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Trinklieder als Nationalhymnen

Ein Gespräch mit Paul Parin über Zivilisation, Barbarei und nationale Mythenbildung

von Stephan Günther


In Ihrem Anfang des Jahres erschienenen Buch "Der Traum von Ségou" schreiben Sie vom Verlust an Bürgersinn und demokratischer Ordnung, der im Rückfall in barbarische Verhältnisse zu münden drohe. Haben Sie die Anschläge von New York und Washington vorausgeahnt?

Paul Parin: Die Anschläge vom 11. September waren für mich erschreckend, aber sie kamen nicht überraschend. Am Sonntag zuvor hatte ich noch Besuch von dem ungarischen Schriftsteller Išvan Eresch. Bevor er wegging, es war schon nachts, habe ich ihn gefragt: 'Wird die Entwicklung Ihrer Meinung nach weitergehen? Wird der freie Markt die ganze Welt ins Elend stürzen?' Wir waren uns einig: Das kann so nicht weitergehen. Eine Milliarde Menschen leidet Hunger - und einige Wenige vor allem in der westlichen Welt sind maßlos reich. Er glaube, sagte Eresch, es werde eines Tages zu einem großen, zu einem schrecklichen Krach kommen. Wann, das hat er nicht gesagt. Als ich dann am Dienstag die Fernsehnachrichten sah, dachte ich unwillkürlich an dieses Gespräch zurück.

Beim Kampf Arm gegen Reich steht der Hauptverdächtige, Osama bin Laden, allerdings auf der falschen Seite. Er ist Multimillionär.

Parin: Die Armut und die Unterdrückung bilden den Nährboden, aus dem man eine Unzahl von Ideologien aufbauen kann. Die verschiedenen Ausprägungen des Islamismus sind solche Ideologien, die die Machtverhältnisse umkehren wollen. Nun sind Attentäter selbst nie die Unterprivilegierten, das ist bei den Islamisten nicht anders als in der Linken.

Die Attentäter kommen also mitten aus der Gesellschaft und nicht - wie häufig unterstellt - von weit außerhalb der Zivilisation?

Parin: Wenn vom Zusammenprall verschiedener Kulturen die Rede ist, dann halte ich das für einen schiefen Blick. Wenn man nur die Kultur betrachtet, dann ignoriert das die ökonomischen und politischen Ursachen und Hintergründe.

Dennoch ist nicht selten in den letzten Wochen vom Kampf der Kulturen die Rede. Wie läßt sich aus psychologischer Sicht das Wiederaufkommen bipolarer Erklärungsmuster deuten: Zivilisation und Barbarei, Orient und Okzident, Ost und West?

Parin: Es ist zwar kein Gesetz der Psychologie, aber doch eine Regel, daß einzelne Menschen, aber auch eine Nation oder ein Volk in einer Situation der Verunsicherung und der Angst Trost und Schutz im 'Wir' suchen: 'Wir sind die Guten und die anderen sind die Bösen.' Dabei weiß jeder, daß es diese schwarz-weißen Gegensätze nicht gibt.

Sicherlich macht die Unterscheidung in das absolut Gute und das absolut Böse keinen Sinn. Doch der Krieg reduziert nun mal alles auf das Freund-Feind-Schema. Sie selbst haben sich vor fast fünfzig Jahren entschieden: "Es ist Krieg und wir gehen hin".

Parin: Das war eine völlig andere Situation, es war der Kampf gegen den Nazi-Faschismus, dem wir uns angeschlossen haben. Damals waren wir uns sicher - und das bin ich mir auch jetzt noch -, daß der Widerstand notwendig war. Ich bin kein Pazifist, aber heute muß man sich gegen diese religiös und nationalistisch aufgeladene Stimmung stellen und für die Vernunft das Wort ergreifen. Dieses Gerede vom gerechten Krieg verkennt doch, daß wir es heute nicht mit einer großen zerstörerischen Armee, sondern mit einzelnen Fanatikern zu tun haben. Der Krieg aber richtet sich gegen alle.

Sie haben mehrfach, auch in ihrem jüngsten Buch, auf die zerstörerischen Kräfte der Globalisierung hingewiesen. Warum aber stoßen momentan eher alternative Modelle auf Resonanz, die nicht nur die liberalisierte Wirtschaft, sondern gleich jedes aufgeklärte Denken ablehnen?

Parin: Auf Zugehörigkeit, auf Heimat und auf Nationalismus bauen Bewegungen auf, die dabei immer auf eine Identitätsgeschichte zurückgreifen. Diese Geschichten lassen sich so weit manipulieren, bis sich die Menschen in ihrem Recht bestätigt sehen. Und immer wieder, wenn es Konflikte gibt - und vor allem, nachdem der Ost-West-Konflikt gegenstandslos wurde - werden sie herausgekramt. Es ist nicht schwer, das zu erzeugen. Wenn Sie sich das Beispiel Jugoslawien anschauen: Slobodan Milosevic, der zuvor gar kein Nationalist, sondern Kommunist war, nannte die Bewegung, die ihn getragen hat, erst Nationalkommunismus, dann nationalen Sozialismus. Die Zeitungen in Belgrad haben ein halbes Jahr vom Nationalsozialismus geschrieben bis ihnen bewußt wurde, mit was sie sich da eigentlich vergleichen. Danach hat man den Begriff nationale Demokratie geprägt.

Und so lassen sich nationale Mythen schaffen?

Parin: Wahr ist, daß die meisten Menschen in Jugoslawien keine Zeitungen gelesen haben, sondern Fernsehen geschaut haben. Das macht die Propaganda sehr viel leichter. Aber das Ausmaß des Nationalismus hat auch mich überrascht, denn in Jugoslawien gibt es ja nicht nur einfache Bauern. Auch in den Großstädten, auch in Belgrad, wo die Avantgarde lebt - Künstler, Schriftsteller, Theaterleute - war irgendwann die Überzeugung verbreitet, daß Gott durch diese Schlachten in historischer Zeit, vor 600 Jahren, das serbische Volk zum auserwählten und heiligen erklärt hat. Sie waren für diese Überzeugung bereit, andere zu töten oder selbst in den Tod zu gehen.

Welche Rolle spielt die Ethnologie in der Produktion solcher Mythen und damit in der Konstruktion von Nationalismus und Ethnizität? Immerhin ist sie es, die so genannte Ethnien wissenschaftlich erst unterscheidet.

Parin: Ich bin sehr kritisch gegenüber der Ethnologie eingestellt, aber in diesem Fall muß man ihr zugute halten, daß sie im Gegenteil den historischen Mißbrauch von Mythen meist in Frage gestellt hat. Ernest Renan hat schon Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben, Nationen seien in Wirklichkeit ziemlich neue Gebilde, die ihre Legitimation aus einem uralten Mythos beziehen, die aus Irrtümern, Anachronismen und unwillkürlichen und willkürlichen Lügen zusammengesetzt sind. Die Entlarvung dieser Mythen haben Historiker und Ethnologen immer wieder versucht, aber es ist wahnsinnig leicht, Leute, die in einer schlechten Lage sind, von einfachen Geschichten zu überzeugen. Diese wahr geredeten Mythen führen natürlich zu keiner Lösung. Im Gegenteil: Es ist völlig absurd zu glauben, es könnte sich etwas bessern, wenn man Flugzeuge vor Häuser steuert. Das ist eine in der Tat faschistische Logik.

Wie tief sitzen diese Mythen? Kann man sie zerstören?

Parin: Nehmen Sie die Erzfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich. Als die Nazis besiegt waren, gab es zwei wichtige Symbolfiguren, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, die in relativ kurzer Zeit eine Erzfeindschaft beendet haben, die in den beiden Weltkriegen noch Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Das haben sie selbstverständlich nicht allein geschafft und auch nicht ganz schnell, aber sie standen für den politischen Willen, die Feindschaft in eine Freundschaft zu verwandeln. Sie haben das mit ganz einfachen Mitteln gemacht: mit der Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse und einer neuen freundschaftlichen Symbolik.

Allerdings gab es auch gleich wieder einen neuen Feind: den Osten, den Kommunismus. Ist es psychologisch möglich, eine Identität ohne einen solchen Feind zu schaffen?

Parin: Als Psychoanalytiker bin ich heute sehr skeptisch. Die Psyche eines Einzelnen kann sich von diesen Mechanismen befreien, aber die Gruppen- oder Massenpsychologie funktioniert ganz anders. Und das wird sich auch kaum ändern, denn Wahlen sind nun mal leichter zu gewinnen, wenn man sich ein Feindbild schafft, als wenn man sich mit den eigenen Problemen auseinandersetzt. Es gibt zu diesem Thema einen interessanten Briefwechsel zwischen Albert Einstein, dem Physiker und Pazifisten, und Sigmund Freud, dem Initiator der Psychoanalyse. Einstein wollte, daß Freud erklärt, warum es noch immer notwendig sei, immer das Eigene, das Gute, über das Andere, das vermeintlich Böse zu konstruieren. 'Wenn Sie die menschliche Psyche durchschaut haben', sagte er, 'dann muß es doch möglich sein, andere Wege zu finden als die Barbarei und den Krieg'. Freud antwortete ihm, daß man den Menschen zwar so gut kenne, um sich andere Möglichkeiten vorzustellen. 'Doch,' ergänzte er, 'nur ungern denkt man an Mühlen, die so langsam mahlen, daß man längst verhungert ist, ehe man das Mehl bekommt.'

Die Mühlen mahlen allerdings unterschiedlich lang. In manchen Ländern ist der Nationalismus dominant, in anderen spielt er nur eine geringe Rolle.

Parin: Das ist richtig. Wenn Sie sich die Nachfolgestaaten Jugoslawiens anschauen, fällt auf, daß in Slowenien der Nationalismus weitaus weniger ausgeprägt ist als in den anderen Ländern. Woran liegt das? Erstens, und das ist sehr wichtig: Sie haben dort keine große Geschichte. Sie haben nie einen eigenen König gehabt. Sie haben zwar eine eigene Sprache, aber ihre Hauptkulturträger waren Professoren, die in Wien und Graz in deutscher Sprache gelesen haben. Und die jetzige Nationalhymne ist ein Trinklied. Dort haben die extremistischen Strömungen bislang jedenfalls keinen großen Einfluß. Ich denke, daß in kleinen, machtpolitisch und historisch unbedeutenden Staaten die Gefahr des Nationalismus geringer ist als in den großen, mächtigen Ländern.

Völkerverständigung und Austausch über die Grenzen hinweg galten den Internationalisten nach den Weltkriegen als Grundlage für Frieden und Freiheit. Warum wurde diese Hoffnung enttäuscht?

Parin: Es scheint einen Abgrund zwischen der persönlichen Erfahrung - wo und wie auch immer die gemacht wird - und dem alltäglichen Verhalten der Bevölkerung zu geben. Die Erfahrung der Ferienreise geht offenbar nicht ein in das Alltagsverhalten. Tito-Jugoslawien zum Beispiel galt hier in der Schweiz für den Mittelstand, aber auch für ärmere Leute als das beste Reiseland. Es war billig, die Landschaft war schön, vor allem aber waren die Leute so sympathisch. Sie galten als offen, als zugänglich, als vertrauensvoll. Man hatte Liebesabenteuer dort, man vertraute den Jugoslawen sogar die Kinder an. Dann aber, innerhalb kürzester Zeit, als die Kriege los gingen und Flüchtlinge herkamen, galten sie plötzlich als anmaßend und als frech. Sie bekamen alle schlechten Eigenschaften zugeschrieben.

Wie ist das psychologisch möglich?

Parin: Politik und Medien haben die Gräuel der Kriege nicht den jeweiligen Verantwortlichen, sondern den Völkern - den Serben, den Kroaten, den Albanern - zugeschrieben. Plötzlich waren die Medien voll von Berichten über den gewalttätigen Jugoslawen. Es wird weitaus unterschätzt, wie konformistisch in den Demokratien die großen Massen sind, inklusive der Parteien und der Medien. Das, was von den Machthabern vorgegeben wird, wird weitergegeben. Warum das auch im Kleinen, im Einzelnen funktioniert, ist schwer zu sagen. Es spielt sicher eine Rolle, daß man sich gerne ein negatives Anderes schafft. Wenn die Flüchtlinge schmutzig sind, dann doch im Vergleich zum sauberen Schweizer oder Deutschen. Daß die Flüchtlingsunterkünfte so schmutzig sind, weil die schlechtesten Baracken zur Verfügung gestellt werden, wird dann gar nicht mehr wahrgenommen.

Hat die Aufklärung versagt, wenn weder konkrete Erfahrungen im Umgang mit Unbekanntem - etwa beim Reisen - noch alles Wissen über die Funktionsweisen von Vorurteilen und Propaganda die verbreitete Xenophobie mindern können, einfache Wahrheiten und nationale Mythen dagegen viel besser zu vermitteln sind?

Parin: Ich habe den Eindruck, daß sich die selbst als aufgeklärt bezeichnenden demokratischen Staaten maßlos überbewerten. Denn die Machtinteressen von Politik und Medien sind ungleich größer als ihr Wille zur Aufklärung. Das zeigt sich nicht zuletzt jetzt wieder in der Kriegspropaganda.


Paul Parin, 1916 in Polzela im heutigen Slowenien geboren, studierte Medizin in Zürich, wo er bis heute lebt. 1944 ging er gemeinsam mit seiner Frau Goldy Mathèy und anderen Ärzten zur Partisanenarmee nach Jugoslawien. Nach dem Krieg arbeitete er als Psychoanalytiker in der Schweiz und unternahm mit seiner Frau und Fritz Morgenthaler zahlreiche Forschungsreisen. Sie gründeten den neuen Forschungszweig der Ethno-Psychoanalyse, unter anderem, um mit der Analyse fremder Verhaltensweisen eigene gesellschaftliche Muster besser erkennen zu können. Später schrieb Paul Parin auch zahlreiche literarische Werke, meist in Zusammenarbeit mit seiner Frau ("Wir beide, Goldy und ich, mußten dieses Buch schreiben; da sie nicht gerne schreibt, habe ich es für sie geschrieben"), die 1997 starb.
Die Weißen denken zu viel - Bei den Dogon in Westafrika (1963), Der Widerspruch im Subjekt - Ethnopsychoanalytische Studien (1978), Es ist Krieg und wir gehen hin - Bei den jugoslawischen Partisanen (1991), Der Traum von Ségun - Neue Erzählungen (2001)
Das Interview erschien zuerst in der Nr. 257 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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