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Schwierigkeiten mit einem ‘linken Mosaik’?

Rezension

von Wilfried Gaum

Marcus Hawel/Stefan Kalmring (Hrsg.), Wie lernt das linke Mosaik?, 294 Seiten, Hamburg 2016

"Wer gehört zum linken Mosaik und wo sind seine Grenzen? An welchen Themen, mit welchen Strategien und welchen Taktiken arbeitet es? Wie genau funktioniert die Mosaik-Linke? (…) Werden darauf keine Antworten gefunden, bleibt die Mosaik-Idee… eine schön klingende Theorie, dann wird sie politisch beliebig oder bleibt aktionistisch und gesellschaftspolitisch folgenlos." (Ronald Höhner, in: Hawel/Kalmring: Wie lernt das linke Mosaik?, S. 275f.)


Buchcover

Der Gewerkschaftslinke der IG-Metall, Hans-Jürgen Urban, hatte 2009 das "linke Mosaik" als pluralen Sammelbegriff für eine handlungsfähige Linke in die Debatte eingeworfen und seinerzeit für ein paar Diskussionen gesorgt.[1] In den Folgejahren nahm sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung – insbesondere das Institut für Gesellschaftsanalyse (IfG) – dieser politisch-rhetorischen Metapher vom linken Mosaik an und versuchte diese innerhalb der pluralen Linken zu kolportieren, nachdem sie darin offenbar das Hegemoniekonzept Gramscis wie ein theoretisches Gravitationsfeld gepflanzt hatte.[2]

Das Konzept war im Grunde gescheitert, weil es nur innerhalb des Stiftungsumfeldes eine gewisse Wirkmacht entfalten konnte. Nun haben Marcus Hawel und Stefan Kalmring, die beide als Referenten in der Rosa-Luxemburg Stiftung für Bildungsfragen und politische Lernprozesse zuständig sind, einen Sammelband zur Frage "Wie lernt das linke Mosaik?" herausgegeben.

Der Titel lässt für einen Unkundigen vieles offen, erst auf den zweiten Blick gibt er zu erkennen, worin der Nutzen besteht und warum man sich mit dem Sammelband auseinandersetzen sollte. Einige der Beiträge entpuppen sich dann als eine anregende Intervention in eine linke Strategiedebatte.

Der Sammelband, der als Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung 13 Autoren umfasst, ist dreiteilig aufgebaut: Der Band beginnt kurioser Weise in der Einleitung mit einer Kritik des Mosaik-Begriffes. Die beiden Herausgeber legen einen theoretischen Zugang zum linken Mosaik und zeigen deutlich mehr Schwächen des Mosaik-Begriffs als Stärken auf; sie üben jedenfalls an der Mosaik-Metapher deutliche Kritik, ohne ihn aber zu verwerfen, so dass man sich durchaus fragt, warum sie dann einen derartigen Titel für den Sammelband gewählt haben. Das hat offenbar damit zu tun, dass innerhalb der RLS die Mosaiklinke zu einer kaum zu hintergehenden Sprachregelung geworden ist.

Mit dem was an einem Begriff vorliegt, versuchen die Herausgeber zu arbeiten. Im ersten Abschnitt "Entstehung des linken Mosaiks als Lernprozess" paraphrasieren sie das Werk von Michael Vester zur Entstehung des Proletariats als Lernprozess und versuchen, analog die Entstehung des linken Mosaiks als Lernprozess zu bearbeiten. Die Herausgeber kritisieren ferner das damit verbundene Hegemonie-Konzept Gramcis, das ihnen über weite Teile leninistisch, d.h. als ein zu autoritäres Konzept erscheint.

Im zweiten Teil des Bandes "Gegenbewegung ohne Autorität und Zentrum" werden von den Autoren allgemeine Überlegungen zur kollektiven Handlungsfähigkeit angestellt – den kritischen Überlegungen der Herausgeber zum linken Mosaik folgen in diesem Teil manche Autoren, andere nicht. So besteht ein merkwürdiges Spannungsverhältnis zwischen der profunden Kritik der beiden Herausgeber in der Einleitung und den gut 270 folgenden Seiten, auf denen eben das Mosaik kritisch oder affirmativ bearbeitet und von manchen Autoren auch gerettet werden soll. – Dieser Teil des Bandes ist mit "Suchbewegungen" überschrieben. Dennoch leiden einige Beiträge darunter, dass sie ihren einen Gegenstand bloß metatheoretisch bearbeiten, dessen Konturen also bei den einzelnen Autoren nicht immer scharf genug werden.

Im dritten Teil "Hybride Lernräume – Keimformen einer verändernden Praxis" werden soziale Bewegungen untersucht. Die Auswahl ist exemplarisch, aber erscheint nicht immer plausibel, und die Empirie kommt auf eine symptomatische Weise zu kurz, wenn lediglich mit SYRIZA in Griechenland und dem Arabischen Frühling in Ägypten auf Lernprozesse aus Niederlagen fokussiert wird. Darüber hinaus werden außer der Antiglobalisierungsbewegung und der Weltsozialforen aktuelle Bewegungen, die ja vielleicht schon als Mosaikbewegungen gelten könnten, nicht untersucht. Einzelne Beiträge des zweiten und dritten Teils sperren sich zudem den Fragestellungen, die die Herausgeber aufgeworfen haben.

Nun ist es bisher Herausgebern selten gelungen, einen komplett in sich konsistenten Sammelband zu bauen; es gibt immer bessere und lesenswertere Beiträge und welche, die es nicht sind. Es ist die Aufgabe des Rezensenten diesbezüglich für eine potentielle Leserschaft den Lotsen zu spielen.

Kritische Anfragen an eine Begrifflichkeit

Der Mitherausgeber des Sammelbandes, Marcus Hawel kommt zu einer explizit kritischen Sicht der Figur des linken Mosaiks. Er schreibt: "Im Zentrum steht immer der Begriff kollektiver Handlungsfähigkeit. Diese großkollektiven Subjektkonstruktionen wirken alle unempirisch, wie Kopfgeburten: unkonkret und hilflos, weil das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist und noch viele Fragen unbeantwortet sowie Schwierigkeiten nicht problematisiert sind." (S. 106)

Hawel und Kalmring fragen zu Recht nach der "elastischen, wenn nicht sogar dynamischen Verbindungsmasse, welche die einzelnen Steinchen miteinander zu einem gemeinsamen Ganzen zusammenfügen soll." (S. 9) Leider stimmen nicht einmal die Bilder: Mosaiken bestehen aus Glas, Ton oder Naturstein und können nicht dauerhaft durch dynamische Verbindungsmassen gehalten werden. Etwas anderes ist kein Mosaik. Aber sie zeigen damit eines der Probleme auf, die die Mosaik-Metapher mit sich bringt: da wird Hartes zusammengefügt und soll ein sinnvolles Bild ergeben.[3] Mithin etwas Voluntaristisches. Es bedarf dazu natürlich eines Baumeisters (S. 9) – Anmerkung: die IG Metall wird es sicher nicht sein. Hawel/Kalmring reden daher zu Recht von einem autoritär-objektivistischen Überhang. Konsequent ist ihre Kritik, dass sich der Mosaik-Diskurs "methodisch und begrifflich von möglichen Veränderungssubjekten" absondert, indem er "die Form bürgerlicher Wissenschaft übernimmt." (S. 11)

Aber dennoch meinen die Herausgeber, dass die Mosaik-Metapher ein "Platzhalter für eine Begrifflichkeit sein (kann), die noch zu finden ist." Denn sie lenke unsere Aufmerksamkeit erfolgreich auf die "Notwendigkeit einer Erforschung der konkreten Verwirklichungsbedingungen für die Reorganisation einer pluralen Linken." (S. 12) Sehe ich das richtig: wir müssen also die konkreten Bedingungen, unter denen sich eine plurale Linke verwirklichen bzw. neu organisieren kann, erst erforschen? Mit anderen Worten: wir wissen nichts über die Bedingungen, unter denen sich eine plurale Linke organisiert? Aber eine plurale Linke gibt es doch spätestens seit 1968 – wenn auch in unterschiedlichen Gewichtsanteilen von Autoritärem und Nichtautoritärem, Demokratischem und Antidemokratischem, Ökologischem und Industrialistischem? Das wiederum macht nicht nur den Mosaik-, sondern auch den Begriff "der Linken" so schwierig: warum sollten sich so viele Unvereinbarkeiten zu einem sinnvollen Bild zusammenfügen (lassen)?

Wozu soll die Mosaik-Metapher hilfreich sein, wenn sie lediglich Platzhalter im Unbestimmten sein kann? Dazu stellen die Autoren noch Anforderungen an das Mosaik: weder gewaltsame Vereinheitlichung noch postmoderne Verherrlichung von Fragmentierung, mit gelebter Demokratie "ohne oben und unten oder vorne und hinten", ein offenes Kunstwerk mit verschiedenen Aushandlungsprozessen untereinander und miteinander. Ist das alles nicht eine hoffnungslose Überforderung eines Schemens? Wäre es nicht angebracht, zunächst zu fragen, was das linke Mosaik ist (ob es überhaupt ist), bevor man danach fragt, wie es lernen könnte?

Gegen wen richtet sich die Kritik?

Leider wurde diese Skepsis in die Tragfähigkeit dieses Ansatzes nach Lektüre der beiden folgenden Aufsätze kaum geringer. Stefan Kalmring untersucht "Organisierungsprozesse auf des Messers Schneide" und postuliert im Untertitel "Die Ausbildung eines linken Mosaiks als strategisches Projekt pluraler Selbstermächtigung" (S. 16-39). Kalmring rechnet nochmals mit der alten Arbeiterbewegung ab ("Elitenzirkulation in sozialistischer Absicht", S. 19), setzt den pluralen Ansatz der globalisierungskritischen Bewegungen dagegen, kritisiert aber an diesen, dass sie die freiheitlicheren Strömungen der Arbeiterbewegung "unter den Tisch fallen" lassen.(S. 25) Das ist sicher richtig. Angesichts der in Deutschland notorisch unterentwickelten libertären Arbeiterbewegung wäre es wünschenswert gewesen zu erfahren, welche Lerneffekte Kalmring von einer Beschäftigung erwarten würde.

Im Folgenden versucht Kalmring Rahmenbedingungen zu definieren, die in Forderungen an aktuelle Organisierungsprojekte gipfeln. So sympathisch mir die Grundtendenz dieser Forderungen ist: demokratisch, plural, lernfähig und lernbereit sollen sie sein. Aber hier wie auch im Weiteren werden die wirklich Bewegungen weder behandelt noch analysiert. TTIP-Bewegung, Agrarwendebewegung, Attac, Sozialforumsbewegung, Anti-AKW-Bewegung, Antifa- und Antirassismusbewegung, Occupy, Menschenrechtsgruppierungen und nicht zuletzt die breite Szene der Flüchtlingshelfer – haben wir da nicht jede Menge Anschauungsmaterial für ein "Mosaik"? Müsste eine Analyse nicht an solchen Organisationen und Bewegungen ansetzen und konkret fragen, was sie alle verbindet und was sie trennt. Hier wäre doch das eigentliche Terrain dafür, ein Mosaik Wirklichkeit werden zu lassen und deshalb Vorschläge entwickeln, ob und wie sich diese Bewegungen aufeinander beziehen bzw. beziehen könnten? Stattdessen heißt es: "Eine zeitgemäße Strategie für das linke Feld kann nur in einer breit geführten Debatte gewonnen werden, die möglichst viele Akteure einschließt und sich nicht auf das politische 'Leadership' eines besonderen linken Teilakteurs konzentriert, das dann andere Akteure und die eigene Basis für die eigenen strategischen Überlegungen zu gewinnen versucht."

Marcus Hawel stellt im Folgenden "Überlegungen zu den Voraussetzungen kollektiver Handlungsfähigkeit und die katalytische Kraft der Spontaneität" an. Es sollen nach seiner Vorstellung "Freie Radikale und Organische Intellektuelle" im linken Mosaik wirken (S.40-61). Wenn ich es richtig verstehe, geht es Hawel darum, die von Gramsci entwickelte Figur des organischen Intellektuellen "aufzuheben". Aufheben heißt auch, zunächst diese Figur zu bewahren. Die "Kohärenzarbeit" des organischen Intellektuellen bestehe darin, so Hawel, dass er "die besondere Sprache der Akteursgruppen" spricht, "die ortsbezogene Geschichte kennt…die ihm inkorporiert ist und die ein Gravitationsfeld der Tradition mit magnetischer Schubkraft darstellt", "mit einem gewachsenen Sensorium aus Erfahrung, Wissen und Mentalität auf kontingente Ereignisse rekonstruierend" reagiert, "schnell mit der Lage vertraut ist" und sich "wie ein Fisch im Wasser" bewegt (S. 53). Diesen ideellen Gesamtleninisten will Hawel aufheben. Dazu sollen sich Landauer, Luxemburg und Gramsci an einen Tisch setzen (S. 55). Zumindest Landauer hätte das überfordert, er wäre mit diesen Parteiintellektuellen nicht klargekommen und hätte sicher auch nicht einen Gedanken daran verwendet, wie man einen organischen Intellektuellen durch Aufhebung retten könnte.

Aufhebung bedeutet dann aber auch: Qualitätsveränderung. Und so will Hawel zur Erhaltung der Beweglichkeit und Widerständigkeit des Mosaiks den "freien Radikalen" nutzen (S. 57). Dabei sei dieser instabil, aber auch sehr reaktionsfreudig und hemmungslos, neugierig und weltoffen, amoralisch und vorurteilsfrei, ungebunden, ungesättigt, lustvoll und phantasiereich, "mithin konstruktiv und destruktiv zugleich."(S. 57) Hawel behauptet, diese Spezies seien "in der politischen Sphäre imstande, an den Knotenpunkten auf langen Linien neue Wege einzuschlagen". "(…) wenn sich freie Radikale assoziieren, dann sprudeln die Funken; es wird warm und bunt im großen grauen Raum."(S. 59). "Sie sind im Gestaltwandel schneller als der Wind, nach dem sie sich bewegen, und reaktionsfreudiger als das Licht, das ihnen die Energie für ihre radikalen Reaktionsbildungen gibt." Ich gehe davon aus, dass es sich um reaktive Radikale aus der Physik handelt. Der Lebenszyklus solcher Radikalen liegt unter einer Sekunde. Da bleibt nicht viel Zeit fürs Sprudeln. Spaß beiseite: Wie spannend wäre es gewesen, sich die realen Bewegungen darauf anzusehen, ob "freie Radikale" vorfindbar waren oder sind und wie und was sie bewirkt haben. Wie "organische Intellektuelle" allerdings in der historischen Arbeiterbewegung funktioniert haben, davon haben wir eine unselige Anschauung und sattsam Erfahrungen gemacht.

Mein Fazit für diesen Auftakt: das Unbehagen der Autoren an den autoritären Verlaufsformen der Theorie- und Praxis der traditionellen Arbeiterbewegung und eines starken Flügels der sozialen Bewegungen der 1960er- bis 90er Jahre führt zur Formulierung von Anforderungen an Bewegungen und in ihnen arbeitende Individuen, deren Einordnung in ein "linkes Mosaik" nicht nachgewiesen und deren konkrete Praxis ganz überwiegend auch nicht untersucht wird. Die Autoren stellen sich nicht die Frage, inwieweit sich nicht schon plurale, demokratische und emanzipatorische Grundströmungen abbilden, die dieses schiefen Bildes von einem Mosaik eher nicht bedürfen. Die Aufsätze von Hanna Meißner[4], Rahel Sophia Süß[5] und Jan Schlemmermeyer[6] sehe ich ebenfalls in diesem Zusammenhang. Was eine bedeutsame Leistung eines linken Mosaiks sein könnte, dass formuliert Süß mit einem Zitat von Stuart Hall: "Und wenn Sie mich fragen, ob die Identitäten gleich bleiben, wenn sie in Netzwerken aufeinanderstoßen, so kann ich nur sagen, dass sie nie gleichgeblieben sind, und sie werden auch durch die Vernetzungen nicht gleich bleiben (…). Jedes Mal, wenn du jemand anderem begegnest, änderst du dich – das ist das, was ich das ‚unvermeidliche In-Beziehung-Treten mit dem Anderen‘ nenne."(S. 87) Aber sind das nicht nur Banalitäten?

Welche Lernprozesse werden gebraucht?

Mit seinem Beitrag "Vom Proletariat zum Mosaik" unternimmt Marcus Hawel einen Gang durch die Nachkriegsgeschichte der progressiven sozialen Bewegungen und die parallel laufende Theoriebildung. Seine Darstellung geht von der Niederlage des Faschismus bis zum linken Mosaik. Ob die Gewerkschaftsbewegung der Nachkriegszeit tatsächlich eine "blinde Macht" (Theo Pirker) war, "die die Erfahrung der Zerschlagung und von Auschwitz als systematische, moderne Barriere des geschichtlichen Fortschritts konstitutiv in sich aufnahm," (S.91) scheint mir eine nicht haltbare These. Denn zweifellos hat politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung ein bis dahin beispielloses Niveau konkreter Daseinsvorsorge für die subalternen Klassen erkämpft und nicht auf die Morgenröte des Sozialismus gewartet. Sie hatte auch wegen des Marxschen Bilderverbotes nie eine wirkliche Vorstellung davon.

Ich sehe darüber hinausgehende Lernprozesse in den großen Strömungen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung nicht. Wo sollte sich das in Organisation, Bildungsarbeit und Programmatik niedergeschlagen haben? Die Niederlage 1933 wurde beklagt, aber wurde sie über die Parole von der notwendigen Einheit hinaus auch verarbeitet? Wurden in der deutschen Arbeiterbewegung denn starke, libertäre Persönlichkeiten gefördert, wurde über Selbstverantwortung und Selbstorganisation usw. diskutiert, wie das Kellermann in seinem lesenswerten Aufsatz für den klassischen Anarchismus herausstellt (S. 179-195)? Denn solche Debatten hätten wirklich für einen Lernprozess gesprochen.

Stattdessen spricht einiges dafür, dass umstürzende Lernprozesse angesichts der individuellen Verstrickungen, dem Versagen der Organisationen über die individuelle mentale Kapitulation, vom aktiven Opponieren der Wenigen, über das Stillhalten der Meisten bis hin zum Mitmachen nicht Weniger in den Unterklassen blockiert war. Zudem müssen die Restriktionen durch die nicht gerade sozialismusaffinen westlichen Alliierten, die schnelle Restitution der alten Funktionseliten im Westen, stalinistische Besatzung und feindliche Übernahme der Arbeiterorganisationen im Osten als Verhinderungsfaktoren für große, freiheitliche Transformationsprojekte in einem ausgehungerten, zerstörten und geteilten Land realistisch zur Kenntnis genommen werden. Diese waren denn auch, der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung folgend, bestenfalls Parole, aber nicht konkrete Tat.

Ein brauchbarer Umgang mit dem Mosaiktheorem?

Den für die Fragestellungen nach einem Mosaik brauchbarsten und instruktivsten Ansätze habe ich in Michael Vesters Ausführungen zur "Pluralisierung und Konfliktlinien in der Klassengesellschaft" gefunden (S. 120-153). Vester nutzt die These vom Mosaik listig als Hinweis, "dass es auch im gegenwärtigen Kapitalismus keine naturgegebene Einheit und auch keine automatische Tendenz zur Vereinheitlichung sozialer Lagen, Bewusstseinsformen und Handlungsperspektiven gibt." (S. 120) Insoweit wäre das Mosaik kein Konzept, die bildhafte Beschreibung einer existenten sozialen Konfiguration.

Die Differenzierung in der gesellschaftlichen Gliederung findet nicht nur vertikal, sondern auch horizontal statt, die Einheitlichkeit der proletarischen Klasse war ein vulgärmaterialistischer Mythos, der bereits mit den Arbeiten von Bernstein Anfang des 20. Jahrhunderts empirisch und wissenschaftlich widerlegt war. Vester kennzeichnet die Differenzierung der subalternen Klassen als widersprüchlichen Prozess. "In allen Kämpfen der demokratischen sozialen Bewegungen ging es nicht zuletzt darum, Regeln oder Institutionen zur Austragung und Aushandlung dieser Differenzen zu finden bzw. weiter zu entwickeln, insbesondere Wahl- und Repräsentationsrechte, Koalitionsrechte, Kommunikations- und Pressefreiheit und Gleichstellungsrechte. Die Verständigung konnte nicht durch Vereinheitlichung, sondern nur durch Austragung der Unterschiede erreicht werden" (S. 121). Als einen dieser Lernprozesse skizziert Veser zudem: "(…) Der Weg in eine andere Gesellschaft konnte nur über die Erweiterung der bürgerlichen Demokratie, durch mehr Demokratie von unten, durch mehr gleichberechtigte Kooperation und durch die Versöhnung mit der Natur führen." (S. 121) Nach einer Darstellung der sozialen Veränderungen in der sozialwissenschaftlichen und politischen Debatte stellt er das Erkenntnisinteresse der sich auf die Arbeiten von Bourdieu stützenden Gruppe um Peter von Oertzen und ihn heraus: "Es ging uns vielmehr um die Frage, wie aus den Klassenverhältnissen die Akteurinnen einer Aufhebung dieser Klassenungleichheit hervorgehen könnten, als Bewegungen der Emanzipation, das heißt der mündigen, demokratischen Selbstbestimmung. Es ging nicht nur darum, ob es soziale Klassen gibt, sondern darum, was soziale Klassen tun."(S. 125)

Aus den historischen Erfahrungen der sozialen Bewegungen und ihrer Kämpfe leitet Vester vier Schlussfolgerungen ab, die die linke Debatte tatsächlich weiterführen könnten: "1. Die Bewegungen haben sich nicht durch homogene Merkmale sozialer Ausbeutung, sondern durch den aktiven Kampf gegen den gleichen sozialen Gegner zusammengefunden…Das Gemeinsame war, dass die gewohnten Lebensweisen, Arbeitsverhältnisse und Rechte aller dieser Gruppen von der autoritären Politik eines extremen Laissez-faire-Kapitalismus empfindlich in Frage gestellt wurden. Zum zweiten gibt der über 125 Jahre währende Kampf um den demokratischen Wohlfahrtsstaat ‘eine Vorstellung über die Schwierigkeit und lange Dauer sozialer Bewegungen und Umgestaltungen…‘"(S. 136). 3."Die Bewegungen waren nie eine Einheit, sondern immer eine politische und soziale Koalition. Bei entsprechenden Angeboten ihres Gegners…konnten sie auch wieder auseinanderfallen…4. (…) Bildungsarbeit, Aufklärung oder Information über Kommunikationsmedien war historisch nur dann wirkungsvoll, wenn sie mit den praktischen Erfahrungen verbunden war, die in den sozialen Konflikten und in den kommunikativen Milieuzusammenhängen gemacht wurden" (S. 137).

Vor diesem Hintergrund ist aktuell eine Analyse zu leisten, wie die verschiedenen Handlungsebenen der ökonomischen Arbeitsteilung, der alltagskulturellen Milieus und der politischen Konflikte, organisiert sind. Dann könnten der Verlauf der Konfliktlinien und mögliche Allianzen erkannt werden. Insoweit stellt Vester das Mosaiktheorem vom Kopf auf die Füße: "Der Mosaikbegriff hilft wesentlich weiter, um die Vielfalt der Gruppierungen, in die die Gesellschaft sich teilt, überhaupt erst als Tatsache anzuerkennen (S.148). Er lenkt die Aufmerksamkeit zu Recht auf die Kämpfe der benachteiligten Klassenfraktionen, die sich im gering qualifizierten Milieu, in den sozialen Dienstleistungen im Bildungs-, Verkehrs-, Medizin-, Sozial- und Kultursektor finden.

Darin könnte zukünftig tatsächlich der Nutzen einer Diskussion über ein linken Mosaik liegen.

Anmerkungen

[1] (Vgl. Hans-Jürgen Urban: Die Mosaik-Linke. Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 5, 2009, S. 71-78)

[2] (vgl. Mario Candeias/Eva Völpel: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland, Hamburg 2014)

[3]Hawel/Karting sehen das selbst: ein Mosaik, das einmal gesetzt ist, kann nicht mehr verändert werden, S. 12

[4] "Konstitutive Abhängigkeit, geteilte Verhinderungen und unhintergehbare Vielfalt", S. 64-76

[5] "Hegemonie und kollektive Handlungsfähigkeit in der Vielfalt gesellschaftlicher Widersprüche", S. 77-90

[6] "Komplexes Mosaik", S. 157-178; nur ein Beispiel für viele: "Stattdessen gilt es, auf strategischer Ebene eine differenzierte Form demokratischer Gestaltung mit gesamtgesellschaftlicher Veränderungsperspektive zu entwickeln. Auf analytischer Ebene wäre dafür eine im besten Sinne materialistische, das heißt postfundamentalistische bzw. postontologische, Konzeption gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse zu entfalten, die Komplexität als ein historisch-spezifisches Ergebnis sozialer Praxis mit eigener Dichte ernst nimmt – ohne diese entweder in Herrschaft und Manipulation auflösen zu müssen…." – Wie wäre es mit: hic rhodos hic salta?

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sopos 11/2016