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Modell Türkei

Gewerkschaftsbewegung im Kampf gegen das IWF - Diktat

vom Gewerkschaftsforum Hannover

Der Staat hat jederzeit das Recht, einen Streik "aus staatlichem Interesse" zu verbieten.

Die Türkische Wirtschaft ist in der Krise. Die Regierung Ecevit, eine Koalition von Sozialdemokraten mit der ehemals neofaschistischen MHP, wackelt. Innerhalb von wenigen Tagen werden Milliarden von Dollars aus der Türkei transferiert. Die Türkische Lira muß aufgrund des IWF-Druckes um 40% abgewertet werden. Massenentlassungen und Zahlungsunfähigkeiten in kleinen und mittleren Betrieben sind die Folge. Ein "neues" IWF-Stabilisierungsprogramm wird verhandelt: Privatisierungen der öffentlichen Betriebe, Einfrieren der Löhne, Erhöhung der Steuern, Senkung der Staatsausgaben. Hunderttausende gehen auf die Straße und protestieren gegen das Programm und seine Folgen, die weitere Verelendung des größten Teils der Bevölkerung. Die Regierung reagiert mit Demonstrationsverboten und Repression gegen die Demonstranten.

In den 70er Jahren hatten weder sozialdemokratische noch konservative Regierungen eine vom IWF diktierte neoliberale Wende durchsetzen können. Das gelang erst nach dem Militärputsch von 1980, der mit Billigung der NATO eine Militärjunta am die Macht brachte. Alle Massenorganisationen wie die Gewerkschaften und die Volksbewegung Dev-Yol (Revolutionärer Weg) wurden zerschlagen und die demokratischen Rechte wurden abgeschafft um Proteste unmöglich zu machen. Hunderttausende kamen in die Gefängnisse, Tausende gingen ins Exil, Hunderte "verschwanden", systematische Folter war an der Tagesordnung. Vor allem der wachsende Oppositionsbewegung der kurdischen Bevölkerung wurde mit Massakern und Krieg begegnet.

Nach dem Putsch konnte die Wirtschaft den Auflagen des IWF entsprechend umgebaut werden, nach dem gleichen "Modell" das auch schon in Chile mit dem Putsch der Generäle um Pinochet durchgesetzt worden war.

Die bis heute geltende Verfassung von 1982 ließen sich die Generäle so zuschneiden, daß die politische Macht der Armee institutionell verankert wurde. Im Nationalen Sicherheitsrat, in dem fünf hohe Offiziere mit fünf zivilen Amtsträgern sitzen, werden seitdem die Leitlinien der Politik ausgearbeitet, offizielle "Anregungen", die in der Praxis Befehle an die gewählten Regierungen sind.

Als einzige Gewerkschaft wurde nach dem Militärputsch die Türk-Is zugelassen. Die gewerkschaftliche Arbeit wurde weitgehend eingeschränkt. So muß eine Gewerkschaft, um Kollektivverhandlungen führen zu können, 10% der Beschäftigten der jeweiligen Branche im ganzen Land organisiert haben. In dem jeweiligen Betrieb muß sie über 50% der Beschäftigten vertreten. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft muß notariell beglaubigt werden, was auch noch Geld kostet. Vor einer Anerkennung als Tarifpartner in einem Betrieb müssen alle Angaben vom Sozialministerium geprüft und gegebenenfalls bestätigt werden. Geschieht das nicht, kann die Gewerkschaft den Gerichtsweg beschreiten. Kommt eine Bestätigung, kann der Unternehmer Einspruch erheben; in dieser ganzen Zeit können die Gewerkschafter entlassen werden, so daß der Prozentsatz wieder unter 50% sinkt, womit die Prozedur hinfällig wäre. Außerdem hat der Staat jederzeit das Recht, einen Streik "aus staatlichem Interesse" zu verbieten.

Aber im Laufe der Zeit radikalisierten sich Teile der Türk-Is. Dazu gründeten sich neue Gewerkschaften bzw. gründeten sich neu wie die DISK und Arbeitskämpfe nahmen zu.

Die Arbeitsunfallrate ist mit 119 Toten auf 1 Mill. Tonnen geförderter Kohle aufgrund veralteter Schutzvorrichtungen und auch sonst schlechten Arbeitsbedingungen die höchste der Welt - weit vor Pakistan mit 30 Toten.

Auch hierzulande gingen z.B. die Proteste der Bergarbeiter von Zonguldak durch die Presse. 100.000 Bergleute marschierten über mehrere Tage nach Ankara mit der Forderung nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen. Die Arbeitsunfallrate ist mit 119 Toten auf 1 Mill. Tonnen geförderter Kohle aufgrund veralteter Schutzvorrichtungen und auch sonst schlechten Arbeitsbedingungen die höchste der Welt (danach folgt Pakistan mit 30 Toten).

1993 wird von der DISK zum Jahr des Streiks ausgerufen. Durch die Auflagen des IWF wird es allerdings zu einem Jahr der Entlassungen. Es gibt nur geringe Erfolge in der Gegenwehr.

Dabei greift die Gewerkschaftsbewegung auch zu recht ungewöhnlichen Mitteln: 1993 machten etwa 600.000 Arbeiter "Arztbesuche", d.h. sie gingen in organisierter Form zum Arzt, um der Arbeit fernbleiben zu können und damit Druck auszuüben, aber nicht offiziell zu streiken.

1995 gründete sich die Gewerkschaftsförderation KESK für den öffentlichen Dienst. Es war den Beamten seit 1982 verboten, sich gewerkschaftlich zu organisieren. In dem Kampf um Organisierung wurden viele Aktivisten verhaftet und "verschwanden". Erst auf Druck des internationalen Gewerkschaftsverbandes wurde das Organisationsverbot im Jahre 2000 aufgehoben. Allerdings bleiben Streiks verboten und die Gewerkschaft darf sich nicht zu politischen Themen äußern. Mittlerweile gehören ihr auch Gewerkschaften aus anderen Bereichen an, wie z.B. Maden-Sen, eine Chemie- und Metallarbeitergewerkschaft.

Die Bevölkerung hat also schon eine lange Erfahrung mit den wirtschaftlichen Auswirkungen des Neoliberalismus auf die Lebensbedingungen, wie auch mit der Gegenwehr. Seit dem Jahr 1997 haben die Privatisierungen der staatlichen Betriebe und die Durchsetzung des IWF-Sparpakets die soziale Situation enorm verschärft. Die Inflationsrate ist bis auf 150% angewachsen, etwa 10 Millionen sind arbeitslos, 80% der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze.

1999 gründete die Gewerkschaftsbewegung eine "Plattform der Arbeit". Schon einen Monat nach diesem Zusammenschluß von 15 Gewerkschaften wurde der erste Generalstreik ausgerufen gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung. Mittlerweile wird die "Plattform der Arbeit" von allen Gewerkschaftsdachverbänden wie der Türk-Is, der KESK, der DISK und der Hakis getragen sowie von verschiedenen Berufsverbänden.

Die Gewerkschaftsbewegung greift auch zu recht ungewöhnlichen Mitteln: 1993 machten etwa 600.000 Arbeiter "Arztbesuche", d.h. sie gingen in organisierter Form zum Arzt, um der Arbeit fernbleiben zu können und damit Druck auszuüben, aber nicht offiziell zu streiken.

Vor allem seit der im Frühjahr 2001 auf IWF - Diktat hin freigegebenen Türkischen Lira, deren Kurs seitdem fällt, verbreitet sich der Widerstand gegen den verschärften Lohn- und Sozialabbau. Parallel zu den Gewerkschaften organisieren kleine Geschäftsleute und Händler nun Massenaktionen in allen Landesteilen. Im März 2001 kam es zu großen Demonstrationen, an denen sich auch Arbeitslose, Schüler und Studenten beteiligten. Eine zentrale Parole dabei war: "Nein zu Privatisierungen, nieder mit dem IWF!"

Bei einigen Demonstrationen soll aber auch schon der Ruf nach dem Militär laut geworden sein: "Die Soldaten sollen kommen, die Politiker wollen wir nicht". Allerdings würde ein Eingreifen der Militärs zum gegenwärtigen Zeitpunkt, anders als 1982, das Verhältnis der Türkei zur EU empfindlich stören. Gerade die Zurückdrängung der Militärs, unter anderem im Nationalen Sicherheitsrat, ist bei den Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur EU ein wichtiger Punkt. Andererseits werden sich die Militärs in der Türkei sicher nicht so schnell aus ihren Schlüsselpositionen drängen lassen, die sie auch in wirtschaftlicher Hinsucht mit den beiden Militärkonzernen OYAK und TSKGV eingenommen haben, womit sie mit zu den mächtigsten Kapitalisten in der Türkei gehören.

Die Antwort der Regierung auf die Proteste: Angriffe von der Polizei auf die Demonstrationen und Demonstrationsverbote. Bislang haben diese Maßnahmen die breite Bewegung gegen den IWF und die daraus folgende Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht beeindrucken können.


Über all das wird Neset Demirtas berichten, bis vor kurzem Vorsitzender der Chemie- und Metallgewerkschaft Maden-Sen, die dem Dachverband KESK angehört, am

Fr., 18.05. 2001 um 20.00 im Pavillon am Raschplatz, Lister Meile 4, in Hannover.

Diese Veranstaltung wird gefördert von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt in Berlin

Kontakt: Gewerkschaftsforum Hannover, S. Hellweger, Alte Herrenhäuser Str. 28, 30419 Hannover.
Der virtuelle Treffpunkt der Gewerkschafts- und Betriebslinken: LabourNet.

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