Zur normalen Fassung

Das kleinere Übel

Die Friedenspolitik der UNO

von Andreas Zumach


"Die UNO hat in Srebrenica versagt", "die UNO ließ den Völkermord in Ruanda tatenlos zu" - solche Sätze waren in den elf Jahren seit Ende des Kalten Krieges Legion. Dabei kam "die UNO" in den meisten Fällen ihrer Erwähnung negativ weg. Dies erleichterte denjenigen das Geschäft, die ein Interesse an der Diskreditierung und Schwächung der einzigen globalen Institution hatten und zugleich eines an der Aufwertung und Neulegitimierung der NATO und anderer Interessenallianzen. Deshalb sei an eine Banalität erinnert: "Die UNO" als ein eigenständig handlungsfähiges Subjekt existiert nicht. Die Vereinten Nationen sind ein kompliziertes Geflecht aus 189 Staaten, deren Interessen oft gegensätzlich und deren politische, wirtschaftliche und militärische Durchsetzungsmöglichkeiten sehr unterschiedlich sind. Für jeden Beschluß der UNO, für jedes Handeln oder Nichthandeln, jeden Erfolg und jedes Scheitern der Weltorganisation ließe sich jeweils analysieren, welche Interessen welcher Mitgliedsstaaten sich wie ausgewirkt haben.

Das gilt auch für die bisherige Bilanz der UNO bei der Krisen- und Konfliktprävention. Der Begriff "Krisen- und Konfliktprävention" wurde in der Friedens- und Konfliktforschung zwar schon in den 80er Jahren benutzt. Bei der UNO spielte er jedoch damals noch keine Rolle. Andererseits gab es auch schon vor Ende des Kalten Krieges Handlungsfelder im UN-System, die sich so bezeichnen ließen. Dazu zählen etwa die Aktivitäten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Unterstützung von Basisgesundheitsprogrammen in armen Ländern des Südens, die Förderung lokaler oder regionaler sozialökonomischer Strukturen durch das Entwicklungsprogramm der UNO (UNEP) oder die Hilfe der Internationalen Arbeitsbehörde (ILO) beim Aufbau von Gewerkschaften.

Blauhelme als Alibi

Der überwiegende Anteil der Arbeit der 32 UN-Sonder- und Spezialorganisationen bestand (und besteht) jedoch aus der Reaktion auf bereits ausgebrochene und gewaltsam eskalierte Konflikte: humanitäre Arbeit etwa zur Betreuung von Flüchtlingen durch das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) oder zur Versorgung notleidender Zivilbevölkerung mit Nahrungsmitteln durch das Welternährungsprogramm (WFP). Auch diese humanitären Anstrengungen hatten natürlich zum Teil präventive Wirkungen, indem sie zur Entschärfung der Lage und zur Verhinderung neuer Konflikte beitrugen. Ähnliches ließe sich sagen für die - zum Teil erfolgreiche - Vermittlung durch UN-Sonderbeauftragte und Generalsekretäre zwischen Konfliktparteien zwecks Beendigung bewaffneter Auseinandersetzungen oder bei der Herbeiführung politischer Lösungen, wie in den 70er und 80er Jahren in Afghanistan, Namibia und im ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran.

Erfolge solcher Vermittlungsbemühungen waren jedoch nur dann möglich, wenn auch die beiden Großmächte USA und Sowjetunion ein Interesse daran hatten. Der Einsatz militärischer Instrumente durch die UNO erfolgte bis zum Ende des Kalten Krieges immer erst dann, wenn bereits ein bewaffneter Konflikt stattgefunden und nachdem sich die Kriegsparteien zumindest auf einen Waffenstillstand geeinigt hatten. Unter dieser Voraussetzung und erst nach Zustimmung der Kriegsparteien beschloß der UNO-Sicherheitsrat zwischen 1947 und 1990 in 18 Fällen die Entsendung von Blauhelmtruppen. Ihre Aufgabe war die "Friedenserhaltung" (peacekeeping) - das heißt zumeist die Überwachung von Waffenstillstandslinien. Eine präventive Wirkung hatten diese Einsätze nur, insofern sie den Wiederausbruch kriegerischer Auseinandersetzungen verhindern konnten - so zum Beispiel in Zypern, wo seit dem griechisch-türkischen Krieg 1974 UNO-Blauhelme an der Waffenstillstandslinie stationiert sind. Kritiker wenden allerdings ein, gerade in Zypern sei der Einsatz der UNO-Blauhelme zum "Alibi" geworden, mit dem sich die "internationale Gemeinschaft" des Drucks entledigt habe, nach einer politischen Lösung zur Überwindung der Teilung Zyperns zu suchen.

Viele der zwischenstaatlichen wie innerstaatlichen Krisen und Konflikte der Jahre 1945-1990 waren bedingt oder wurden zumindest verschärft durch die politische, ideologische und militärische Ost-West-Konfrontation sowie durch die vom westlichen Norden dominierte kapitalistische Weltmarktstruktur. Alle Anstrengungen der UNO zu ihrer Prävention oder Entschärfung sowie zur Unterstützung von Konfliktopfern wurden durch diese beiden wesentlichen Parameter behindert. In den 60er und 70er Jahren gab es im Rahmen des UNO-Systems Versuche, zumindest einige der negativen Auswirkungen der Weltmarktstrukturen auf die Länder des Südens abzuschwächen, etwa durch die Festlegung von Mindestpreisen für die wichtigsten Exportprodukte. Doch die entsprechenden Beschlüsse, die von der UNO-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD) und von der UN-Generalversammlung mit großer Mehrheit verabschiedet wurden, wurden von den Industriestaaten des Nordens torpediert. In den 80er Jahren verlagerten die Industriestaaten Entscheidungen über relevante Fragen der internationalen Handels-, Finanz-, Entwicklungs- und Sozialpolitik immer mehr in von ihnen dominierte Organisationen wie Weltbank, IWF, G-7 und GATT/WTO.

Agenda für den Frieden

Seit Ende des Kalten Krieges ist die "Krisen- und Konfliktprävention" auch bei der UNO in aller Munde. 1992 legte der damalige Generalsekretär Boutros Boutros Ghali seine "Agenda für den Frieden" vor. Darin beschrieb er die gesamte Bandbreite der Kapazitäten und Instrumente zur Bearbeitung von Konflikten, über die die UNO seiner Meinung nach verfügen sollte: von der Früherkennung und -warnung über die Prävention und die diplomatische Vermittlung bis hin zur Opfernachsorge. Der überwiegende Teil der "Agenda für den Frieden" befaßt sich mit den nichtmilitärischen Instrumenten zur Bearbeitung von Konflikten. Aber Boutros Ghali behandelt auch den Fall, in dem nichtmilitärische Instrumente bei der Prävention, Deeskalation und Befriedung von Konflikten versagt haben und in dem - wie etwa 1994 in Ruanda - ein Völkermord oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen unmittelbar bevorstehen oder schon begonnen haben. Zur Verhinderung solcher Völkermorde sollte die UNO von ihren Mitgliedsstaaten mit ausreichenden Zwangsmitteln ausgestattet werden - in Form schnell einsetzbarer UNO-Militärverbände oder zumindest ‚robuster' Polizeitruppen, wie Boutros Ghali forderte. Im Idealfall sollte die UNO über ständige militärische oder polizeiliche Einsatzkräfte unter dem Kommando des Sicherheitsrates verfügen, damit im konkreten Bedarfsfall die benötigen Einsatzkräfte nicht bei den Mitgliedsstaaten erbettelt werden müssen. Mit der "Agenda für den Frieden" wollte der UNO-Generalsekretär die Mitgliedsstaaten dazu bewegen, die Weltorganisation auf dem Feld der Konfliktbearbeitung mit zivilen wie mit militärischen Mitteln fit zu machen für die Herausforderungen nach Ende des Kalten Krieges.

Näher definiert wurden diese Herausforderungen auf den sieben Weltkonferenzen der UNO in den Jahren 1992 bis 96. Insbesondere bei der UNCED 1992 in Rio de Janeiro gelang eine sehr weitgehende Verständigung auf den Zusammenhang zwischen konfliktauslösenden Umwelt- und Entwicklungsproblemen. Die Weltkonferenzen erbrachten überwiegend konsensuale Problemanalysen sowie zumindest teilweise Beschlüsse für konfliktpräventives Handeln - allerdings immer nur im Rahmen der kapitalistischen Weltmarktordnung. Den politischen Absichtserklärungen sind bislang außer beim Thema Klimaschutz keine verbindlichen Umsetzungsbeschlüsse gefolgt, weder im UNO-Rahmen noch auf nationalstaatlicher Ebene. Darüber hinaus verringern die Mitgliedsstaaten ihre Unterstützung für die UNO gerade auch in solchen Aufgabenbereichen der Prävention und Entschärfung von Konflikten, die auf den Weltkonferenzen als prioritär diskutiert wurden. Die Industriestaaten Westeuropas (mit Ausnahme der Skandinavier) und Nordamerikas haben in den letzten Jahren ihre Zuschüsse für das UNO-Entwicklungsprogramm, das Welternährungsprogramm oder das Hochkommissariat für Flüchtlinge massiv gekürzt. Das Genfer Menschenrechtshochkommissariat der UNO ist auch acht Jahre nach der Wiener Menschenrechtskonferenz und trotz deutlich gestiegener Anforderungen noch immer völlig unterfinanziert.

Ein ähnliches Schicksal erfuhr die "Agenda für den Frieden". An der Umsetzung ihrer Vorschläge zur Stärkung ziviler Konfliktbearbeitung hatten insbesondere die NATO-Staaten kein Interesse. Auch die von Boutros Ghali geforderte Schaffung von Militär- und Polizeiverbänden der UNO wird von den NATO-Staaten (wie auch von anderen UNO-Mitgliedern) strikt abgelehnt. Ersatzweise verfolgt die Peacekeeping-Abteilung der New Yorker UNO-Zentrale seit Mitte der 90er Jahre das Konzept so genannter "standby forces". Danach sollen Mitgliedsstaaten die Bereitstellung militärischer Kontingente zusagen, die dann im Bedarfsfall angefordert werden können. Zwar haben inzwischen rund 90 Regierungen entsprechende Vereinbarungen mit der UNO-Zentrale getroffen. Doch sie enthalten den Vorbehalt, im konkreten Fall die Überlassung der militärischen Kontingente an die UNO verweigern zu können. Damit ist die Handlungsfähigkeit der UNO auf dem Papier gestärkt, nicht aber in der Praxis.

NATiOnale Interessen

Die NATO verfolgte seit Anfang der 90er Jahre die - damals oft hinter anders lautender Rhetorik versteckte - Absicht, gegen die Handlungsfähigkeit der UNO die eigene Existenz neu zu legitimieren und ihre Befugnisse auszuweiten. 1993 legte die NATO ihre Bedingungen für eine künftige Kooperation mit der UNO fest. Danach ist die NATO grundsätzlich bereit, Aufträge des UNO-Sicherheitsrates für militärische Missionen zu übernehmen - allerdings nur, wenn diese Aufträge auch im nationalen Eigeninteresse der NATO-Staaten liegen. Die NATO besteht auf dem alleinigen Kommando über eine ihr vom UNO-Sicherheitsrat übertragene Mission. Die NATO ist nicht bereit, ihre Erkenntnisse über eine Konfliktregion an die UNO weiterzugeben; sie behält sich die Entscheidung vor, einen Auftrag des Sicherheitsrates für eine ‚friedenserhaltende Mission' notfalls zu ‚friedenserzwingenden Maßnahmen' zu eskalieren; und schließlich will die NATO selbst darüber entscheiden, wann eine vom UNO-Sicherheitsrat beauftragte Mission beendet wird.

Die NATO-geführten internationalen Truppen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo haben dieses Konzept in die Praxis umgesetzt. Darüber hinaus hat die NATO 1999 ohne Mandatierung durch den UNO-Sicherheitsrat einen Luftkrieg gegen Jugoslawien geführt. Zugleich schrieb sie sich in ihrer 1999 verabschiedeten neuen Strategie ausdrücklich das Recht zu, auch künftig notfalls ohne ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates zwecks "Sicherung von Frieden und Stabilität" in der "euroatlantischen Region" militärisch zu intervenieren. Es ist davon auszugehen, daß die NATO-Strategen damit mindestens den Raum von der Ostküste der USA bis zum Ural meinen.

Ist es aus antimilitaristischer Sicht wünschenswert, daß die UNO eine stärkere, ja gar die zentrale Rolle bei der Krisen- und Konfliktprävention spielt? Die UNO ist keine auch nur annähernd perfekte Institution. Aber sie ist als einzige globale Institution - im Vergleich zu allen anderen denkbaren Akteuren wie NATO, EU oder anderen Interessenallianzen von Nationalstaaten - schlicht das geringste Übel. Ob die UNO künftig eine stärkere Rolle bei der Krisen- und Konfliktprävention spielen wird, hängt weniger von einer Umsetzung der überfälligen Reformen dieser Institution ab. Entscheidend wird sein, ob sich das Lager der reichen Industriestaaten nicht nur rhetorisch, sondern auch im praktischen Handeln stärker hinter die UNO stellt.


Andreas Zumach ist Korrespondent am Genfer UN-Sitz.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 254 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.


Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/3b4a3254ee268/1.html