Innenminister Kupfer". Die Lichtenhagener Ereignisse seien über die Polizei "hereingebrochen..." In Berlin demonstrieren an diesem Mittwoch 4000, in Rostock mehr als 6000 Menschen gegen rassistische Gewalt. Ihr Motto: "Zündet Kerzen an, keine Häuser!" Kordus läßt 60 demonstrierende Jusos festnehmen und für 13 Stunden zusammen mit Faschos in eine Turnhalle sperren. In der Nacht zum Donnerstag neuerliche Krawalle. Mehrere hundert mit Brandsätzen, Knüppeln und andern Waffen ausgerüstete Jugendliche prügeln sich mit 1600 Polizisten, die nun erstmals seit bald einer Woche etwas energischer vorgehen. Am Wochenende eine erste antirassistische Kundgebung in Lichtenhagen. Es kommen 20 000. Weil 4000 von ihnen in Bad Doberan polizeilich eingekesselt und stundenlang festgehalten worden sind, verzögert sich die gewaltlos ablaufende Veranstaltung um rund drei Stunden. Ebenfalls an diesem Wochenende finden in 15 deutschen Städten Übergriffe auf Asylbewerberheime, Jugendtreffs und Gaststätten statt. Die elektronischen Medien berichten allerdings nur über deren drei. Von den am Lichtenhagener Pogrom Beteiligten hat man inzwischen 32 in Haft genommen, zwei von ihnen wegen versuchten Mordes, einen wegen gefährlicher Körperverletzung, die übrigen wegen schweren Landfriedensbruchs. Die Mehrzahl der Beschuldigten stammt aus Mecklenburg-Vorpommern. Am 1. September 1992 teilt Knut Degner, Pressesprecher der SPD-Fraktion im Schweriner Landtag, der Schweriner Volkszeitung brieflich mit, ein Gespräch, das er vierundzwanzig Stunden nach dem Brandanschlag in Lichtenhagen mit dem Rostocker Innensenator Madanz (SPD) führte, habe ergeben, dass man sich der schauerlichen Überfüllung der Lichtenhagener Asylantenunterkünfte und ihres Vorplatzes vollauf bewußt gewesen sei, sie geduldet habe und "die Sache deshalb auf das Schlimmste zutreiben liess, ... um weitere Asylbewerber vom Kommen abzuhalten." Madanz habe zugegeben, daß er die Asylbewerber durchaus auch in Turnhallen oder ähnlichen Unterkünften hätte unterbringen können. Doch sei "dies in seinen Augen keine Lösung gewesen". Weiter behauptet Degner, daß Madanz, der Rostocker Oberbürgermeister Kilimann (SPD), dessen Stellvertreter Zöllick und Innenminister Kupfer durchaus "die Macht" besessen hätten, "etwas zu tun, um Deutschland, Mecklenburg-Vorpommern und der Stadt Rostock diese Schmach zu ersparen". Doch sie hätten "es unterlassen" und "mit dem Feuer gespielt". Weil die Menschen in diesem Lande "so gewissenlosen und zynischen Figuren" nicht länger "ausgeliefert" bleiben dürften, fordere er sie zum Rücktritt auf. "Sie aber weichen nicht und lügen weiter, um ihre Haut, nein, ihre Macht und ihre Sessel, notfalls aber wenigstens ihre Versorgungsansprüche zu retten." Nach einer Krisensitzung des SPD-Landesvorstands und der Fraktion wird Degner vom Fraktionsvorsitzenden Harald Ringsdorff, dem späteren Ministerpräsidenten, beurlaubt. Anfang November 1992 erzwingt die Opposition im Rostocker Senat eine parlamentarische Untersuchung. Schon nach der Befragung von nur fünf Zeugen ergibt sich folgendes Bild: 1. Eine "Bürgerinitiative Lichtenhagen", deren Hintermänner unbekannt geblieben sind, hatte mehrmals Protestaktionen gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST) angekündigt. Weder Polizei noch Verfassungsschutz meinten die Hinweise ernst nehmen zu sollen. 2. Leitung und Wachpersonal der ZAST hatten ihre Vorgesetzten wiederholt darüber informiert, daß anonyme Schlepperorganisationen per LKW und sogar containerweise immer mehr Asylbewerber nach Lichtenhagen karrten. Die Autonummern wurden der Polizei gemeldet, die aber nichts unternahm. 3. Schon ab Ostern 1992 war nach Angaben der Zeugen der Ansturm auf die Lichtenhagener ZAST nicht mehr beherrschbar gewesen. So sei nichts anderes übrig geblieben, als den Flüchtlinge zu Sommerbeginn zu erlauben, auch auf der Wiese zu kampieren. Täglich habe der Leiter der ZAST mit dem Abteilungsleiter im Innenministerium telefoniert, ihn immer wieder auf alle akuten Probleme hingewiesen und auch dagegen protestiert, dass ausgerechnet in jenen Tagen zwei Planstellen gestrichen wurden. Vergebens. 4. Vom Beginn der Krawalle an habe das Wachpersonal die Polizei darauf aufmerksam gemacht, daß es nur "zwei Handvoll" Rädelsführer gebe. Die Polizei habe sie gewähren lassen. Wo immer nach diesen Rostocker Augusttagen die Promotoren der beschleunigten Revision des Asylrechts ein auf sie gerichtetes Mikrofon oder eine Kamera sichteten, beschworen sie fortan mit Grabesstimme und Leichenbittermiene die "tragischen Lichtenhagener Ereignisse". Und so kam, was kommen sollte: Die Verfassungskastration fand statt.
Erschienen in Ossietzky 2/2002 |
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