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Mittlerweile nähern wir uns dem Glanzpunkt des Spektakels, an dem vom 7. bis 9. November, dem 25. Jahrestag des Mauerfalls, in der Bundeshauptstadt 8.000 leuchtende Ballons aus Naturkautschuk den Verlauf der gemauerten Grenze markieren, um schließlich mit ihrem Emporschweben vom Beginn des Untergangs des Unrechtsstaates im Osten des Vaterlandes zu künden. Es wird ein unvergeßliches Erlebnis werden, und der Ruf des damaligen Westberliner Oberbürgermeisters Walter Momper »Berlin, nun freue Dich!« wird zehntausendfach befolgt werden. Unter den Jubelnden wird sich auch eine Dame ostdeutscher Provenienz befinden, die ein Jahr zuvor als »Vertretungslehrerin« in einem Ostberliner Gymnasium vor 25 Zwölftkläßlern des Leistungskurses Geschichte über die »Unfreiheit in der Sowjetischen Besatzungszone« sprach. Sie handelte eingedenk der in einer Studie ermittelten Erkenntnis, daß die Schüler in Bayern dank ihrer Lehrer besser über die DDR informiert sind als ihre Altersgenossen östlich von Elbe und Werra, und in der die Forderung erhoben wurde, die Wissensvermittlung nicht den ostdeutschen Eltern zu überlassen. Und die Vertretungslehrerin wurde ihrer Aufgabe bravourös gerecht. Geschickt lenkte sie die Schüler zu der Aussage, daß die Mauer in der »Sowjetischen Besatzungszone« errichtet wurde, »da fast drei Millionen Menschen in den Fünfzigern und auch schon vorher geflohen sind«. Aus eigenem Erleben berichtete sie: »Wenn man sich in der DDR geistig frei äußern wollte, seine Meinung sagen wollte, war es immer ein Ritt auf der Rasierklinge … Man konnte sich auch mit den Kollegen unterhalten, aber wie man hinterher gesehen hat, hatte man in jeder Arbeitsgruppe mindestens einen Stasi-Spitzel, der alles aufgeschrieben hat – also mit wem man Mittagessen geht, wo man abends hingeht oder ob man irgendwelche Kirchenkontakte hat.« Ja, es war schrecklich in der DDR! Ersatzlehrerin Angela Merkel mußte es wissen, schließlich war sie in der »Zone« an der wahrlich nicht unbedeutenden Akademie der Wissenschaften FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda gewesen. Und gut vorbereitet auf den Unterricht war sie auch, schließlich hatte die von ihr geleitete Regierung am Vortag eine Erklärung unter dem Titel »Berliner Mauer. Ein unmenschliches Bauwerk« verabschiedet, in dem »die Sehnsucht nach Freiheit« der Ostdeutschen beschworen wurde. Zum bevorstehenden Großjubiläum werden das »unmenschliche Bauwerk«, das Leid und das Freiheitsstreben der Menschen wiederum wochenlang im medialen Scheinwerferlicht stehen. Vorangegangene Jubiläumsbeiträge, Reden, Fotos, Filme werden im erneuten Aufguß das Volk erfreuen. Allerdings werden auch dieses Mal ein paar Kleinigkeiten unter den Tisch fallen: So die nebensächliche Tatsache, daß der Westen unter Bruch des Potsdamer Abkommens Deutschland in zwei ungleiche Teile zerhackte und Westdeutschland bei allen Spaltungsschritten voranging, unter anderem bei der Einführung einer separaten Währung, der Staatsgründung und beim Eintritt in einen Militärpakt. Weil unbedeutend, wird auch die sogenannte Stalinnote vom 10. März 1952 weggeschwiegen, mit der sich Moskau de facto bereit erklärte, die junge DDR gegen einen nichtpaktgebundenen deutschen Gesamtstaat einzutauschen. Stalins Kernforderung war, daß ein wiedervereintes Deutschland keinem gegen einen Staat der Antihitlerkoalition gerichteten Militärbündnis beitreten dürfte. Der Westen lehnte dieses Angebot ab, er teilte die Haltung des bundesdeutschen Kanzlers Adenauer, wonach »die Integration Westdeutschlands in den Westen wichtiger [ist] als die Wiedervereinigung Deutschlands«. So wurden, und wen interessiert das heute noch, aus den ehemaligen Zonengrenzen nicht nur zwischenstaatliche, sondern auch Grenzen zwischen einander feindlich gegenüberstehenden Militärpakten, die allerdings bis zum August 1961 wenig gesichert waren. Völlig uninteressant ist auch das historische Faktum, daß die Abriegelung der Grenze auf einer Beratung der Parteiführer der Warschauer Vertragsstaaten beschlossen und unter dem militärischen Schutz des Oberbefehlshabers der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, Marschall Konew, erfolgte. Noch uninteressanter ist es schließlich, daß die Grenze auf Entscheidung Chruschtschows in Berlin mit einer Mauer befestigt wurde. Viel einprägsamer ist es doch, Ulbricht mit dem bis zum Erbrechen wiederholten Zitat »Niemand hat die Absicht …« als üblen Lügner hinzustellen. Wozu sollte man auch daran erinnern, daß die offene Grenze in Berlin der DDR schwersten ökonomischen Schaden zufügte? Letztendlich handelt es sich doch nur um Bagatellen, wenn Währungsspekulanten fette Gewinne machten, Grenzgänger im Westen arbeiteten und im Osten soziale Vorteile nutzten, rare technische Konsumgüter und subventionierte Lebensmittel in der DDR von Westberliner Bürgern sowie Großhändlern aufgekauft wurden und eine Vielzahl von Spionage- und Sabotagezentren in Westberlin, laut dem damaligen Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter die »billigste Atombombe«, ideale Bedingungen für ihre Untergrundarbeit hatten. Angesichts solcher Lappalien ist es einfacher, sich auf den tatsächlich anschwellenden Strom der Menschen zu beschränken, die 1960/61 über die offene Grenze zu Westberlin in die Bundesrepublik »flüchteten«. Die meisten Ost-West-Auswanderer, darunter viele Facharbeiter und mit hohen Kosten ausgebildete, zu einem beträchtlichem Teil auch abgeworbene Ingenieure, Wissenschaftler, Ärzte, zog es in das bundesdeutsche »Wirtschaftswunderland«, das dank Marshallplan, minimalen Reparationsleistungen und starken Wirtschaftspartnern über weitaus bessere ökonomische Bedingungen verfügte. Doch für die westwärts ziehenden DDR-Bürger war, so wird suggeriert, nicht der relativ hohe Lebensstandard der ausschlaggebende Fluchtgrund. In ihrer übergroßen Mehrheit verließen sie angeblich den »Unrechtsstaat«, um endlich »ihre Sehnsucht nach Freiheit« stillen zu können. Bedauerlicherweise ist schwer zu erklären, weshalb nach 1990, als die Freiheit und Demokratie über die Ostdeutschen gekommen waren, zwei Millionen von ihnen in Richtung Westen abwanderten. Eine Tatsache ist es allerdings, daß eine Fortdauer der Massenabwanderung die Existenz der DDR ernsthaft gefährdet hätte. 1961, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, hätte die Weltkriegssieger- und Großmacht Sowjetunion einer solchen Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses nicht tatenlos zugesehen. Im Sommer drohte der von Nuklearraketen geprägten Welt ein militärischer Konflikt mit unabsehbaren Konsequenzen. Mit der Abrieglung der Grenze wurde diese verhängnisvolle Entwicklung gestoppt; in der DDR und in ganz Europa begann eine Periode der allgemeinen Stabilisierung und allmählich auch des politischen Dialoges zwischen Ost und West. Sei es wie es sei, mit den seit 25 Jahren bewährten Mitteln der sachlichen und objektiven Information wird es gelingen, die »Sehnsucht nach Freiheit« als das entscheidende Motiv der Abwanderung in westliche Richtung darzustellen. Allein schon ein unzählige Male gezeigtes beeindruckendes Foto genügt, um das zu beweisen. Es zeigt den 19jährigen DDR-Grenzsoldaten Hans Conrad Schumann, der, seine Waffe wegwerfend, am dritten Tag nach der Grenzsicherung in der Bernauer Straße über eine 80 Zentimeter hohe Stacheldrahtrolle auf das Westberliner Territorium und in ein auf ihn wartendes Polizeiauto sprang, um so zu einem »Helden der freien Welt« zu werden. Unerwähnt bleibt in der Regel, daß seine Eltern und Geschwister sowie seine Armeekameraden ihm die Flucht nie verziehen haben. Obwohl bundesdeutscher Arbeitnehmer geworden und verheiratet, litt er lange Zeit an Schlaflosigkeit und Depressionen. Am 20. Juni 1998 erhängte er sich in Oberemmendorf in Oberbayern in einem Gartenschuppen. Daß Bundespräsident Gauck anläßlich des 25. Mauerfalljubiläums beabsichtigt, am Grab Schumanns, des »Helden der Freiheit«, ein Blumengebinde niederzulegen, ist ein Gerücht. Er wird wohl eine Festrede halten, darin die Freiheit preisen und all das weglassen, an das zu erinnern nicht lohnt.
Erschienen in Ossietzky 21/2014 |
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