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Angela Merkel meinte, diese begriffen zu haben, als sie auf dem Leipziger Parteitag 2003 der CDU Marktradikalismus pur verordnete. Gemeinsam mit der FDP wollte sie – Originalton – »durchregieren«. Dass sie stattdessen 2005 in einer Großen Koalition landete, musste kein Hindernis sein. Die SPD mit ihrer Agenda 2010 wäre wohl weiterhin für alles zu haben gewesen. Aber in der Krise von 2008 musste der Staat stärker in der Wirtschaft engagiert werden als geplant. Als Merkel 2009 schließlich ihre schwarz-gelbe Koalition zusammenhatte, waren die Schulden durch die Rettungspolitik der vergangenen Jahre so gestiegen, dass das Versprechen der FDP, die Steuern kräftig zu senken, gebrochen werden musste. Das fiel den Liberalen auf die Füße, nicht der Union. In der neuen Großen Koalition seit 2013 gestand Merkel der Sozialdemokratie die Rente mit 63 (im seltener werdenden Ausnahmefall von 45 Einzahlungsjahren) und den Mindestlohn zu. Das wurde ihr nachgesehen, solange es ihr gelang, die SPD kleinzuhalten. Dann kam der 4. September 2015. Die Kanzlerin öffnete die Grenzen für Geflüchtete, die auf der Autobahn gestrandet waren, und sprach die Selbstverständlichkeit aus, dass im Asylrecht der Begriff der Obergrenze nicht vorkommt. Sie durfte annehmen, dass sie auch hier nicht von der durch sie ausgerufenen marktkonformen Demokratie abwich, im Gegenteil: Migrant(inn)en sind nützlich nicht nur als Fachkräfte, sondern auch als Niedriglöhner, außerdem können sie – sowie ihre jetzigen und künftigen Kinder – den Alterungsprozess der Gesellschaft stoppen helfen. So äußerten sich ja auch der Bundesverband der Deutschen Industrie und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag. Dennoch begann mit diesem 4. September 2015 Merkels Abstieg. Nicht nur die sogenannten Mittelschichten (einschließlich der Stammbelegschaften in der Chemie- und Metallindustrie), sondern auch Arme, die selbst von Transferleistungen leben, begehrten auf. Dank Schröders und Merkels Wirtschafts- und Sozialpolitik hatte die Ungleichheit ständig zugenommen. Wenn nun Geflüchtete in die durch die Sparpolitik kurzgehaltenen Sozialsysteme eingegliedert würden, konnten sich die einheimischen Armen ausrechnen, dass ihr Anteil noch kleiner werden würde. Die Wahlerfolge der AfD brachen das Monopol der Union auf die rechte Mitte. Merkels späteres verdruckstes verbales Einlenken in der Flüchtlingsfrage, ja selbst ihr schmutziger Deal mit Erdoğan rehabilitieren sie nicht mehr beim gesunden Volksempfinden. Jetzt muss sie doch wieder kandidieren, weil die Union noch keinen Ersatz für sie hat. Ein Verzicht würde ihr den Makel der Parteiverderberin anhängen. Vielleicht meint sie noch eine neue Macht-Variante zu haben: Schwarz-Grün-Gelb. Nach manchen Umfragen reicht das: 51 Prozent. Mit der SPD wären es 55, aber für eine neue Große Koalition lässt sich schlecht Wahlkampf führen. Es würde der AfD helfen. Das Hin und Her bei der Findung eines Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten zeigt aber, dass es nicht gut für Schwarz-Grün-Gelb aussieht. Merkel hätte gern Kretschmann gehabt, doch Seehofer grätschte dazwischen. Die Bundestagswahl 2017 ist ihm Wurst, ihn interessiert nur seine bayerische Landtagswahl 2018. Wenn er sich in Berlin auf eine Koalition mit den Grünen einlässt, sieht er die Gefahr, dass Wähler(innen) vom rechten Rand der CSU zur AfD gehen. Angeblich hätte er Marianne Birthler toleriert, aber dieses Gerücht lässt sich weder bestätigen noch widerlegen. Dass Merkel noch mit dieser Grünen für eine Bundespräsidentschaftskandidatur im Gespräch war, ist erst herausgekommen, als sie ihre eigene neuerliche Bereitschaft zur Fortsetzung ihrer Kanzlerschaft im Falle eines CDU-Bundestagswahlsieges schon bekannt gegeben hatte. Man weiß nicht, wer die Nachricht geleakt hat und warum. Vielleicht sollte die Kanzlerin durch die Meldung über eine neuerliche personalpolitische Niederlage zusätzlich beschädigt werden. Denkbar ist allerdings auch, dass sie sich selbst in die Karten blicken ließ, um zu zeigen, dass sie eben doch zwei Optionen hat: entweder Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün-Gelb. Das Fingerhakeln geht weiter, denn die CSU hat sich noch nicht ganz auf Merkel festgelegt. Sie geht nur in eine Regierung, wenn die Kanzlerin vorher das O-Wort (Obergrenze) unverschnörkelt ausspricht. Angela Merkel sitzt auf dem Dach. Wenn Seehofer will, kann er ihr die Leiter wegziehen. Ein Debakel bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2017 könnte ihre Lage noch ungemütlicher werden lassen. There is no alternative – es gibt keine Alternative: Indem Angela Merkel sich dieses Credo Margaret Thatchers zu eigen machte, schien sie lange unschlagbar als Vollstreckerin eines Sachzwangs. Jetzt erlebt sie den Nachteil eines solchen Mangels an Phantasie. Eine Politik, die nur noch eine einzige Möglichkeit hat, wird irgendwann mattgesetzt. Deshalb versucht Merkel eine koalitionspolitische Alternative zu simulieren. In der Sozial- und Wirtschaftspolitik ist ihr (wie vorher schon Schröder) aber von Anfang an nur eine Orientierung eingefallen, die die Gesellschaft immer mehr spaltet. Insofern ist ihre Zustimmung zu Steinmeier, einem Architekten der Agenda 2010, schlüssig. Da die Linke nach wie vor schwach ist, sind zu schlechter Letzt aus der Polarisierung rechte Ressentiments entstanden, die sich nun auch gegen Merkel richten. Ihre Erklärung, sie wolle wieder kandidieren, klang müde; die beiden programmatischen Eckpunkte, die sie nannte – »sozialer Zusammenhalt«, »Werte« –, sind gemeinplätzig. Obama, ihr Propagandist, hat in den USA schon einmal Wahlkampf für eine Verliererin gemacht. Merkel tritt an wie ihr eigenes letztes Aufgebot. Diesem gesellen sich jetzt Anhänger(innen) aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu, die sie besonders schätzen. Das schwächt diese beiden Parteien und zugleich die Chancen für eine rot-rot-grüne Mehrheit 2017.
Erschienen in Ossietzky 24/2016 |
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