von Oliver Heins
"Die herrschende Darstellung der sozialen Wirklichkeit unseres Landes blendet die ökonomischen und politischen Triebkräfte weitgehend aus, die dafür verantwortlich sind, daß die Gesellschaft beim Übermaße des Reichtums' nicht reich genug ist (...), dem Übermaße der Armut (...) zu steuern' (Hegel). Komplementär dazu werden Fragen einer Alternative zur gegebenen ökonomischen Ordnung, die darauf zielt, die Zwecke des sozialen Lebens den Menschen nicht länger als Zwangsgesetz aufzunötigen, sondern von ihnen selbst bestimmen zu lassen, mit einem Denkverbot belegt.
Diese Sichtweise, die in den Massenmedien, aber auch in der Wissenschaft dominiert, wird in den folgenden Beiträgen in Zweifel gezogen. Sie zeigen, daß die Wahrnehmungsverzerrung der herrschenden ökonomischen Meinungs- und Entscheidungsbildung durch verschiedene, in sich zusammenhängende Momente bestimmt wird." (Aus dem Vorwort) Im Herbst 1995 haben sich einige namhafte WissenschaftlerInnen in Loccum auf einer Tagung zum Thema "Kapitalismus ohne Alternative?" zusammengefunden. Aus diesem Kreis ist die - nach dem Ort der Tagung benannte - Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entstanden, von der ein erstes Ergebnis nun - veröffentlicht im hannoverschen Offizin-Verlag - vorliegt. Ökonomie ohne Arbeit - Arbeit ohne Ökonomie? Entwicklungstendenzen des Kapitalismus und politische Intervention ist ein Sammelband; Michael R. Krätke, Alfred Krovoza, Oskar Negt, Hinrich Oetjen, Helmut Spitzley, Thomas v.d. Vring und Bodo Zeuner wollen in ihren Beiträgen eben jene kritische Intervention leisten, die so dringend gebraucht wird. Die Autoren leisten ein Stück notwendiger Ideologiekritik - sie weisen den herrschenden Diskurs um Standorte und Globalisierung ebenso fundiert zurück wie sie die Diskussion um eine gesellschaftliche Alternative voranbringen, um den Sozialismus als wahrhaft menschliche Gesellschaft ins Spiel zu bringen.
Oskar Negts Machtpolitischer Kampfplatz zweier "Ökonomien" stellt ein Plädoyer für die Abkehr von der vorherrschenden einzelbetrieblichen Rationalität zurück zur ursprünglichen Bedeutung des Begriffs Ökonomie (Von griech. oikos: Haus. Ökonomie bezeichnet hier die Leitung des Hauswesens), zu einer Ökonomie des ganzen Hauses, wie sie von den klassischen politischen Ökonomen wie Smith entwickelt wurde. Die Theoriearbeit, die erforderlich ist, diese zweite Ökonomie zur ersten zu machen, ist zentral mit Marx verknüpft. "Die Aktualität des Marxschen Denkens, wenn ich von einer Zweiten Ökonomie spreche, die ökonomische Regeln in menschlichen Maßverhältnissen befolgt, hat eine Brisanz, welche zur Zeit noch den Charakter von Maulwurfsarbeit haben mag, aber von uns entschieden ins öffentliche Bewußtsein gebracht werden muß." (S. 31)
Der Amsterdamer Politökonom Michael Krätke weist in seinem Beitrag Standortkonkurrenz - Realität und Rhetorik detailliert nach, daß das Gespenst der Globalisierung in der Tat mehr Gespenst ist denn realen Gehalt besitzt. Das Schlagwort Globalisierung fungiert als eine Ideologie, in dem die Nationalstaaten als Heimstätte der weltweit agierenden Unternehmen bei Strafe ihres Untergangs als Industrie-Standorte den global players günstige Konkurrenzbedingungen schaffen sollen. Der Kapitalismus ist und war seit Anbeginn Weltkapitalismus und ständig auf der Suche nach neuen Märkten. Die Weltmarktkonkurrenz bildet also kein neues Phänomen. Tatsächlich läßt sich aus den empirischen Daten auch keine Tendenz zu einer verstärkten Globalisierung ablesen, am ehesten noch ein Trend zur Regionalisierung. Wirkliche Globalisierung findet nicht statt, "die multi- und transnationalen Konzerne sind noch immer relativ 'national' und 'bodenständig'." (S. 77) Selbst die Aktienmärkte sind regional fixiert, europäische und japanische Unternehmen werden kaum an amerikanischen Börsen notiert und umgekehrt. Der Bereich, in dem man am ehesten von Globalisierung sprechen könnte, sind die Geldmärkte. Nur hier wird wirklich international spekuliert. Der reale Gehalt von Globalisierung ist äußerst gering, "Globalisierung ist so in weitem Maße ein Legitimationsinstrument zur Durchsetzung betrieblicher Einzelrationalität und zur Absenkung des sozialstaatlichen Niveaus." (S. 7)
Alfred Krovoza zeigt in seinem ebenfalls hervorragenden Aufsatz Arbeitslosigkeit als Zerstörung innerer und äußerer Natur, daß im Kapitalismus nicht nur mittels der Verfügungsgewalt der Unternehmer über die (Lohn-) Arbeit Herrschaft ausgeübt wird, sondern ebenso mittels der Verfügungsgewalt über Arbeitslosigkeit. Notwendig wird infolge der durch die Massenarbeitslosigkeit erzeugten zunehmenden Ich-Zerstörung - die irrationalen Ideologien den Boden bereiten kann - eine "Erweiterung und Neudefinition des Begriffs gesellschaftlicher Arbeit". Hierin liege eine historische Alternative: "Denn nach wie vor verhält sich der historisch dominante Typus von Arbeit zu unter-, schlecht- oder gar nicht gesellschaftlich bewerteten Formen von Arbeit wie zu seiner Naturbasis, d.h. er befindet sich in einem Ausbeutungsverhältnis zu ihnen. Mit einer Erosion dieser Arbeitsformen entzöge sich das dominante System insgesamt seine Existenzgrundlage." (S. 97)
Mit dem Bündnis für Arbeit beschäftigen sich Bodo Zeuner und Hinrich Oetjen. Während Oetjen das Bündnis für Arbeit als Versuch einer Offensive begreift und auf dessen ideologiekritische Seite hinweist - mit seiner Forderung nach 300.000 neuen Arbeitsplätzen binnen drei Jahren und dem dann folgenden Angebot auf moderate Lohnforderungen nahm das Bündnis die Kapitalseite mit ihrer Behauptung, daß Lohnverzicht Arbeitsplätze schaffe, beim Wort und drehte zudem die Beweislast um - zeigt Zeuner in seinen Thesen zum Lehrstück "Bündnis für Arbeit" 1995/96 auf, warum das Bündnis für Arbeit als neokorporatistisches Arrangement nach dem Ende der fordistischen Phase der kapitalistischen Akkumulation in seinem ideologiekritischen Gehalt notwendig scheitern mußte.
Desweiteren schreibt Helmut Spitzley über Arbeit und Umwelt. Vorschläge zur Verknüpfung von Arbeits- und Umweltpolitik und Thomas v.d. Vring über die Chancen eines europäischen Sozialstaats?.
Obwohl einige Texte hinter anderen zurückstehen, erscheint das Buch als fast uneingeschränkt empfehlenswert. Allein der Aufsatz von Michael Krätke macht das Buch mehr als lesenswert. Insgesamt wird das Buch seinem Anspruch, kritisch in den herrschenden Betrieb zu intervenieren, gerecht - mit der Einschränkung/Anmerkung, daß es eine wissenschaftliche Intervention ist - der Kreis der möglichen Leser ist somit enger begrenzt als es wünschenswert wäre. Wünschenswert wäre es nämlich, daß das Buch eine möglichst weite Verbreitung erfährt.
Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Hrsg.): Ökonomie ohne Arbeit - Arbeit ohne Ökonomie? Entwicklungstendenzen des Kapitalismus und politische Intervention. Mit Beiträgen von M. R. Krätke, A. Krovoza, Th. v.d. Vring, O. Negt, H. Spitzley, H. Oetjen, B. Zeuner (= Reihe Kritische Interventionen Nr. 1), Hannover: Offizin-Verlag, 1997, 146 S., 14,80 DM.