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Gehorchend Regieren

Gespräch mit Ana Esther Ceceña und John Holloway über die zapatistische Bewegung

von Ulrich Brand


Anfang Dezember 2000, am Tag nach dem Regierungsantritt des neuen mexikanischen Präsidenten Vicente Fox, kündigte die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) an, ihre Kommandeure in die Hauptstadt zu schicken. Ein genialer Coup, denn die Zapatistas starteten ihre Offensive in dem Moment, in dem Fox und die ihn tragenden Teile der Bourgeoisie ihre ökonomischen und politischen Vorhaben definieren mußten. Mit der Reise war nicht nur die Frage nach den indigenen Rechten der Bevölkerung aus dem südmexikanischen Bundesstaat Chiapas, denen endlich die verfassungsmäßige Anerkennung gesichert werden sollte, wieder ganz oben auf der politischen Tagesordnung. Auch die Debatte um die Bedeutung dieser "ersten Rebellion des 21. Jahrhunderts" (Carlos Fuentes) gewann wieder an Fahrt. Denn seit dem 1.Januar 1994 beeinflussen der Aufstand in Chiapas und die politischen Ansätze der Zapatistas das kritische und revolutionäre Denken nicht nur in Mexiko, sondern weltweit. Im Februar führte Ulrich Brand in Mexiko ein Gespräch mit Ana Esther Ceceña und John Holloway über die grundlegende Bedeutung der zapatistischen Rebellion. Beide fühlen sich von Beginn an mit dem Aufstand eng verbunden. Ceceña ist Professorin an der Autonomen Nationalen Universität in Mexiko-Stadt und Herausgeberin der Zeitschrift "Chiapas". Der Brite Holloway ist Professor an der Autonomen Universität von Puebla und Verfasser zahlreicher Artikel über die Zapatistas.

Für mich besteht das Neue vor allem darin, die Welt verändern zu wollen, ohne dafür die staatliche Macht zu erobern. Das ist ein deutlicher Bruch mit den weltweiten revolutionären Traditionen.

Ulrich Brand: Was ist eurer Ansicht nach das Neue der zapatistischen Rebellion?

John Holloway: Die Tatsache des Aufstandes selbst ist sehr wichtig. Im Jahr 1994 schien es, als ob es nirgends die Möglichkeit einer Rebellion mehr gäbe. Für mich besteht das Neue vor allem darin, die Welt verändern zu wollen, ohne dafür die staatliche Macht zu erobern. Das ist ein deutlicher Bruch mit den weltweiten revolutionären Traditionen.

Ana Esther Ceceña: Wichtig ist, daß der Aufstand am Rand der Gesellschaft entsteht, in einem Sektor, der nicht die Arbeiterklasse ist, nicht Teil einer Partei und nicht das, was traditionell als revolutionäres Subjekt verstanden wurde. Offenbar sind die Zapatistas Teil eines neuen revolutionären Subjekts, das der aktuellen kapitalistischen Entwicklung entspricht. In verschiedenen historischen Momenten gibt es ja unterschiedliche Formen der Herrschaft, aber auch der Art und Weise, wie sich die gesellschaftlichen Subjekte konstituieren. Im Zentrum bei den Zapatistas steht die Diskussion mit der Zivilgesellschaft, wobei der Staat nur ein Akteur am Rande ist.

Brand: Wie sieht ihr Vorschlag für eine radikale Gesellschaftsveränderung aus?

Ceceña: Er lautet, daß radikale Veränderung nicht das Ziel, sondern ein Weg ist. Sie findet im Alltagsleben statt, und nicht erst, nachdem die Macht übernommen wurde. Die Zapatistas sagen, daß wir uns selbst rekonstruieren müssen, indem wir uns gegenseitig anerkennen und zusammen für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit arbeiten. Die Zapatistas sehen, daß es viele verschiedene Möglichkeiten gibt, die Welt zu sehen und die Gesellschaft zu verändern. Vormals waren revolutionäre Praktiken eher homogenisierend, darin unterschieden sie sich nicht vom Kapital. Deshalb gab es auch nur einen Weg, den revolutionären Prozeß anzuleiten. Die Zapatistas sehen das als Teil der Niederlage, als Teil des Falls der Mauer von Berlin, als Teil der Tatsache, daß die Menschen nichts mit Parteien anfangen können. Man kann nicht ein Herrschaftssystem durch ein anderes ersetzen.

Wichtig ist den Zapatistas dabei der Umgang mit Minderheiten. Minoritäre Ansichten werden bei den Entscheidungen der Mehrheit berücksichtigt. Eine Idee, die mir gut gefällt, ist, das Tempo des Langsamsten zu gehen (caminar al paso del más lento). Das ist wohl sehr wichtig für die Entwicklung einer wirklichen Demokratie.

Mit dieser Ablehnung der Machtübernahme zu tun hat auch die Losung: 'mandar obedeciendo' (gehorchend regieren): Wer regiert, muß denen gehorchen, die er repräsentiert.

Holloway: Mit dieser Ablehnung der Machtübernahme zu tun hat auch die Losung: 'mandar obedeciendo' (gehorchend regieren): Wer regiert, muß denen gehorchen, die er repräsentiert. Die stärkste Konkretion dieser Idee ist das Rätesystem der Gemeinderäte in Chiapas; sie liegt aber auch den Arbeiterräten in der Russischen Revolution oder dem Vorschlag des holländischen Revolutionärs Anton Pannekoek zugrunde. Dieses Prinzip muß sich an verschiedenen Orten unterschiedlich ausformen.

Brand: Von außen gesehen besteht die Kraft des Zapatismus darin, daß er in den vergangenen sieben Jahren konkrete Vorschläge und Gegner hatte: gegen die Regierung der ehemaligen Staatspartei PRI oder für die indigenen Rechte und die Abkommen von San Andrés. Ich sehe eine Spannung zwischen der von euch skizzierten umfassenden Perspektive gesellschaftlicher Transformation und den pragmatischen Forderungen einer benachteiligten indigenen Bevölkerungsgruppe.

Holloway: Von Beginn wurden die Zapatistas einerseits als indigene Bewegung angesehen und andererseits als Bewegung jenseits des Indigenen. Bereits vor 1994 hatten sie ja entschieden, daß sie sich nicht nur als Indigene präsentieren wollten und deshalb nennen sie sich »Bewegung der nationalen Befreiung«. »National« in dem Sinne, daß sie über das Chiapanekische hinaus geht. Ein sehr innovativer Aspekt der Zapatistas war, daß sie es verweigerten, sich zu definieren. Seit den "Abkommen von San Andrés über indigene Rechte und Kultur" vom März 1996 gibt es jedoch die Tendenz, den Kampf auf die Umsetzung von San Andrés zu fokussieren. Das ist einerseits eine sehr konkrete Forderung, deren Legitimität jeder anerkennen muß. Gleichzeitig impliziert dies eine veränderte Beziehung zwischen der EZLN und uns, die wir uns als "zivile Zapatistas" sehen. Wenn die Bewegung sich nämlich als indigene definiert, dann ist die einzige Option der Nicht-Indigenen die Solidarität.

Brand: Der Zapatismus war seit 1994 auf Unterstützung von außen angewiesen. Wie schätzt ihr die Taktik ein, sich die Solidarität der so genannten Zivilgesellschaft zu sichern?

Ceceña: Es gibt viele Veränderungen, die sehr viel einfacher zusammen mit einem großen Teil der Zivilgesellschaft erreichbar sind. Diese unterstützt die Zapatistas aber nicht unbedingt im gesamten Prozeß radikaler Veränderungen. Viele Mexikaner sagen: "Jetzt ist die PRI weg, das reicht." Die Zapatistas sagen jedoch: Wir fangen an zu gehen und wir werden nicht aufhören, denn unsere Existenz wird in diesem System negiert. Wir gehen voran, erreichen etwas mit denen, anderes mit jenen, bis es eine weitreichende Veränderung gibt: diese andere Welt, in der Platz ist.

Holloway: Beim "Intergalaktischen Treffen gegen Neoliberalismus und für eine menschliche Gesellschaft" im Sommer 1996 wurde häufig kritisiert, daß Prominente wie Danielle Mitterand und Alain Touraine eingeladen waren. Aus der Sicht der Zapatistas kann man das jedoch verstehen, denn es geht um ihre physische Verteidigung. Für mich gibt es keinen Widerspruch hinsichtlich der Radikalität ihrer Vorschläge und der Suche nach Unterstützung durch die Zivilgesellschaft.

Die Zapatistas haben einen sehr positiven Begriff von Zivilgesellschaft, der an das liberale Verständnis erinnert. Darin wird die Zivilgesellschaft als Gegenüber des Staates gesehen und nicht im Gramscianischen Sinne als Ort der Kämpfe um gesellschaftliche Hegemonie.

Brand: Die Zapatistas haben einen sehr positiven Begriff von Zivilgesellschaft, der an das liberale Verständnis erinnert. Darin wird die Zivilgesellschaft als Gegenüber des Staates gesehen und nicht im Gramscianischen Sinne als Ort der Kämpfe um gesellschaftliche Hegemonie. Marcos versteht unter Zivilgesellschaft die "unförmige Masse, die nichts mit traditionellen politischen Organisationen zu tun haben will." Ich habe den Eindruck, die Zapatistas unterschätzen, daß die Zivilgesellschaft ein machtförmig strukturiertes Terrain ist und eben nicht homogen dem Staat und dem Kapital als oppositionelle Instanz gegenüber steht.

Ceceña: Der Rekurs auf "Zivilgesellschaft" erlaubte es, von all jenen zu sprechen, die sich zu Beginn mit den Zapatistas erhoben haben. Diese waren derart unterschiedlich, daß es schwierig war, sie anders zu nennen. Zivilgesellschaft ist nicht unbedingt eine Kategorie, die ich verwenden würde, aber im konkreten Kontext war es notwendig. Abgesehen davon kritisieren die Zapatistas ja die übliche Trennung von Politik und Sozialem. Marcos bezieht sich auf die Leute, die außerhalb des etablierten politischen Raums Politik machen, nämlich auf die für gesellschaftliche Veränderungen kämpfende Bevölkerung. Das Politikmonopol soll den Politikern entrissen werden.

Brand: Die Versuche der Zapatistas, die "Zivilgesellschaft" zu organisieren, scheinen mir nicht sehr erfolgreich zu sein.

Ceceña: Rufen wir uns den Moment in Erinnerung, in dem die Zapatistas auf den Plan traten. Ihr Aufstand begann, als die Zivilgesellschaft - oder besser gesagt der kämpfende Teil der Bevölkerung - weltweit getroffen war. In Mexiko erlebten wir einen Enteignungsprozeß, der bis ins Denken reichte. Die "Krise des Marxismus" und das "Ende der Geschichte" trafen uns hart. Es gab nur noch wenig Räume, in denen kritisch diskutiert wurde. Die Universität, die hierzulande immer ein wichtiger und kreativer Ort dafür gewesen war, stand kaum noch zur Verfügung. Mich hat die Fähigkeit der Zapatistas überrascht, uns aufzurufen, damit wir uns organisieren. Was wir heute haben, ist wenig im Vergleich zu dem, was wir uns wünschen. Aber es ist sehr viel, bedenkt man den Kontext, in dem der Zapatismus entstand.

Holloway: Nicht erfolgreich war der Versuch, dauerhafte Organisationen zu schaffen. Es stellt sich aber die Frage, was man unter Organisation versteht. Wahrscheinlich muß man das anti-institutioneller sehen. Die Zapatistas wähnten sich zu Beginn in einer Position wie in einer Radiosendung, bei der man nicht weiß, ob jemand zuhört. Doch plötzlich sahen sie, daß viele Leute nicht nur hörten, sondern die Dinge auch so sahen und sich ein Austausch entwickelte.

Brand: Ana Esther, du sprichst im Zusammenhang mit dem Zapatismus häufig von der "Dekolonisierung des Denkens". Was meinst du damit?

Die Linke hat ein Problem, sich Alternativen vorzustellen, weil sie auf dem vom System vorgegebenen begrifflichen Terrain bleibt. Wir können uns bspw. eine Gesellschaft ohne den Staat nicht vorstellen.

Ceceña: Es geht mir darum, für emanzipatives Denken zu kämpfen. Die Linke hat ein Problem, sich Alternativen vorzustellen, weil sie auf dem vom System vorgegebenen begrifflichen Terrain bleibt. Wir können uns beispielsweise eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse, ohne den Staat, den wir kennen, nicht vorstellen. Daher geht es zunächst darum, an eine andere Gesellschaft zu denken. Nicht in dem Sinne, die bestehende einfach umzukehren, das jetzige Unten nach oben zu stellen. Dafür muß das Denken dekolonisiert werden.

Brand: Warum beziehen sich die Zapatistas dann als radikaler Akteur auf den Staat? Sie wollen zwar nicht die Staatsmacht erobern, aber sie rufen den mexikanischen Kongreß an, seine Rolle richtig auszufüllen. Und sie verhandeln mit dem Staat.

Ceceña: Die Zapatistas machen Politik, die sich an der Gesellschaft ausrichtet, nicht am Staat. Aber der Staat kann natürlich nicht negiert werden. Ihre Vorstellungen sozialer Transformation implizieren eine langfristige Arbeit mit der Gesellschaft und damit die Möglichkeit, etwas von unten zu verändern. Diese Möglichkeit wird das Verhältnis von Gesellschaft und Staat verändern, bis es einfach keinen Staat mehr gibt.

Holloway: Alle ihre Praktiken sind anti-staatlich in dem Sinne, daß sie niemals die Verhaltensformen akzeptiert haben, die der Staat vorgab. So kreisten zum Beispiel während der Friedensverhandlungen 1994 in San Cristóbal und in San Andrés viele Konflikte darum, daß die Zapatistas die Spielregeln, die die Staatsvertreter ihnen aufzwingen wollten, einfach nicht akzeptierten.

Brand: Würdet ihr dafür den Begriff der Gegenmacht verwenden?

Ceceña: Nein, sondern den der Anti-Macht. Denn sonst bewegen wir uns auf demselben Terrain wie der Staat. Es sollen lediglich die Machtverhältnisse umgestülpt werden. Bestenfalls taugt der Begriff der Gegenmacht in einem Moment des Übergangs. Was wir wollen, ist eine Gesellschaft ohne Macht. Wenn du schon von Beginn an formulierst, daß es um den Aufbau von Gegenmacht geht, dann bin ich nicht sicher, ob Beziehungen aufgebaut werden können, die nicht herrschaftsförmig sind.

Holloway: Eine wichtige Lektion der Zapatistas ist, daß ihr Kampf nicht in denselben Begriffen stattfindet, wie der Gegner sie nutzt. Sie sind sehr wendig: Immer wenn die Regierung eine Initiative ergreift, agieren die Zapatistas plötzlich in einer anderen Dimension. Als zum Beispiel Präsident Fox einen "Dialog" vorschlägt, antworten sie mit einem Marsch nach Mexiko-Stadt. Das verändert die Spielregeln vollständig.

Brand: In Europa ist der Eindruck weit verbreitet, daß die Zapatistas nur auf ihre Anerkennung als indigene Minderheit aus sind.

Die Forderung der Zapatistas nach Autonomie ist zentral. Aber sie fordern keine isolierte Autonomie ein, sondern autonome Gemeinden, die ihre eigenen Organisationsformen entwickeln und ihr eigenes Recht ausüben.

Ceceña: Die Forderung der Zapatistas nach Autonomie ist zentral. Aber sie fordern keine isolierte Autonomie ein, sondern autonome Gemeinden, die ihre eigenen Organisationsformen entwickeln und ihr eigenes Recht ausüben. Sie sind jedoch auf nationaler Ebene Teil einer viel größeren Gesellschaft, weshalb sie auch Bestandteil der dortigen Kämpfe sind. Und dann kommt natürlich die internationale Ebene. Daher geht es um permanente Debatten, um die Schaffung und Ausfüllung von Räumen und Austausch mit der übrigen Gesellschaft.

Brand: Begriffe wie "Nation" oder "Heimatland" und Symbole wie die Nationalflagge spielen bei den Zapatistas eine wichtige Rolle. Verwenden sie das taktisch oder geht es ihnen wirklich darum, "die Nation" aufzubauen?

Ceceña: Die Zapatistas drücken etwas aus, was die Europäer nur mit Mühe verstehen, was aber in den Ländern der Dritten Welt geteilt wird. Diese haben das Problem, daß sie vom Imperialismus beherrscht werden. Deshalb bedienen sich die Zapatistas nationaler Symbole. Dadurch kommunizieren sie auch mit der gesamten mexikanischen Bevölkerung. Denn die Verteidigung des Heimatlandes bedeutete in Mexiko immer, sich dem Staat und der Herrschaft entgegenzustellen.

Brand: Aber die Schaffung einer Nation war ja auch immer eine Angelegenheit der internen herrschenden Klasse. Deren nationalistische Projekte waren nicht auf Befreiung ausgerichtet, sondern kapitalistisch.

Ceceña: Es handelt sich um einen Widerspruch im guten Sinne. Denn um was kämpfen Gruppen wie die Indigenen, die von Beginn an der Idee der Nation unterworfen werden und einen unterdrückten Teil von ihr bilden? Selbst die Fahne wird ihnen ja aufgezwungen. Sie sagen: "Obwohl wir unterdrückt wurden, wollen wir an der Bildung dieser Nation teilnehmen. Damit sie kein geschlossener, sondern ein offener Raum ist. In diesem Raum werden wir eine Welt schaffen, in die viele Welten passen." Hier kommt die Dekolonisierung des Denkens zum Zuge. Wenn die Zapatistas von Nation sprechen, bedeutet das etwas ganz anderes als der bürgerliche Begriff. Auch wenn sie von Neoliberalismus sprechen, ist völlig klar, daß die Welt unteilbar ist. Es ist eine internationale Perspektive.

Holloway: Mich und viele Europäer auf dem Intergalaktischen Treffen störte die Fahne oder die Rede von der "nationalen Befreiung". Sie ist absurd, ein Widerspruch in sich. Aber ich sehe auch, daß es etwas komplizierter ist, weil ja die Idee dahinter steht, die Nation gegen den Staat zu verteidigen. Die Idee hinter der nationalen Befreiung ist nicht die der Befreiung der Mexikaner, sondern jeder Gesellschaft in der Welt. Es ist die Verteidigung gegen das Kapital und gegen den Staat. Dennoch gefällt mir der Gedanke nicht. In der Praxis ist es sehr schwierig, Staat und Nation zu trennen. Und man gerät in eine gefährliche Doppeldeutigkeit, weil zwischen mexikanischem und US-amerikanischem Kapital unterschieden wird, was einfach keinen Sinn macht.

Brand: Wie wird in Chiapas die internationale Solidarität mit dem Aufstand wahrgenommen?

Ceceña: Sie war von Beginn an unglaublich wichtig. Vor allem diente sie dazu, Massaker zu verhindern. In vielen Momenten bestand die Gefahr, daß die Regierung mit einer militärischen Operation die Kommandantur platt machte.

Brand: Wie seht ihr umgekehrt die Rückwirkungen der Zapatistas auf internationaler Ebene?

Holloway: Beim Intergalaktischen Treffen zeigte sich der Enthusiasmus, den der zapatistische Aufstand in vielen Ländern ausgelöst hat. Er ist wohl vor allem deshalb wichtig, weil er nach 1989 der Suche nach neuen Politikformen eine gewisse Kohäsion und Kristallisation verleiht. Dies spiegelt sich in den Bewegungen von Seattle, Prag, Davos oder Porto Alegre, wo es einen sehr direkten Einfluß der Zapatistas gibt oder indirekt durch Leute, die vom Zapatismus beeinflußt sind.

Brand: Ein großer Teil der kritischen Theoretiker weigert sich, neue Bewegungen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. In Deutschland zumindest sind Theoriebildung und Bewegungen voneinander isoliert.

Holloway: Die Zapatistas stellen eine sehr explizite theoretische Herausforderung dar. Sie brechen mit den alten Schemata der Linken. Die Antwort darauf war in der Tat eine Mischung: Auf der einen Seite der Versuch, nach bekannten Mustern zu klassifizieren. Mein Lieblingsbeispiel ist ein bekannter Trotzkist, der sagte: "Die Zapatistas sind sehr gut, aber es fehlt ihnen theoretische Reife, weil sie kein Übergangsprogramm haben." Auf der anderen Seite gibt es eine Suche nach neuen Formen, um die Dinge, die geschehen, anders zu verstehen. Jüngere Leute scheinen mir im Allgemeinen offener für diese Rekonzeptualisierung politischer und theoretischer Ansätze.



Ulrich Brand gab zusammen mit Ana Esther Ceceña den Sammelband Reflexionen einer Rebellion. »Chiapas« und ein anderes Politikverständnis (Münster 2000) heraus, in dem u.a. ein Aufsatz von John Holloway veröffentlicht wurde.
Das Gespräch erschien zuerst in dem iz3w - Sonderheft (September 2001): "Gegenverkehr - Soziale Bewegungen im globalen Kapitalismus"


Begleittext des Sonderheftes:
Nicht nur die Demonstrationen von Seattle, Göteborg oder Genua zeigen es: Soziale Bewegungen sind wieder zu einer wichtigen politischen Kraft geworden. Der Protest gegen die globale Durchsetzung der kapitalistischen Ökonomie und die damit verbundene Marginalisierung großer Bevölkerungsgruppen in Nord wie Süd hat ganz unterschiedliche Formen angenommen. Das Sonderheft fragt nach den Gründen für die erneute Attraktivität sozialer Bewegungen, präsentiert Beispiele aus verschiedenen Ländern und diskutiert die jeweiligen politischen Ansätze.
Themen sind u.a.:
Bewegung: Fortschritte und Fallstricke Widerstand: Von Seattle nach Genua Brasilien: Aufstand der Landlosen Kolumbien: Kampf der schwarzen Gemeinschaften Indien: Autonome Frauenbewegung(en) Deutschland: Selbstorganisation von Flüchtlingen Streitgespräch: Attac vs. BUKO Perspektiven: Globalisierung und internationale Solidarität
72 Seiten, 10 DM oder 5 Euro
zu bestellen bei:
iz3w
Postfach 5328
79020 Freiburg
Tel: 0761-74003

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