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Denn: "Wir fühlen uns in wachsendem Maße ohnmächtig gegenüber wirtschaftlichen, militärischen und politischen Strukturen, die für Machtgewinn und Profit unsere Interessen in lebenswichtigen Fragen einfach ignorieren." Wir erläutern das mit Beispielen: "So können wir uns zwar alle vier Jahre bei den Wahlen für eine von vielen streitenden Parteien entscheiden. Wir stellen jedoch fest, daß die Programme dieser Parteien mit der Politik, die sie dann tatsächlich machen, kaum etwas zu tun haben. Die politischen Losungen in der DDR waren selten lustig, sie werden in ihrer Hohlheit von den Wahlwerbungen der Parteien heute übertroffen. Wir haben uns über das Abstimmverhalten der Volkskammerabgeordneten amüsiert. Angesichts des Abstimmverhaltens der Bundestagsabgeordneten ist uns das Lachen vergangen."Unseren Zorn fassen wir in die Worte: "Wir haben es satt, daß unter dem Banner von Freiheit und Demokratie gegen unsere Interessen regiert wird. Wir haben es satt, uns für dumm verkaufen zu lassen. Wir haben es satt, uns das platte Geschwätz auf Parteitagen anzutun. Wir haben Volksvertreter satt, die unsere Interessen nicht vertreten und das auch noch als Erfolg feiern. Wir haben einen Bundeskanzler satt, der um der Macht willen Abgeordnete dazu bringt, ja zum Krieg zu sagen, wenn sie nein meinen, und nein zu sagen, wenn sie ja meinen. Wir machen nicht mit, wenn Kriegseinsätze mit Worthülsen wie ‚Verantwortung übernehmen', ‚der neuen Rolle Deutschlands in der Welt', mit ‚Politikfähigkeit' und ‚der Durchsetzung der Rechte der Frauen' verharmlost werden. Wir verweigern uns diesem Krieg." In zahlreichen Gesprächen nach der unsäglichen Bundestagsdebatte über die Kriegsbeteiligung hatten wir zunächst den Eindruck, daß Ossis auf den Kriegsbeschluß etwas schärfer reagierten als Wessis. Daraufhin entstand die Idee, den Text tatsächlich aus dem Ostblickwinkel zu schreiben. Die späteren Reaktionen haben den scheinbaren Ost-West-Unterschied aber nicht bestätigt. Der Text bekam im Internet eine eigene homepage (www.wir-haben-es-satt.de), die innerhalb eines Monats rund 100 00mal aufgerufen wurde. Sie wurde auch von einer größeren Zahl anderer Betreiber auf deren Internetseiten abgedruckt. Mehrere Zeitungen veröffentlichten den Text ganz oder teilweise. Zu unserer Freude wird er auch in der alten Schneeballtaktik von Hand zu Hand weitergegeben und von Sympathisanten auf eigene Faust vervielfältigt - das passiert heute nur noch selten. Überraschend groß ist die Zahl mündlicher und schriftlicher Reaktionen. Es überwiegt begeisterte und zum Teil bewegend begründete Zustimmung zu unserem Text. Es gibt jedoch auch andere Töne: erschütternde Resignation und Ratlosigkeit. Wir werden gefragt, weshalb wir so lange gebraucht hätten, zu verstehen, wie der Westen funktioniert. Diese Reaktionen reichen bis zu der Einschätzung, zur völlig berechtigt kritisierten Scheindemokratie gehöre es dazu, daß man ungestraft auch ein bißchen protestieren darf; mit unserem Text seien wir also unfreiwillig ein Teil des kritisierten üblen politischen Spiels geworden. Andere wehren sich vehement dagegen, daß wir immer wieder die DDR mit der BRD vergleichen, sie werfen uns vor, wir würden beide gleichsetzen. In unserer Erklärung werden Schlagworte von damals ("Ewige Waffenbrüderschaft", "Unverbrüchliche Solidarität", "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!") und heutige Parolen zitiert ("Kreuzzug gegen das Böse", "Uneingeschränkte Solidarität", "Wer nicht für uns ist, ist für die Terroristen!"). Aber damit setzen wir die beiden Staaten nicht gleich. Auch nicht, wenn wir daran erinnern, daß wir 1989 erwartet haben, nach dem Ende des Kalten Krieges, nach Überwindung des verhaßten und verachteten System von Bütteln und Spitzeln in der DDR würden auch die westlichen Geheimdienste abrüsten, und wenn wir dann erwähnen, daß die von uns abgerissenen Stasi-Videokameras nun durch neue ersetzt werden, die Telefonabhöraktivitäten steil ansteigen und der Geheimdienst aufgeblasen wird. Ebenso wenig ist es eine Gleichsetzung, wenn wir schreiben: "Wir haben nicht vergessen, wie die Gummiparagraphen des politischen Strafrechts der DDR uns die Luft abgeschnürt haben. Wir greifen uns jetzt an den Hals, wenn wir lesen, mit welcher Leichtfertigkeit das Terrorismus-Bekämpfungsgesetz (der sogenannte Otto-Katalog) des Innenministers und die entsprechenden Entwürfe in anderen westlichen Staaten und auf europäischer Ebene Gummistricke drehen, die wir glücklich losgeworden zu sein gehofft hatten." Die Gleichsetzungsuntersteller mögen bedenken, daß in der DDR die von uns kritisierten Übel ganz normal, nicht weiter verwunderlich waren - handelte es sich doch um eine Diktatur. Ist es nicht - wirklich gleiche Probleme unterstellt - viel schlimmer, wenn diese Probleme unter dem Banner einer Demokratie auftreten? Wir sehen das so. In unserer Erklärung äußern wir Entsetzen darüber, wie selbstverständlich von hochrangigen Politikern gebilligt wird, daß die vermeintlichen Anstifter des Terroranschlags vom 11. September 2001 mit einer grotesk übermächtigen Militärmaschinerie umgelegt werden, ohne daß ihre Schuld bewiesen wäre. Mit Widerwillen sprechen wir über die Umstände der Rot-Grünen Entscheidung für den Krieg und stellen fest: Nach dieser Erfahrung sehen wir "keinen Raum mehr für parteitaktische Spielchen, für die Sorge um den eigenen warmen Arsch - machen wir endlich den Mund auf!" Einige Kritiker regen sich über den angeblich rüden, rotzigen Ton, die Analsprache des Textes. Zugegeben, wir haben scharf formuliert, wir sind zornig, aber wer sich nur über den "warmen Arsch" in unserem Text aufregt und nicht über die von uns nur sehr unvollständig zusammengestellten Probleme unseres Landes und der Welt, hat ein eigenartiges Wertesystem. Unter den zustimmenden Zuschriften hat uns besonders beeindruckt, wenn die Freunde beschrieben haben, daß sie Angst hatten, uns zu schreiben oder gar den Text mitzuunterzeichnen, daß sie dann aber nachgedacht haben und, gerade weil sie Angst haben, nun doch unterschreiben, sich öffentlich hinter unsere Kritik stellen. Sie greifen damit ein wesentliches Motiv auf, das uns dazu gebracht hat, den Text zu entwerfen: die Atmosphäre der Angst nach dem 11. September, offen über den Terroranschlag, die Reaktionen der USA, der NATO, der BRD, die vermutlichen Ursachen des Terrorismus und darüber, was Terrorismus eigentlich ist, zu reden. Dazu gehört der Druck auf Springer-Journalisten, nichts Kritisches über die USA zu schreiben, dazu gehören die Maßregelungen von Lehrern und Schülern, die Nichtinformation bzw. Desinformation über den Terroranschlag, den Krieg und die Hintergründe. Hier sind wir nahe an 1989, wo viele von uns es satt hatten, Angst und immer wieder Angst zu haben. Zum Angsthaben gehören aber zwei - einer, der Angst machen will, und einer, der sich ins Bockshorn jagen läßt. Wir werden jetzt gefragt, welche Alternativen wir denn haben, wie es weitergehen soll, was man denn gegen die Parteienherrschaft machen kann, wie man denn mit Terroristen umgehen soll. Ähnlich wie 1989 wollen wir nicht den Anschein erwecken, die Lösungen zu wissen. Wir freuen uns darüber, daß wir einander Mut machen können, die Probleme zu sehen, wie sie sind, die richtigen Fragen zu stellen und miteinander darüber offen nachzudenken. Das ist an sich nicht wenig. Wir haben unseren Text beendet mit dem Satz: "Wir haben 1989 gelernt, daß es Sinn hat, zu widersprechen." Irgendwie hatten wir das Gefühl, daß der Kampfruf der Leipziger Montagsdemos "Wir sind das Volk" nicht recht paßt. Wieso eigentlich? Sebastian Pflugbeil war Gründungsmitglied des Neuen Forums; er gehörte dem Zentralen Runden Tisch, der Stadtverordnetenversammlung von Berlin (Ost), dann dem Abgeordnetenhaus von Berlin und der letzten DDR-Regierung an. Zu den 40 Erstunterzeichnern der Erklärung gehören auch Wolfgang Ullmann (Gründungsmitglied von Demokratie jetzt), Hans-Jochen Tschiche (Groß-Ammensleben), Almuth und Heino Falcke (Erfurt), Christian Führer (Leipzig), Wolfgang Rüddenklau (Berlin), Klaus Schlüter (Schwerin) und Hans-Jochen Vogel (Chemnitz).
Erschienen in Ossietzky 2/2002 |
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