Zur normalen Fassung

Minutenschlaf und Waffengang

Auszug aus einem Behördenspiel

von Marcus Hawel


Auf dem Flur der Behörde gehen Türen auf und werden zugeschlagen. Sacharbeiter tragen gestapelte Aktenordner durch den Flur und verschwinden in anderen Zimmern. Im Flur warten Fälle auf ihre Bearbeitung. Sie schlagen in Schlangen die Zeit tot. In den Zimmern erledigen dagegen die Sacharbeiter die Fälle. So herrscht insgesamt die feindliche Atmosphäre eines Häuserkampfes mit entgegengesetztem Schlagabtausch zwischen Zimmern und Flur. Ampelanlagen stellen den sanften Waffengang mit sachlicher Tötung sicher.

Frau Flynt ist eine für die Fälle unmenschlich-halblebendige Verbindungsmasse zum deutschen Sozialstaat, noch jung, d.h. in etwa so alt wie Fall H; daraus leitet sich ihr Übereifer ab. Die Unsicherheit steht Frau Flynt ins Gesicht geschrieben, da der Fall H sich außerordentlich verhält. Aber wie sollte Frau Flynt schon mit dem Fall H, Akademiker und seit einem Jahr Sozialhilfeempfänger, umgehen? Zu erwarten ist ebenso die Gewandtheit des Akademikers wie die Demut des von der Behörde in seiner Würde angetasteten Sozialhilfeempfängers. Auf der anderen Seite ist die Überheblichkeit und Gewißheit der Sacharbeiterin, es mit weniger Bildung zu mehr materiellem und sozialem Status gebracht zu haben. Gegen Chauvinismus wächst auf den Fluren und in den Zimmern der Behörde kein Kraut.

Flynt: Es ist mein Recht, von Ihnen den Nachweis der Antworten der Firmen, bei denen Sie sich beworben haben, zu verlangen.

Fall H: Ich habe auch keineswegs dieses Recht in Frage gestellt, sondern mich über den Ton beschwert.

Flynt: Nach einem Jahr mit jeweils 15 monatlichen Bewerbungen müßte doch irgendwann einmal etwas dabei herauskommen. Deshalb ist es völlig normal, jetzt den Nachweis zu verlangen. Sie hatten angegeben, daß Sie bis September des letzten Jahres auf ein Stipendium hoffen. Nun ist darüber hinaus ein halbes Jahr vergangen. Wahrscheinlich werden Sie mir nun wieder sagen, daß Sie auf ein Stipendium hoffen...

Fall H: Ja. Weil es der Wahrheit entspricht. Es ist nicht ganz so einfach, unter diesen Bedingungen für eine Promotion zu arbeiten, bzw. die Voraussetzungen für ein Stipendium zu erfüllen.

Flynt: Nickt zustimmend. (Allerdings sind solche Gesten bei Sacharbeitern keineswegs ein Indiz dafür, daß sie auch tatsächlich Verständnis haben. Es können auch unkontrollierte motorische Zuckungen sein, weil sich hinter der Charaktermaske manchmal der lebendige und menschliche Muskel gegen seine allzu berufliche Deformierung zur Wehr setzt. Im allgemeinen bleibt es allerdings nur bei Zuckungen. Ausfälle kommen selten vor, und in diesem Fall werden Sacharbeiter einfach an eine andere Stelle versetzt, wo sie dem Sozialstaat keinen Schaden mehr anrichten können. Frau Flynt gibt in dieser konkreten Situation mit ihrer sparsamen Geste allerdings noch einigem mehr Ausdruck, z.B. daß es für sie anstrengender wäre, etwas zu sagen, daß sie gelangweilt und dennoch in ihrem Gelangweiltsein beeindruckt ist ob der Nachvollziehbarkeit des vorgetragenen Argumentes. Inwieweit das Argument eine tatsächliche Sachlage darstellt oder als Ausrede verwendet wird, darüber im Zweifel zu sein, hat sie sich nicht zu befinden. Sie hat grundsätzlich zu der Ausrede hinzutendieren und bekundet anerkennend mit ihrem Nicken, daß sie eine solche Ausrede als wenig plump im Vergleich zu von anderen Fällen vorgetragenen Ausreden findet, ja und tatsächlich für kreativ ansieht; jedenfalls für derart geeignet, den nächst höheren Level in diesem Behördenspiel zu erreichen, also den nächsten Waffengang mit Schlagabtausch zu probieren. Frau Flynt ist solches nicht bewußt, aber sie hat eine sachliche Intuition, die auch wieder verschwindet, wenn sie den Aktendeckel schließt. Ein quasi sachlicher Abwehrmechanismus ist wirksam, wenn sie das menschliche Leid, das sich konkret hinter den Aktenzeichen verbirgt, zu sehr an sich heranläßt. Die gesichtslos versachlichten Seelen der Armen, vor allem die der zusätzlich sachlich Gequälten, geistern in der Schreibtischtäterin, die einen restlichen Zug Menschliches in sich bewahrt hat, als ein sachlicher Alp umher, von dem sie in ihrem von den Vorgesetzten verordneten Minutenschlaf zwischen zwei aufgeschlagenen Aktendeckeln träumt. Dabei schlagen sich anfangs die beiden Aktendeckel immer steiler in die Höhe, ziehen sich quasi wie eine Wand nach allen Seiten hin auf und lassen ihr Gesicht zurück. Frau Flynt hockt auf dem kalten Behördenboden wie in einem fensterlosen Gefängnis ohne Ausblick. Die wild durcheinandergeworfenen Aktenzeichen dienen ihr als kleines Polster. Frau Flynt ist allein. Sie schreit auf, weil sie glaubt, einen Aktenwurm auf sich zukommen zu sehen, der einmal außer Papier etwas anderes zu fressen wünscht. Das aber ist eine optische Täuschung. In dem Aktenverlies kommt eine Schar von Schnellordnern auf sie zugezogen: eine Prozession aus all zu verdinglichten Fällen. Sie haben den kleinen Zettel mit der Aufrufnummer auf der Stirn kleben. Fütterungszeit der Schreibtischbestie. Die Prozession der Verdinglichten umkreist die blutleere aber junge Sacharbeiterin. Jeder der Fälle nimmt seinen Zettel von der Stirn, der Reihe nach, wie sie aufgerufen sind, stopfen sie der übereifernden Sacharbeiterin das Maul...

Für gewöhnlich reicht ein Minutenschlaf nicht für längere Alpträume, so daß auch dieser immer wieder an dieser Stelle abrupt durch die Ampelschaltanlage, die mit einem sanften Getöse von rot auf grün umspringt und Frau Flynt aus dem Schlaf reißt, beendet wird. Sacht hebt sie das Gesicht aus den Akten hervor und wischt sich flüchtig mit dem linken Handrücken den kalten Schweiß von der Stirn, während der Fall H, der ihr etwas Kopfschmerzen bereitet hat und in dessen Erledigung die für den Minutenschlaf vorgesehene kurze Pause gefallen war, ohne Klopfzeichen in das Zimmer zurückkommt. Jedes Mal, wenn so etwas passiert, wünscht sie sich ein bißchen mehr von der von den Fällen totgeschlagenen Zeit zurück, um zwischen Aufwachen und dem Umschlagen der Ampel noch unbeobachtet den kalten Schweiß von der Stirn wischen zu können. Alles andere untergräbt doch die staatliche Autorität. Aber dagegen ist wohl nichts zu machen.

Flynt: Wo waren wir angekommen?

Fall H: Ihnen ist gerade das Maul gestopft worden.

Flynt: Ja, richtig. Da bin ich stehengeblieben. Was haben Sie noch einmal für eine Aufrufnummer?

Fall H: 011. Es ist zur Beruhigung kein chlorgebleichtes Papier. Die Druckerschwärze ist auch sehr sparsam aufgetragen. Eine große Nummer ist es ohnehin nicht. Im Ganzen dürfte das Papier bekömmlich sein, die Nummer hat nichts außergewöhnliches; sie wird weder verstopfen noch eine Kotzreiz hervorrufen.

Flynt: Das ist gut. Sie scheinen sich mit diesem Thema tatsächlich beschäftigt zu haben. Aber ich muß Ihnen nochmals sagen, daß eine solche Beschäftigung aus Sicht der Sachlage nicht von der Verpflichtung des Falles befreit, sich um eine anerkannte, bezahlte Arbeit zu kümmern.

Fall H: Ich habe jeden Monat 15 Bewerbungen verschickt. Damit bin ich meiner Pflicht nachgekommen. Mehr kann ich auch nicht tun. Wenn ich nur Absagen bekomme, dann ist das nicht meine Schuld. Im übrigen gibt es auf meine Qualifikation im gesamten Bundesgebiet lediglich 16 offene Stellen. Was also schlagen Sie vor?

Flynt: Sie schreiben in Ihre Bewerbungen hinein, daß Sie nur halbtags arbeiten können, weil Sie nebenbei promovieren wollen. Sie haben aber die Pflicht, sich um eine ganztägige Arbeit zu kümmern.

Fall H: Also werde ich mich zukünftig um eine ganztägige Arbeit bewerben.

Flynt: stimmt motorisch zuckend zu. Irgendwann haben Sie auf diese Weise alle Firmen von A bis Z durch.

Fall H: Oh, da unterschätzen Sie aber ein bißchen die Größe der deutschen Wirtschaft, und mittlerweile darf man ja sich auch in ganz Europa bewerben. Da gibt es noch unglaublich viele Firmen, bei denen man sich bewerben kann.

Flynt: A wie Abrißfirmen, B wie Beerdigungsinstitute... Ich denke, daß es wieder an der Zeit wäre, Sie von der Stelle "Hilfe zur Arbeit" vorladen zu lassen. Dann bekommen Sie wenigstens eine BSHG-Arbeit. Sie schaut den Fall H an, als hätte sie eine Frage gestellt.

Fall H: Ist das eine Frage, auf die ich nur zustimmend antworten darf?

Flynt: Sie könnten es wenigstens zur Kenntnis nehmen.

Fall H: Hören Sie, das ist doch klar. Sie reden mit mir; ich bin ein aufgeweckter Mensch, und sie sind auch geweckt worden.

Flynt: Gut. Dann zu dem anderen. Eine Waschmaschine können wir Ihnen nicht bewilligen.

Fall H: Mit welcher Begründung?

Flynt: Weil Sie als Alleinstehender kein Anrecht auf eine Waschmaschine haben. Das gilt nur für Familien.

Fall H: Ich lebe in einer WG.

Flynt: Das ist keine Familie. Für andere Fälle, die keine Sozialhilfe beziehen, kommen wir nicht auf.

Fall H: Und sagen Sie mir noch, wo ich meine dreckige Wäsche waschen soll?

Flynt: In der Öffentlichkeit. Dafür gibt es Waschsalons.

Fall H: Und gibt es dafür eine zusätzliche Zuwendung?

Flynt: Nein.

Fall H: Gut, das habe ich lediglich zur Kenntnis genommen. Ich werde auf schriftlichem Wege dagegen Widerspruch einlegen.

Flynt: Zuckt etwas verlegen mit den Achseln. Dann hätten wir das vorerst geklärt. Sie bekommen demnächst eine Einladung von der "Hilfe zur Arbeit". Dort wird dann auch nicht mehr die Sache mit der Promotion als ausreichender Grund akzeptiert. Sie bekommen damit aber die Möglichkeit, einer ganz anderen Tätigkeit nachzugehen.

Fall H: Und wenn ich das gar nicht will?

Flynt: Wird Ihre Sozialhilfe teilweise oder ganz gestrichen. Falls Sie allerdings irgendwann ein Stipendium bekommen sollten, dann können Sie von dieser Pflicht wieder befreit werden.

Fall H: Glauben Sie ja nicht, daß das Spaß macht. Auf Wiedersehen.

Flynt: Auf Wiedersehen. Leicht gestreßt, als könnte sie schon wieder einen Minutenschlaf vertragen, erschrickt sie bei dem Gedanken vor den Folgen eines solchen. Sie schließt den Aktendeckel und öffnet das nächste Aktenzeichen, während die unerbittliche Ampelanlage auf grün umschlägt und der nächste von den auf dem Flur wartendenden Fällen das Zimmer betritt.

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