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Palästinenser sind keine Unmenschen

von Christoph Seidler


Auf die Ereignisse der letzten Wochen und Monate im Nahen Osten hat ein Teil der deutschen Linken mit einer Position reagiert, die sich während des 2. Golfkriegs schon angedeutet hatte: Gefordert wird die "bedingungslose Verteidigung des Staates Israel und seiner nationalen Interessen". Wenn ich richtig verstanden habe, so nährt sich diese Position aus der Wahrnehmung, mit den "sogenannten Palästinensern" stehe Israel das "derzeit wohl aggressivste antisemitische Kollektiv gegenüber"; Israels Existenz sei "heute gefährdeter denn je". Eine solche Einschätzung des Konflikts läge auch - so heißt es - im Eigeninteresse einer deutschen Linken, denn "ein weiterer Massenmord an den Juden, eine Wiederholung von Auschwitz, würde alle Hoffnungen auf eine Emanzipation der menschlichen Gesellschaft von Kapital und Staat zunichte machen". (Alle Zitate aus dem Artikel 'Kindermörder' von Horst Pankow in der bahamas 33/2000).

Aus den Entwicklungen der letzten Wochen läßt sich alles mögliche ablesen - nur nicht eine tatsächliche Gefährdung der staatlichen Existenz Israels.

Insbesondere die letzte Aussage verdeutlicht, wie die Angst vor einer "Wiederholung von Auschwitz" auf die konkreten Ereignisse und die realen Auseinandersetzungen im Nahen Osten projiziert wird. Dabei läßt sich aus den Entwicklungen der letzten Wochen sicher alles mögliche ablesen - nur nicht eine tatsächliche Gefährdung der staatlichen Existenz Israels. Gefährdet ist allerdings der Friedensprozeß zwischen Israel und Palästinensern, weil zum ersten Mal in den sich seit zehn Jahren dahinschleppenden Verhandlungen ein Punkt erreicht war, an dem die zuvor bewußt 'nach hinten' geschobenen Kernfragen für jede mögliche Einigung - die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge, die endgültige Größe eines palästinensischen Staatsgebietes sowie die Jerusalemfrage - auf den Tisch kamen und sogleich zu Gewalt führten.

Der israelische Premier Barak hat im Juli 2000 in Camp David die Vorstellungen seiner Regierung zu diesen Grundsatzfragen wie folgt zusammengefaßt: Nein zur Rückkehr der Flüchtlinge, Nein zu einem palästinensischen Staat, Nein zu Jerusalem als einer geteilten Hauptstadt und Nein zu jeder weiteren Diskussion über diese Fragen. Auch wenn er dabei erstmals eine palästinensische Teilsouveränität über einige Stadtteile Ostjerusalems in Aussicht stellte, haben die darauf folgenden Ereignisse gezeigt, daß diese "Vorschläge" noch keinen für die palästinensische Seite akzeptablen Kompromiß darstellten.

Der Aufstand der Palästinenser entzündete sich wenige Wochen später an dem Besuch des israelischen Rechtsaußen Sharon auf dem Tempelberg in Jerusalem. Dieser Besuch war eben kein "Rundgang, wie ihn täglich ungezählte Touristen machen" (Gremliza in konkret 11/2000), sondern eine bewußte Provokation mit einem direkt verständlichen Inhalt: Hier wurde der alleinige Besitzanspruch Israels über diesen Teil Jerusalems demonstriert. Da sich in der Frage um die Kontrolle Ostjerusalems die palästinensischen Hoffnungen auf staatliche Unabhängigkeit und nach einem Ende der israelischen Besatzung wie in einem Brennglas bündeln, kann es nicht verwundern, daß der palästinensische Aufstand gerade hier eskalierte.

War der eigene Staat über Jahrzehnte die Hauptforderung des palästinensischen Befreiungskampfes gewesen, so hat dieser mittlerweile ein Gesicht erhalten, das sich die wenigsten so vorgestellt haben.

Dennoch nährt sich die Unzufriedenheit der palästinensischen Demonstranten nicht nur aus der israelischen Politik. Der Friedensprozeß hat auch die eigene Gesellschaft verändert. War der eigene Staat über Jahrzehnte die Hauptforderung des Befreiungskampfes gewesen, so hat dieser mittlerweile ein Gesicht erhalten, das sich die wenigsten so vorgestellt haben: ein - seinerzeit von Israel eingeforderter - monströs aufgeblähter und korrupter Sicherheitsapparat ist die bisher einzige funktionierende staatliche Struktur; und die Prunkvillen der 'Friedensgewinnler' sind im Gazastreifen wie in der Westbank aus dem Boden geschossen, während sich die Lebensverhältnisse der großen Mehrheit der Bevölkerung in keiner Weise verbessert haben.

Allerdings stellt der gegenwärtige Aufstand nicht die soziale Frage in den Mittelpunkt. Vielmehr richten sich alle Hoffnungen zunächst auf ein Ende der Besatzung. Und vor deren Hintergrund fordern auch israelische Friedensgruppen schon lange mehr Flexibilität von ihrer Regierung. Dabei geht es - nach wie vor - um die Anerkennung eines palästinensischen Staates und um Jerusalem als Hauptstadt von beiden Staaten, sowohl Israel als auch Palästina. Eine solche Lösung wäre möglich. Zumindest ist sie notwendig, wenn es überhaupt jemals zu einem Frieden kommen soll.

Die Projektion, im Nahen Osten drohe ein neues Auschwitz, macht die Palästinenser - mit eindeutig rassistischem Unterton - zu Unmenschen, nachdem sie bereits jahrelang von Israel ignoriert werden.

In dieser Situation eine einseitige Solidarisierung mit Israel einzufordern und gleichzeitig die Palästinenser zu einem "sich im Vernichtungswahn gerierenden völkisch-islamistischen Judenhasserkollektiv" (bahamas) zu deklarieren, als gäbe es für diese keinerlei Veranlassung, sich ein Ende der Besatzung zu wünschen, ist wenig hilfreich. Erstens, weil der Unsinn, bei israelischen Hardlinern wie Sharon handele es sich um so etwas wie Touristen, Wasser ist auf die Mühlen der palästinensischen Hardliner (die wie z.B. die fundamentalistische und anti-semitische Hamas in der palästinensischen Gesellschaft nach wie vor minoritär sind), und weil jede einseitige Positionierung für die nationalistischen Ziele einer Seite in diesem Konflikt den alten Haß nur nährt, statt ihn abzubauen.

Zweitens macht die Projektion, im Nahen Osten drohe ein neues Auschwitz, die Palästinenser - mit eindeutig rassistischem Unterton - zu Unmenschen, nachdem sie bereits jahrelang von Israel ignoriert werden. Dabei hat alle Erfahrung gezeigt, daß es keine Lösung im Nahen Osten gibt, solange die Palästinenser nicht zu ihrem Staat kommen. Und ein palästinensischer Staat mit einer Hauptstadt Ostjerusalem würde die israelische Existenz mitnichten in Frage stellen. Dagegen würde eine solche pragmatische Auflösung des Konflikts endlich Raum geben für die hüben wie drüben schwelende innergesellschaftliche Kritik, würde den Blick weg von Staatsgebieten hin auf die gesellschaftliche Verfaßtheit richten helfen. Nur auf diesem Gebiet kann den religiösen und nationalistischen Eiferern auf beiden Seiten wirkungsvoll entgegengetreten werden.



Christoph Seidler lebte von 1987-1992 im Libanon und studiert heute Islamwissenschaften und Geschichte in Freiburg.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 250 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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