Als Ende letzten und Anfang diesen Jahres in Argentinien Tausende auf die Straße
gingen, Autobahnen mit brennenden Reifen blockiert und Geschäfte geplündert
wurden, war wenig von einer »sozialen Bewegung«, aber viel von spontanen
Protesten und einer Armutsrebellion die Rede. Tatsächlich haben in dem
südamerikanischen Land viele die traditionellen Parteien und Gewerkschaften
verlassen. Die einst größte Gewerkschaft Lateinamerikas, die peronistische
Confederación General del Trabajo (CGT) hat einen enormen Mitgliederschwund zu
verzeichnen. Zu offensichtlich ist ihre Nähe zur peronistischen
Justizialistischen Partei (PJ). Und die großen Parteien – die PJ wie die Unión
Cívica Radical (UCR) – verfolgen beide einen neoliberalen Wirtschaftskurs, wie
ihn der Internationale Währungsfonds vorgibt.
Auf der anderen Seite sind mehr als drei Millionen Argentinier und
Argentinierinnen in über 100.000 Nichtregierungsorganisationen aktiv. Dazu
kommen all diejenigen, die in nicht registrierten oder illegalen Gruppen
organisiert sind. Die größte Opposition ist außerhalb des Parlaments, was sich
auch daran zeigt, daß in einem Land, in dem Wahlpflicht herrscht, die Zahl der
Nichtwähler seit Jahren steigt.
Die Unabhängigkeit und Vielfalt der Opposition zeigt zwar, daß die
Parteiendemokratie keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung hat. Andererseits ist
auch keine Alternative in Sicht, weil die Gruppen – Menschenrechtsgruppen,
Arbeitslosen-Organisationen, kleine Gewerkschaften, Umweltschutz-Verbände – sich
auf einzelne Themen konzentrieren, aber kein politisches oder gesellschaftliches
Gegenmodell aufzeigen. Viele der unabhängigen Gruppen (exemplarisch
dokumentieren wir in Auszügen eine Erklärung des »Colectivo Situaciones«)
streben – ähnlich wie die Zapatisten in Mexico – nicht nach staatlicher Macht,
sondern begreifen sich als Opposition zur Macht.
Der Aufstand vom Dezember hatte keinen Urheber: Sein einziger Protagonist war die Menschenmenge auf den Straßen.
Der Aufstand »neuen Typs«, an dem wir Argentinier gerade teilhaben, geht von den Menschen auf den Straßen aus, die einfach nur »Nein« sagen. Gleichzeitig zeigt die politische Macht ihre ganze Unfähigkeit. Auch wenn gesagt wird, daß die peronistische Partei, die Partido Justicialista, im Hintergrund die Fäden ziehe: In Wirklichkeit haben die Anführer der verschiedenen Parteien und Gewerkschaften nichts anderes getan als hinter der Menschenmenge her zu rennen. Der Aufstand vom Dezember hatte keinen Urheber: Sein einziger Protagonist war die Menschenmenge auf den Straßen. Die Versionen, die in den Massenmedien zirkulieren, sind falsch. Es gab keine dahinterstehende Macht, die für uns entschied; auch nicht die, die sich heute als stille Antreiber der Bevölkerung präsentieren.
Die Bevölkerung sagte deutlich nein. Viele sagen, daß dies zu wenig sei, daß dies nicht ausreicht, daß die Kämpfe nur Sinn machen, wenn sie ein »alternatives Gesellschaftsmodell« vorbringen. Dagegen muß deutlich gesagt werden: das »Nein« des Aufstandes hat eine unbestreitbare Schlagkraft. Es war ein positives Nein, sowohl was seine Kraft betrifft, die es ausdrückte, als auch bezüglich der Ereignisse, die es einläutete. Es zielte nicht nur auf den Sturz einer Regierung. Dieses rebellische »Nein« markierte eine Grenze für die Macht und festigte die Kraft des Widerstands. Dieses »Nein« zielt nicht auf staatliche Macht, es muß sich nicht durch konstruktive Ratschläge »legitimieren«. Es antwortet nicht gemäß der Regeln der Kommunikation, die nach verlockenden Diskursen und attraktiven Bildern verlangt. Aber in bestimmter Weise artikuliert es eine klare Botschaft über die Möglichkeiten, die globale Herrschaft und die lokalen Mächte zu brechen, die unter dem Begriff »Neoliberalismus« zusammengefaßt werden können.
Die Vielfalt – was nicht Beliebigkeit bedeutet – ist der Schlüssel für die neue Radikalität der Bewegung.
Dieses Phänomen, dieses »Nein«, ist Ausdruck einer Bewegung, die nicht nach den Interpretationen und Kategorien der Macht und ihrer Organisationen funktioniert, die die Unabhängigkeit von jeglichen Hierarchien fordert. Denn staatliche Macht und Repression funktionieren nur durch Furcht und Vereinzelung. Und die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen funktionieren, indem sie die »kleine Macht« verwalten. Es ist kein Zufall, daß gerade diese Organisationen während der Aufstände marginal blieben. Sie verlieren an Gewicht gegenüber der entschlossenen und spontanen öffentlichen Präsenz. Wenn sie versuchen, an die Spitze dieser neuen sozialen Rebellion zu treten, machen sie sich Illusionen. Die Macht der Straße wurzelt nicht in einer zentralen Organisation. Die Bevölkerung hat denjenigen, die die Massen »dirigieren« wollen, die kalte Schulter gezeigt – durch die Fülle der Demonstrationen, durch das Auftreten von Grüppchen jeglicher Art, durch die Vielfalt der Organisationsformen. Denn wenn im Namen der Effizienz eine »Führung«, ein »Delegierter« oder ein »Repräsentant« erscheint, führt dies zwangsläufig zu Integration und zur Mäßigung der Kämpfe. Daher ist die Vielfalt – was nicht mit Beliebigkeit gleichzusetzen ist – der Schlüssel für die neue Radikalität der Bewegung.
Der Text ist Teil einer Erklärung des »Colectivo Situaciones« aus Buenos Aires
zu den Aufständen in Argentinien.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 259 der iz3w - blätter des
informationszentrums 3. welt.
Der einleitende Kommentar stammt von der Redaktion der iz3w.
https://sopos.org/aufsaetze/3c6954f521c59/1.html