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Buchkritik: Europa am Abgrund

Schuldenkrise und Widerspruch in der europäischen Peripherie

von Bettina Müller

Tony Phillips, Europe on the brink, debt crisis and dissent in the European periphery, ZED Books 2014, 272 pages, ISBN: 9781783602131

Sparmaßnahmen, Troika, PIIGS...täglich finden sich in den Nachrichten neue Berichte über die Eurokrise, die inzwischen in ihrem siebten Jahr ist und eigentlich schon längst hätte überwunden sein sollen. Unnötig zu erwähnen, dass das bisherige Krisenmanagement, angeführt von der europäischen Zentralbank, der EU-Kommission und dem Internationalem Währungsfond (auch bekannt als Troika) nicht die gewünschten Resultate erbracht hat. Um genau zu sein, es hat die Lage noch verschlimmert. Dies wird sich auch nicht ändern, solange die Struktur der europäischen Union nicht demokratischer gestaltet, die Interessen und das Wohl der einfachen Bürger*innen nicht über die privater Unternehmen und Banken gestellt sowie die Finanzmärkte nicht stärker reguliert werden. Zu dieser Erkenntnis kommen acht Expert*innen aus Wirtschaft und Gesellschaft (einer von ihnen Nobelpreisträger Joseph Stiglitz), die der irische Ökonom Tony Phillips in seinem Buch Europe on the brink, debt crisis and dissent in the European periphery (etwa: Europa am Abgrund-Schuldenkrise und Widerspruch in der europäischen Peripherie) zu Wort kommen lässt, das 2014 im Verlag Zed Books of London erschienen ist.

Phillips selbst geht im ersten Kapitel des Buches den Ursachen der Eurokrise auf den Grund und beschreibt anschaulich die komplexen Zusammenhänge, die zum Zusammenbruch der Finanzmärkte 2008 und der daraus folgenden Schuldenkrise geführt haben. Ein wichtiger Teil des Buches ist dem europäischen Süden gewidmet, der am meisten unter der Krise leidet. Anhand der Beispiele Portugal und Griechenland zeigen Expertinnen, in welch massive Zwangslage die Länder u.a. durch das fehlgeleitete Krisenmanagement gebracht wurden, wobei sie ein völlig anderes Bild der Krise, ihrer Ursachen, Urheber und Konsequenzen zeichnen als jenes, das in den meisten Medien übertragen wird. So belegt Mariana Mortágua, Ökonomin und Abgeordnete des linken Blocks im portugiesischen Nationalparlament, dass die Probleme Portugals nicht etwa in seiner niedrigen Produktivität, den zu hohen Einkommen und Sozialstandards oder in einem ineffizienten und aufgeblähten Bürokratieapparat liegen. Vielmehr ist es die Struktur der europäischen Union (und vor allem des Euroraumes), die die ökonomisch starken, hoch industrialisierten Länder wie Deutschland und Frankreich bevorteilt, während u.a. Portugal auf seine Rolle als Produzent von Primärrohstoffen und Produkten mit einem geringen Mehrwert zurückgeworfen wird. Dies führt nicht nur zu einer negativen Außenhandelsbilanz, sondern auch zu einem steten Wachstum an Schulden, die aufgenommen werden, um die notwendigen Importe zu finanzieren. Dennoch lag die Staatsverschuldung (BIP/Schulden) Portugals bis 2006 bei nicht einmal 70%, und damit unter dem europäischen Durchschnitt. Erst durch die Verstaatlichung der privaten Schulden als Folge der Bankenkrise 2008/2009 wuchsen Portugals Schulden massiv an. Gleiches gilt für den Fall Griechenland, der von der Ökonomin Christina Laskaridis im vierten Kapitel vorgestellt wird.

Mit jeder gelesenen Seite von Europe on the brink wird dabei eines deutlicher: die Handhabung der Krise ist ein undemokratischer, unsozialer, wirtschaftlich desaströser Prozess, der von nicht legtimierten Technokraten der Troika auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wird, um zu verhindern, dass die Krise auch die Länder des europäischen Zentrums und der USA erfasst. Neoliberale Anpassungs- und drastische Sparmaßnahmen kommen erneut zum Einsatz, obgleich sie bereits in vielen Ländern der Welt Leid und Zerstörung angerichtet haben, wie Roberto Lavagna, ehemaliger Wirtschaftsminister Argentiniens im fünften Kapitel anhand seines Landes exemplarisch beschreibt. Dabei gäbe es Alternativen und Möglichkeiten im Umgang mit den Schulden und der Wirtschaftskrise, auch diese werden von Lavagna und in der abschließenden Schlussfolgerung von Tony Phillips aufgeführt.

Mit großer Expertise, Fakten orientiert und gut verständlich zeichnet Europe on the brink ein erschreckendes Bild von einer Europäischen Union, in der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand zusehends zu Fremdworten werden, während Autoritarismus, Korruption und sozialer Abstieg immer mehr zum Alltag gehören. Ein Buch, das die Augen öffnet und Pflichtlektüre für all jene sein sollte, die den eingeschlagenen Weg zur Bewältigung der Eurokrise nach wie vor verteidigen und dem neoliberalen Dogma, es gäbe keine Alternativen, Glauben schenken- denn dass dem nicht so ist, belegt Europe on the brink eindeutig.

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sopos 5/2015