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Seine neue »Flugschrift« blickt nochmals in die Abgründe deutscher Kontinuitäten anhand der – nur auf den ersten Blick – unterschiedlichen Europa-Perspektiven eines Wolfgang Schäuble und eines Jürgen Habermas: »Zwei Wege. Eine Katastrophe« (German News Information Services, 164 Seiten, 18,90 €). Der Titel enthält bereits Minows bedrückenden Schluss. Der Autor dokumentiert faktenreich, dass die heutige EU kein aus dem Ruder gelaufenes Friedensprojekt kriegsmüder Völker ist, sondern von Anfang an ein tradiertes Wirtschaftsprojekt jener auch deutschen Eliten, die nach 1945 unter US-Kuratel – im Kontext der Systemauseinandersetzung mit der UdSSR – weiterhin antikommunistisch und nun auch transatlantisch dachten. Diese bekamen die Chance, ihre Pläne zur europäischen Neuordnung aus der Vorkriegszeit wiederaufzunehmen, und so reaktivierten europabekannte Exponenten der deutschen »Gesamtrationalisierung« ihre grenzüberschreitenden Strukturen unter den Augen der westlichen Besatzungsmächte: aus US-Quellen gefördert zunächst vom Nachrichtendienst Office of Strategic Services (OSS), dann als Europa-Union Deutschland (Teil der Union Europäischer Föderalisten – UEF) bis hin zum Deutschen Rat der Europäischen Bewegung, der bald prominente Gestalt annahm und in dessen Milieu auch Wolfgang Schäuble politisch heranwuchs. Minow rekapituliert die Tiefen und Untiefen deutscher Großmachtkonzeptionen vom aggressiven »Mitteleuropa« des 2. Deutschen Reiches zur eher friedfertigen »Paneuropa«-Idee des Grafen Coudenhove-Kalergi, die in der Weimarer Zwischenkriegszeit einflussreiche Unterstützung fand: vom Reichsverband der Deutschen Industrie und der IG Farben bis zur Robert Bosch AG, vom Bankier Max Warburg bis zu Rudolf Hilferding (SPD), der einen »kapitalistischen Pazifismus« erhoffte. Ihr Slogan »Europa den Europäern«, in den 20er Jahren noch gegen die Sowjetunion und die USA gerichtet, zielte auf die Schaffung eines kontinentalen Wirtschaftsblocks, der seine Potentiale rationalisieren und sein »afrikanisches Kolonialreich« zusammenführen sollte, um seine inneren Widersprüche dann gegen weltweite Konkurrenten wenden zu können. Eine auch heute wieder aktualisierte Perspektive. Selbst ein wirtschaftlicher Machtstratege wie Alfred Hugenberg, Verfechter jener »Gesamtrationalisierung in Wirtschaft, Siedlung und Volksleben«, die bald unter Hitler das alte »Mitteleuropa«-Konzept reaktivieren sollte (siehe »Generalplan Ost«), fand noch Schnittstellen mit diesem Paneuropa. Aber jene »vernunftgestützte Vision einer unifizierten Wirtschaftsmoderne unter deutscher Herrschaft« zerbrach zunächst an ihren »strukturellen Verbrechenspotentialen« auf dem »kriminellen Weg nach Auschwitz und Stalingrad«, wie es Minow auf den Punkt bringt. (Immerhin verursachte der »Generalplan Ost« mit seiner zur Durchsetzung erforderlichen Barbarei allein in Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion mehr als 30 Millionen Tote.) Doch noch währenddessen beschäftigten sich deutsche Experten mit Nachkriegsplänen für eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die »ihre Kraft aus dem industriellen Reichtum Deutschlands schöpfen und den Nachbarnationen eine Zukunft als Zulieferer und Konsumenten sichern« sollte, unter dem »Diktat einer deutschen Leitwährung mit festen Wechselkursen«. Seit 1942 arbeiteten Vorstände der Deutschen Bank daran (unter anderem Heinrich Hunke und Bernhard Benning). Benning begleitete später die EWG (bis 1972 im Direktorium der Deutschen Bundesbank) und gilt als einer der »finanzpolitischen Vorväter der EG«. »Armut und Elend in weiten Teilen des Kontinents« waren schon damals mitgedacht, so »in den Subsistenzgebieten Süd- und Südosteuropas«. Als sich die dort inzwischen eingetretene Verelendung in den letzten Jahren verschärfte, trat das Streben der deutschen Regierung nach der »Hegemonie in Europa« deutlicher zutage. Anlässlich der Griechenland-Krise 2015 hatte Jürgen Habermas in einem Interview mit der Zeitung The Guardian Wolfgang Schäuble eben das als »schamloses« Verhalten vorgeworfen, das »einem solidarischen Zusammenhalt Europas« schade. Dem stellte er ein nach dem Zweiten Weltkrieg seiner Ansicht nach »angehäuftes Kapital des besseren Deutschland« entgegen, damit auf eine Bundesrepublik abhebend, die »von größerer politischer Sensibilität und einer post-nationalen Mentalität geprägt« sei. Habermas hält daher einen »politischen Richtungswechsel« für dringend notwendig, für den »demokratische Mehrheiten in einem stark integrierten ›Kerneuropa‹« eintreten sollen. Doch der Begriff »Kerneuropa« lässt Minow aufhorchen, denn der ist politisch unmissverständlich besetzt und konnotiert bei Schäuble auch das diktatorische Handeln scheinbar supranationaler Institutionen – von dieser Inkongruenz geht die Analyse der beiden Konzeptionen aus. Minow beschreibt die Vielschichtigkeit des deutschen europapolitischen Milieus (von den karolingisch-katholischen Fraktionen – den Aachener Karlspreis erhielt als erster 1950 Graf Coudenhove-Kalergi, Schäuble dann 2012 – über »Raum«-Fanatiker planerischer Fortschritts-Rationalität bis zu bedenkenlosen Profiteuren der »Gesamtrationalisierung« im kontinentalen oder globalen Maßstab) und sieht gerade darin sowie in dessen Zielfokussierung das eigentliche Kontinuum deutscher »Großraum«- und Europapolitik, das nur »auf den passenden geschichtlichen Augenblick«warten musste. Der kam mit der deutschen Einheit. Für Wolfgang Schäuble, der sich bereits seit 1979 als Präsident der Arbeitsgemeinschaft Europäischer Grenzregionen (AGEG) mit einer eigenen Charta zum »Regionalismus« hervorgetan hatte, war 1994 »der Osten als Aktionsraum für die deutsche Außenpolitik zurückgekehrt«. Für den Westen konzipierte er die »Kerneuropa-Gruppe« der EU, mit Deutschland – und Frankreich als Zugeständnis – im Zentrum, dahinter die Benelux-Staaten, und – sofern sie sich »materiell und mental anpassen« könnten – auch weitere Staaten wie Italien, Spanien, Großbritannien. Seine lange diesbezügliche Erfahrung hat ihn zur Favorisierung grenzbereinigender Perspektiven geführt: zur »Integration des Großraums Europa« um einen deutschen »Kern«, das heißt mit wirtschaftlicher Begünstigung des deutschen Staatsgebietes. Da zeigen sich nicht nur Übereinstimmungen mit den raumplanerischen Konzepten der 1920er Jahre, sondern auch mit den wirtschafts- und militärpolitischen Paneuropas: »Neuorientierung in den transatlantischen Beziehungen« heißt das in Schäubles Papier von 1994 und meint auch die Schaffung einer eigenen »gemeinsamen europäischen Verteidigung« außerhalb der NATO. An dieser Stelle ergeben sich aufschlussreiche Parallelen zu Habermas, der sich selbst oft als »ein Produkt der reeducation« bezeichnet hat und dennoch seine Perspektiven für Europa in deutlicher Abgrenzung zu den USA entwickelt. Für ihn ist die europäische Vorbildfunktion ein inhärentes Potential, das sich entfalten könne, sobald die »Unfähigkeit der Europäer, nach außen geschlossen aufzutreten«, überwunden werde. Zur »Wiedergeburt Europas« als global player brauche man in Zukunft auch »eigene Streitkräfte«. Das erinnert an Paneuropa und macht es also möglich, dass ein »Pazifist«, als der Habermas sich sieht, ein mit der Vorstellung des Machtpolitikers Schäuble verwandtes Europa entwerfen kann: Transformation der bestehenden europäischen Staatenwelt in eine »postnationale Konstellation« (Habermas) durch »Verlagerung von Souveränitätsrechten auf die europäische Ebene« (Schäuble) – bereits in der heutigen EU, kontinentale Rationalisierungsschübe wirtschaftlicher wie kultureller Art inbegriffen, die die von Habermas idealisierte »Bürgergesellschaft« allerdings rechtlos machen. Minow führt als Beispiel den kaum überbrückbaren Konflikt zwischen den nationalen und europäischen Auffassungen in Grundrechtsfragen an und nennt das, was Habermas als »Prozesse schöpferischer Zerstörung« beschönigt, eine »supranationale Flurbereinigung der äußeren und inneren Welt«, die bereits heute »Lebensentwürfe und Existenzbedingungen in einer solchen Geschwindigkeit zerbricht, dass das äußere Chaos auch zum inneren wird und die Ängste katastrophisch entgleiten lassen kann«. Ein weites Feld! Abschließend sei nur noch zitiert, dass die Habermas‘schen Behauptungen über »das Bewusstsein eines gemeinsamen politischen Schicksals« oder die »sichere Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien« die wirkliche Katastrophe europäisch überhöhen. Die eben darin begründet liegt, wie Minow festhält, dass die »radikal-industrielle Vernunft« unbehandelt blieb und bleibt, ebenso wie die europäische »Gesamtrationalisierung als ambivalentes Barbarisierungsgeschehen« unfassbar und die Dialektik der europäischen Einigungsbewegung verborgen. Denn die abstrakte Bewältigung der Vergangenheit ist nie ins tiefere Geflecht der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zurichtungen durch den Faschismus eingedrungen, und so können aus diesen »dunklen Bezirken« faschistische Elemente der sogenannten Moderne in unsere gesellschaftliche Gegenwart zurückkehren. »Zur Eindämmung Deutschlands in der Nachkriegszeit entworfen, dann von Deutschland zum Medium seines Wiederaufstiegs gemacht, kehrt in diesem Europa das Vergangene wieder.«
Erschienen in Ossietzky 13/2016 |
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