von Utz Anhalt (sopos)
Die schwarze Flagge mit dem Totenkopfemblem ist ein positiv besetztes Symbol in der undogmatischen Linken, insbesondere in der Subkultur. Der Symbolwert basiert neben der Lektüre der Schatzinsel von Stevenson auf der Vorstellung einer sozialromantischen freien Assoziation von Gesetzlosen. Piraten tragen Augenklappen und Holzbeine, Steinschloßpistolen, Säbel und Kopftücher und führen ein wildes, freies und abenteuerreiches Leben. Trotz aller Romantisierung entbehrt dieser Mythos nicht der Realität.
Piraten gibt es seit den Anfängen der Seefahrt bis heute. Die Symbolwelt des Piratenmythos speist sich allerdings aus dem Goldenen Zeitalter der Piraterie von ca. 1700 bis 1750, der Phase der handelskapitalistischen Expansion der europäischen Mächte nach Afrika und dem Aufstieg Englands und Frankreichs zu Weltseemächten. Ein ausgedehnter Welthandel innerhalb des englischen Empires mit Südostasien (Ostindienkompanie) sowie der Güterexport Spaniens und Portugals aus den lateinamerikanischen Kolonien führte zu einer neuen Stufe der handelskapitalistischen Konkurrenz.
Die Piraterie übte auf die Elendsbevölkerung in den englischen, nordamerikanischen und französischen Hafenstädten des 18. Jahrhunderts eine schier magische Anziehungskraft aus.
Dieses Spannungsfeld bedingte irreguläre Verkehrformen wie Freibeuterei und Schmuggel. Schiffe der untereinander verfeindeten Großmächte beteiligten sich durch Schmuggel in den Hoheitsgewässern am Geschäft mit der Ausbeutung der Rohstoffe der Kontinente. Zudem stellten die verfeindeten Reiche eigene Freibeuter (Bukaniere) an, die in königlichem Auftrag handelten und den Großteil der Kaperbeute an die eigene Krone abliefern mußten. Die Freibeuter standen im Unterschied zu Piraten durch einen Kaperbrief unter internationalem Recht. Im 16. Jahrhundert waren Kaperbriefe ursprünglich ausgestellt worden, um es Kaufleuten nach einem Überfall zu ermöglichen, die Beute zurückzuerobern.
Die immensen Reichtümer, die über die Weltmeere transportiert wurden, die Unmöglichkeit der einzelnen Großreiche, die Handelsschiffe ausreichend militärisch zu schützen, Gebiete auf hoher See, deren Herrschaftsanspruch unklar war und die umkämpft wurden - dies ließ einen Freiraum entstehen, der zu einer Blütephase der Seeräuberei, bis hin zu einzelnen Piratenstaaten führte. Insbesondere die Karibik, die ostafrikanischen Küsten und die indischen Meeresgebiete wurden zu einem Tummelgebiet verschiedener Piratenkapitäne, von denen einigen wie Bartholemew Roberts und Blackbeard bereits zu Lebzeiten ein legendärer Ruf zuteil wurde.
Die Piraterie übte auf die Elendsbevölkerung in den englischen, nordamerikanischen und französischen Hafenstädten des 18. Jahrhunderts eine schier magische Anziehungskraft aus, denn dem Vegetieren und Dahinsiechen in der Armut stand die Verlockung eines zwar möglicherweise kurzen, aber dafür abenteuerlichen und beutereichen Lebens gegenüber.
So rekrutierte sich ein Großteil der Besatzung auf Piratenschiffen aus dieser euroamerikanischen Armutsbevölkerung; aber auch aus Matrosen der Kriegs- und Handelsmarinen, die in der Piraterie eine freiere Alternative gegenüber dem barbarischen Strafsystem der Hierarchien auf See, der Unterordnung unter die terroristische Gewalt allmächtiger Offiziere und der schlechten Bezahlung sahen. Körperstrafen selbst bei kleinsten Verfehlungen, Auspeitschen, Kielholen und andere Grausamkeiten waren im Strafsystem der europäischen Kriegsmarine im 18. Jahrhundert selbstverständlich. Das Schanghaien, die Zwangsrekrutierung von Seeleuten durch die Betäubung mit Alkohol war gängige Praxis.
Die Piraten des Goldenen Zeitalters waren in den seltensten Fällen Freiheitskämpfer der Meere.
Die Gesellschaftsorganisation auf den Piratenschiffen des 18. Jahrhunderts war oft wesentlich demokratischer war als in der Marine und den Handelsschiffen der europäischen Mächte. Ein nicht unbedeutender Teil der Besatzung auf den zumeist von Europäern geführten Piratenschiffen bestand aus befreiten wie entlaufenen (vor allem afrikanischen und asiatischen) Sklaven. Dabei erwiesen sich einige Piratenkapitäne als ebenso brutale Rassisten wie ihre in der Legalität lebenden Landsleute.
Theoretisch wurden die Kapitäne und Offiziere auf den Schiffen häufig gewählt. Die Beute auf (vogel-)freien Piratenschiffen wurde, anders als auf Freibeuterschiffen relativ egalitär verteilt: Eine Faustregel besagte, daß der Kapitän drei Teile, der erste und zweite Offizier je zwei, Steuermann und Bootsmann je eineinhalb und jedes der Mannschaftsmitglied einen Teil der Gesamtbeute bekamen, wohingegen auf den Freibeuterschiffen drei Viertel der Beute an die Krone gingen, ein Fünftel unter dem Kapitän und den Offizieren aufgeteilt wurde und lediglich ein Bruchteil der Besatzung zugute kam.
Unter dieser Voraussetzung ist es nachvollziehbar, daß die Verlockung für so manchen Freibeuter, sich selbstständig zu machen, groß war. Zwar war der Galgen in Aussicht, doch auch das "normale" Leben auf Freibeuterschiffen ließ nicht unbedingt eine Lebensplanung bis zum Ruhestand zu. Die Überfälle auf bewaffnete Handelsschiffe führten zu vielen Opfern, Krankheiten wie Skorbut oder Pest waren ebenso permanente Bedrohung wie auch Stürme, Riffs oder Flauten.
Die Piraten des Goldenen Zeitalters waren in den seltensten Fällen Freiheitskämpfer der Meere. Wie die Räubereien derer, die sie überfielen, basierten ihre Kaperungen auf der Anwendung und Ausübung von Gewalt zur eigenen Bereicherung, die mit Grausamkeiten, Folter und Mord einherging. Meist jedoch bestand die Beute durchschnittlicher "Prisen" im 18. Jahrhundert in den meisten Fällen nicht aus goldbeladenen Schiffen, sondern aus einigen Rollen Ankerseilen, Äxten oder ein paar Schweinen. Die Opfer waren mehrheitlich keine Handelsfregatten, sondern in der Peripherie siedelnde Dorfbewohner, Küstenfischer und andere wenig Besitzende.
Vor allem in der Nichtintegration in die merkantilistischen Ökonomien resultierte das Mythengeflecht, daß Daniel Defoe und später Stevenson um sie herum entwerfen konnten
Die Leben der einzelnen Piratenkapitäne waren tatsächlich so spannend wie ein Drehbuch, ähnelten oft jedoch eher einem heutigen Splatterfilm als einer Abenteuerverfilmung. In den Biographien der bekannten Piratenkapitäne des golden age finden sich blutrünstige Barbaren ebenso wie gebildete und freiheitsliebende Menschen. Die Romantisierung der Piraten setzte vor allem im 19. Jahrhundert ein, als die großen Figuren des Goldenen Zeitalters nicht mehr lebten und die Bedrohung der imperialen europäischen Mächte durch Piraten abnahm. Deren Skrupellosigkeit wurde in den Schauergeschichten ihrer Zeit oft über-, in der Verherrlichung durch die exotistische Literatur des 19. Jahrhunderts oft untertrieben. Die Romantisierung speiste sich aus der Entdeckung und Eroberung der Welt durch Europa. Vor allem in der Nichtintegration in die merkantilistischen Ökonomien resultierte das Mythengeflecht, daß Daniel Defoe und später Stevenson um sie herum entwerfen konnten; diese Nichtintegration war es aber zugleich, die die Piraten zu ihrer Zeit der Oberklasse verhaßt gemacht haben.
Für den Mythos bleibt auch heute noch der Reiz der Grenzüberschreitung, die Weite des Meeres, ein "wildes und gefährliches" Leben und die anarchische Verlockung der Gesetzlosigkeit und unbegrenzten Möglichkeiten als Kontrapunkt zu erdrückenden Verwaltungshierarchien und zwischenmenschlicher Entfremdung. Das Leben zwischen Teufel, Totenkopf und der tiefen See war in der gesellschaftlichen Wirklichkeit leider alles andere als Spielerei, sondern ungefähr so entspannend wie ein Afghanistanurlaub während des Nato-Bombardements gegen die Taliban. Die Freiheit lag vor allem in dem winzigen Bereich zwischen Kugel und Strick.
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