Von Marcus Hawel
Das Ziel, die abstrakt ökonomische Freiheit der Einzelnen zu einer konkreten und allgemeinen Freiheit aller als einer wirklich freien Assoziation weiterzuentwickeln, geht auch über den politischen Liberalismus des Bürgertums hinaus.
Wenn die Herrschenden die im Rechtsstaat durch die Verfassung verbrieften politischen Rechte der Einzelnen einschränken, bzw. unterwandern, dann deshalb, weil ihnen aufgrund der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Transformationsprozesse ("Globalisierung"), von denen Staat und Gesellschaft betroffen sind, die politischen Rechte zunehmend als formelle Schranke, als unbequeme Fessel ihrer staatlichen Gewaltausübung im Weg stehen. An die Stelle des verbindlichen Rechtssystems tritt zunehmend die Willkür des autoritären Staates. Die Herrschenden reißen die politischen Rechte nieder, weil ihnen die Legitimation ihrer politischen und ökonomischen Herrschaft, die auf der Anerkennung der Einzelnen beruht und tendenziell immer deutlicher entzogen wird, damit verlustig geht.
Der Rechtsstaat soll zu einem wesentlichen Teil die bürgerliche Eigentumsordnung erhalten. Mit anderen Worten: substantiell geht es vor allem um die Festsetzung und Wahrung der politisch-ökonomischen Rechte der Bürger; akzidentiell schließlich auch um die politischen Rechte. Letztere können durch einen autoritären Staat kassiert werden, ohne daß dies im Widerspruch stünde mit den besonderen Interessen der Bürger. Wirtschaftsliberalismus und autoritärer Staat schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander. Noch der Faschismus war kapitalistisch organisiert. So geht das Ziel, die abstrakt ökonomische Freiheit der Einzelnen zu einer konkreten und allgemeinen Freiheit aller als einer wirklich freien Assoziation weiterzuentwickeln, auch über den politischen Liberalismus des Bürgertums hinaus.
Mühselig erworbene politische Freiheiten dürfen nicht einfach preisgegeben werden, weil sie die bessere Ausgangsposition für den weiteren politischen Kampf zur allgemeinen Ausweitung der Freiheit sind.
Die Verfassungspositionen der bürgerlich-demokratisch verfaßten Gesellschaft dienen aber nicht nur zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Eigentumsordnung, sondern auch als Schutz für die Menschen vor staatlicher Willkür. Ein politischer Kampf um die Ausweitung der menschlichen Freiheit sollte diesen zweiten Aspekt nicht aus den Augen verlieren. Mühselig erworbene politische Freiheiten dürfen nicht einfach preisgegeben werden, weil sie die bessere Ausgangsposition für den weiteren politischen Kampf zur allgemeinen Ausweitung der Freiheit sind.
Dem Gegensatz von Allgemein- und Einzelinteresse ist im demokratischen Verfahren vermittels der Mehrheitsregel - in Gegensatz zum autoritären Verfahren - zwar seine Schärfe genommen; der Gegensatz selbst aber ist nicht aufgelöst, wird weiter reproduziert. Dem Widerspruch ließe sich im Endeffekt nur durch eine umfassende (radikale) Gestaltung der Gesellschaft - vor allem der politischen Ökonomie - nach Kriterien der Vernunft beikommen. Die Form der bürgerlichen Demokratie als politische Verfaßtheit einer kapitalistischen Gesellschaft ist deshalb zwar adäquat bezogen eben auf die kapitalistische Gesellschaft, aber gegenüber dem Anspruch, mit ihr den Widerspruch zwischen Allgemein- und Einzelinteresse vernünftig aufzuheben, defizitär. Ebenso verhält es sich mit der Gesellschaft, welche kapitalistisch organisiert ist und damit den Widerspruch zwischen Allgemein- und Einzelinteresse wesentlich aus sich heraus produziert und reproduziert.
Verstünde man unter dem Begriff der Politik nichts anderes als seine bürgerliche Verengung als Mittel und Zweck, die politische und ökonomische Herrschaft über Mensch und Natur aufrechtzuerhalten, bzw. unter Demokratie nichts anderes als die Entschärfung und Fortsetzung des ökonomischen Klassengegensatzes zwischen Allgemein- und Einzelinteresse, so ließe sich aus diesen beiden Verengungen vom Standpunkt einer radikalen Kritik an den bestehenden Verhältnissen einzig schlußfolgern, daß mit Politik und Demokratie keine emanzipatorische Praxis zu leisten wären, bzw. nur insofern als man der Praxis zugesteht, sich der demokratischen und politischen Mittel zu bedienen, d.h. eine Politik zu betreiben zur Abschaffung der Politik.
Die Realisierung des jeweils Noch-nicht-Seienden von Politik und Demokratie geht über das Bestehende hinaus. Aus diesem Grund muß auch die Verfassung lediglich als ein Interim aufgefaßt werden.
Die Realpolitik der Vernunft wäre aber zu weitaus mehr imstande, wenn man in den realen Begriffen von Politik und Demokratie die jeweiligen Widersprüche im ideologiekritischen Sinne aufspürte und sich an ihren noch utopischen Gehalten orientierte. Politik und Demokratie sind in ihren realen Gestalten nur im Bestehenden defizitär. Die Realisierung des jeweils Noch-nicht-Seienden von Politik und Demokratie geht über das Bestehende hinaus. Aus diesem Grund muß auch die Verfassung lediglich als ein Interim aufgefaßt werden. Im deutschen Grundgesetz ist mit dem Art. 14 auch die Sozialisierung der privaten Produktionsmittel als Möglichkeit vorgesehen. In einer sozialistischen Gesellschaft, in der die Produktionsmittel bereits vergesellschaftet sind, dürfte eine entsprechende Verfassung deshalb nicht mehr von der Möglichkeit der Vergesellschaftung sprechen, sondern von dem Ist-Zustand der vergesellschafteten Produktionsmittel ausgehen. Eine solche Verfassung hätte damit ihren explizit bürgerlichen Charakter abgestreift, Demokratie und Politik erhielten zwangsläufig einen anderen, nicht-bürgerlichen Charakter. Ein solcher gesellschaftlicher Emanzipationsprozeß ist mit der bestehenden, bürgerlichen Verfassung vereinbar, mithin nicht verfassungsfeindlich. Zu seiner Durchsetzung bedarf es aber der revolutionären Gewalt, die mit den verengten, bürgerlichen Demokratievorstellungen im Widerspruch steht. Eine soziale Bewegung darf sich demnach weder auf die Verengung positiv einlassen, sie noch aus dem verengten Verständnis heraus ablehnen. Das Recht auf Revolution kann keiner Bevölkerung auf demokratischem Wege verboten werden.
https://sopos.org/aufsaetze/3b8df910dea52/1.html