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"Genova libera"

Die Demonstration gegen das Treffen der G8-Regierungschefs in Genua. Ein Erlebnisbericht

von Utz Anhalt


Plakat: Berlusconi lacht über toten Giuliani

Freitag, 20. Juli 2001: global day of direct action

Der Freitag ist zum global day of direct action erklärt worden. In allen Teilen der Welt ist dazu aufgerufen worden, lokal gegen das Treffen der "Großen Acht" zu demonstrieren. Hier in Genua soll versucht werden, in die rote Zone - den gesperrten Bereich, in dem das Treffen der Regierungschefs stattfindet - einzudringen.

Am späten Vormittag gehen wir vom Camp im genuesischen Stadtteil Nervi zu der geplanten Demonstration. Wir, das sind politisch motivierte Menschen aus Hannover, die gemeinsam in einem gecharterten Bus nach Genua gefahren sind. Insgesamt sind 6 Blöcke geplant, von denen allerdings nur 5 losmarschieren werden: Der weiße Block - die Tutti Bianci - wird am Stadion von der Polizei festgehalten. Den rosa Block sehen wir an uns vorbeiziehen: Wie schon in Prag zeichnet er sich vor allem durch Gewaltfreiheit und phantasievolle Kostüme aus. So hat sich eine Frau als rosa Herz verkleidet. Auf dem Herz steht die Aufschrift: Love shares the world. Die Menschen eilen zu ihren Blöcken. Schwarz-rote Fahnen wehen neben schwarzen im Wind. Eine Fahne trägt das Konterfei von Che Guevara. Korsische Separatisten tragen als Symbol einen schwarzem Kopf auf ihrer Flagge, der mit einem weißen Tuch verbunden ist. Die SWP verwendet das Symbol der roten Faust. Die deutschen Fußballfans gegen rechte Gewalt sind auch dabei. Wir lesen: "El mondo non es investitad!" "Genova libera" - "freies Genua" - lautet die am häufigsten gerufene Parole. Eine andere lautet: "Berlusconi clandestino". Das Transparent einer französischen Gruppe trägt die Inschrift: "Contre dictature de capital." Ein Mann hat sich als Papst verkleidet, ein älterer Italiener demonstriert gegen Atomwaffen. Auf einem Plakat steht: "Mc Donald's Merda", auf einem anderen Plakat säugt eine schwarze Frau ein dickes weißes Kind. Nahezu alles an bildlichen Horrorfiguren ist aufgeboten, was die Mythologien der Welt zu bieten haben: G8 Drache, G8 Vampire, G8 Sensenmänner, G8 Monster (mit Eberzähnen), auch ein G8 Medienmonster, das mit einer Kettensäge die Welt zerlegt... Einzelne singen Bandierra Rossa. Leute tanzen auf den Straßen. Wir beginnen die Demonstration zu den Klängen einer Trompete.

Wir gehen im roten Block bei den ATTAC-Leuten mit. Die Riesendemo staut sich vor der "genuesischen Mauer", viele kratzen mit Plastikflaschen am Stahlzaun, andere werfen feuchte Taschentücher in den Raubtierkäfig der G8 Staatsoberhäupter. Dafür werden wir fast ununterbrochen mit Wasserwerfern und Tränengas angegriffen. Das Gesamtkonzept der Polizei scheint an diesem Tag auf eine militärische Zerschlagung der gesamten Demonstration ausgerichtet zu sein. Soviel ist deutlich, obwohl das Ausmaß der entfesselten Carabinierigewalt erst später bekannt wird. Die Demonstration vor dem Stahlzaun dauert mehrere Stunden. Die Wasserwerfer werden von den italienischen Demonstranten unter anderem als fasci, bastardi, scemo (Idiot) und auch schon als assassini bezeichnet. (Später gibt es Diskussionen darüber, ob Antirassisten "Bastard" als Schimpfwort verwenden sollten.) Bunt Vermummte blenden die Polizei mit Spiegeln. Immer wieder rufen tausende von Menschen: Genova Libera! In einem Flugblatt steht: "Auge werfen auf Produkte der Multis (Bennetton, Mc Donald's...)" Die Gruppe arci trägt ein Plakat mit bärtigen Bauern, sie macht interkulturelle Arbeit, von Konzerten bis zu Veranstaltungen jeglicher Art.

Demonstrant ergibt sich der Polizeigewalt

Einige Demonstranten reißen Löcher in den Stahlzaun. Auf dem Rückweg wird der friedliche Zug aus Fenstern mit Tränengas beschossen, angegriffen. Das Tränengas brennt uns in den Augen. Die Demonstranten rufen: Fascisti. Mülltonnen werden umgekippt. Leute bauen Barrikaden, da sie einen Sturmangriff der Polizei befürchten. Auf dem Berg befinden sich ca. 10.000 Menschen, darunter auch sich eine Gruppe der students in action. Sie rufen cazzo zu der Polizei, ein italienisches Wort, das sowohl "Penis" als auch "Dreck" bedeutet. People before Profit ist Parole im Roten Block. Die beteiligten Organisationen sind dagegen, den Zaun aufzureißen, weil sie sich vorher darauf geeinigt haben, daß der Rote Block gewaltfrei bleibt. Die gewaltfreie Gruppe der Hüter der sozialen Zentren in Italien, die Tutti Bianci, werden im Zentrum festgehalten. Ihr Aufmarsch soll mit äußerster Brutalität von der Polizei und den Stoßtrupps der italienischen Faschisten zusammengeschlagen worden sein (auf der Demo wird nur von "abgeschlachtet" gesprochen). Die Tutti Bianci baten die Polizei darum, nicht scharf, sondern nur mit Gummigeschossen zu beschossen zu werden. Schaurige Gerüchte machen die Runde: Eine Frau aus Berlin sei in der Medienzentrale (Indymedia) festgenommen worden. In den Verhörzimmern der Carabinieri sollen Mussolinibilder hängen. Verhaftete würden gezwungen, den Hitlergruß zu machen und Loblieder auf Pinochet zu singen. Zwei Frauen von der SWP seien mit Gummigeschossen angegriffen worden. - Und: Ein 20jähriger Spanier sei von den Carabinieri erschossen worden.

Das Gerücht bewahrheitet sich

Das Gerücht bestätigt sich als Wahrheit, nur daß es kein 20jähriger Spanier, sondern der 23jährige Genuese Carlo Giuliani war, den die Schüsse eines Carabinieri trafen. Wir erreichen die Piazza Alimondo, die Stätte, an der die Polizeigewalt ihren grausigsten Ausdruck gefunden hat. Banken sind zerstört, Akten wurden rausgeworfen. Die Genueser Bevölkerung plündert, nimmt Stühle und Einrichtungsgegenstände mit. Ein ausgebrannter Mannschaftswagen der Carabinieri schwelt auf einer Straßenkreuzung. Überall glühen die Barrikaden in der Hitze eines Hochsommertages. Am Fuß des Berges beim Medienzentrum liegen Sägespäne auf der Straße, rote Blumen bedecken Blut. Die Carabinieri, welche die Todesstätte in Beschlag genommen haben, tragen Gummihandschuhe.

Als wir abends im Camp eintreffen, finden Unmengen an Plena statt. Redner betonen, nach der Erschießung eines Kapitalismuskritikers nicht nur von Kampf zu reden, sondern unsere Angst zuzulassen. Die Schüsse hätten jeden treffen können. Andere sprechen von der Stärke der Bewegung, davon, daß die G8 die Gewalt bräuchten, weil die Herrschaft über die Köpfe nicht mehr funktioniere.


Samstag, 21. Juli 2001: Impressionen

Das dominierende Wort am Samstag lautet: Assassini - die Parole: Capitalism kills - Berlusconi Assassino, George W.Bush Assassino, Policia Assasssini. Nicht der untergeordnete italienische Wehrpflichtige, der geschossen hat, wird als Mörder beschimpft, sondern der Polizeiapparat, Berlusconi und die Staatsoberhäupter der G8.

Die ganze Stadt ist eine Demonstration. Ich verliere meine Gruppe, als ich einige Gewerkschaftler in rot-weißen Hemden fotografiere. Ich setze mich auf den Mittelstreifen der Küstenstraße. Stundenlang zieht die Demonstration vorbei. Türkische Kommunisten, italienische Sozialisten, Linksruck, SWP, zehntausende von unorganisierten Jugendlichen, der World Wide Found for Nature, Separatisten aus Sardinien. Che Guevara weht von etlichen Plakaten, von anderen wehen die, die glücklicherweise längst dem Müllhaufen der Geschichte angehören: Mao und Stalin. Sozialisten singen das Lied: "La bella rossa!" Italienische Basisgewerkschafter sind mit Knüppeln bewaffnet und mit Bauhelmen und bunten Tüchern maskiert. Unmöglich erscheint der Versuch, auch nur ansatzweise zu notieren, welche Gruppen hier alle durchmarschieren.

Randalierer vor gesammelten Polizeiaufgebot
Demonstrant oder Agent Provocateur? Unter den Augen der Carabinieri wird drei Stunden lang eine Bank gegenüber dem Convergence Center geplündert.

Weiter vorne steigt Rauch auf. Gegenüber dem Convergence Center wird eine Bank in Brand gesteckt. Unter den Augen der Carabinieriarmeen plündern Vermummte und Unvermummte drei Stunden lang die Bank. Die Szenen lassen eher an Beirut als an Italien denken. Die Küstenstraße ist in Tränengasnebel gehüllt. Vermummte überall, brennende Barrikaden, der Gestank von brennendem Plastik mischt sich mit der Hitze der schmelzenden Autos. Gruppen von Vermummten mit Eisenstangen laufen umher, einige reißen Straßenschilder aus. Ein Mann, der sich das Gesicht mit einer Hammer-und-Sichel-Fahne vermummt hat, schlägt auf einen mit Bauhelm geschützten Journalisten ein - Stalinist oder Provokateur der Polizei? Andere werfen sich geradezu in Pose, weil sie von mir fotografiert werden wollen. Ich winke ab, denn ich möchte keine Gesichter auf den Bildern haben. Direkt neben der Carabinieriarmee greifen einige Vermummte jetzt Stände der italienischen Grünen an. Angeblich soll es sich um Stalinisten handeln. In der zerstörten Bank stehen Kameraleute.

Ich bekomme eine Diskussion während der Zerstörung eines Lufthansabüros mit. Ein männlicher Demonstrant argumentiert gegenüber einer vermummten deutschen Demonstrantin: "Durch Bürozerstörung verhinderst Du keine einzige Abschiebung." Die Frau erwidert: "Willst Du denn weiter hilflos zusehen?" Carabinieri schießen mit Gas auf die Massendemonstration und auf das Convergence Center, nicht auf die Plünderer in der Bank. Es ist bereits die Rede von Provokateuren der Polizei. Mittelklassewagen und kleine Autos brennen, wenige Meter von der Carabinieriarmee entfernt. Am gestrigen Tag sah alles ganz anders aus. Kleine Geschäfte und Autos waren geschont worden, gebrannt hatte ein Mannschaftswagen der Polizei - gestern war es politische Militanz - heute sinnlose Gewalt. Später können wir im Internet Bilder von indymedia einsehen, die vermummte Zivilpolizisten bei der Absprache mit der Polizei zeigen.

Beirut? Genua!
Beirut? Genua!

Ich flüchte am Convergence Center vorbei an den Strand. Vorn auf der Straße schimmern die blauen Rüstungen der Carabinieritruppen durch die Tränengaswolken. Über uns kreisen drei Hubschrauber. Vom Meer kommen die Polizeiboote. Tränengaspatronen treffen Bars und Genuesen, die die Sonne genießen. Die Massendemonstration wird mit kilometerlanger Tränengaswolke den Berg hochgetrieben, Verletzte mit Wunden auf dem Kopf liegen in den Straßen rund ums Indymedia-Center. Von überall her dröhnen die Sirenen der Rettungswagen. Vom Berg aus wird jetzt deutlich, daß die Polizei mit einem Meer von Gewalt die riesige Demonstration auf der Küstenstraße zerschlagen hat.

Anfangs erhoben Tausende noch den Mittelfinger gegen die angreifenden Hubschrauber, jetzt zeigen sie offene Handflächen als Zeichen ihrer Kapitulation. Verschiedenste versprengte Demonstrationszüge hetzen erschöpft den Berg hinauf, Carabinieri prügeln an der Stelle, wo sie Giuliani erschossen haben, eine Demonstration zusammen. Assassini-Rufe erklingen, bastardi, fascisti, rote Fahnen der verschiedenen italienischen kommunistischen Organisationen wehen. Auch versprengte italienische Grüne laufen den Berg hinauf. Einzelne leichte Panzer der Polizei fahren unter Jubelrufen von einem Parkplatz weg. Wieder an der Küstenstraße tanzen Gruppen von Menschen für die Rechte der indigenen Kulturen. Die Kirche, vor der sie tanzen, ist mit Transparenten behängt. Über Kilometer hinweg ist keine Bank unbeschädigt. Auf Um- und Schleichwegen komme ich zurück ins Camp. Meine Augen brennen vom Tränengas, meine Haut ist von der Sonne verbrannt, meine Füße sind geschwollen. Der Strand beim Camp ist jetzt überfüllt, weil sich die Rückkehrer in die kalten Fluten stürzen. Die Hannoveraner aus unserem Bus sind unverletzt geblieben, ein kleines Wunder bei den Gewaltorgien der Carabinieri an diesem Tag, die alles übertrafen, was es in den letzten Jahren innerhalb der EU an Gewalt gegeben hat.

Heute griff die Polizei vom Meer (ungezählte Schlauchboote), aus der Luft (acht Polizeihubschrauber) und vom Land aus mit Tränengas an. Es gab Unmengen von Verletzten; die Demonstranten ließen sich von den brutalen Aktionen der Polizei trotzdem nicht provozieren. Seriöse Beobachter - Ärzte und italienische Journalisten - sprechen von Massakern der Polizei an Pazifisten. Abends berichten Menschen aus dem Nervicamp von gewalttätigen Übergriffen der Polizei an Nonnen. Demonstranten stürzten sich aus Verzweiflung aus vielen Metern Höhe in das Meer, das unter der Wasseroberfläche viele scharfe Klippen aufweist. Dort wurden sie von Carabinieri in Schlauchbooten empfangen. Wir erfahren, daß die Demonstration in drei Teile gespalten wurde. Der erste Teil kam bis zum Ort der Abschlußkundgebung; der zweite, in dem ich mich befand, wurde aufgerieben. Der dritte Teil hatte sich gerade gesammelt, da mußte er auch schon wieder in die Camps zurückkehren. Insgesamt hatten sich heute zwischen 200.000 und 300.000 Menschen versammelt, mehr Kapitalismuskritiker an einem Ort als irgendwann seit 1968.


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