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Success-Story ohne Demokratie[1]

Zur Etablierung des postdemokratischen Maßnahmestaats in Griechenland

von Gregor Kritidis (sopos)

In kaum einem Land der EU ist es im Zuge der Weltwirtschaftskrise zu derart starken sozialen und politischen Verwerfungen gekommen wie in Griechenland. Wurde vom vorherrschenden ökonomischen Mainstream zunächst die These vertreten, dass es sich bei der griechischen Staatsschuldenkrise um einen Einzelfall handele, sah man sich bald gezwungen, diese Einzelfall- in eine Sonderfallthese umzuwandeln. Ursache der griechischen Misere sei demnach eine Mischung aus südeuropäischem Schlendrian und balkanischer Vetternwirtschaft, eine spezifische historische Rückständigkeit des Landes. Diese vorherrschende Deutung steht jedoch insofern auf wackeligen Füßen, als der Anstieg der staatlichen Neuverschuldung infolge der Bankenrettungs-Programme keinesfalls eine griechische Besonderheit war, wie überhaupt das Epizentrum der Weltwirtschaftskrise in den USA und nicht in Griechenland lag.[2] Spitzenreiter beim Anstieg der Neuverschuldung war auch nicht Griechenland, dessen Bankensektor vergleichsweise "unterentwickelt" ist, sondern Irland, das als "Keltischer Tiger" lange Zeit als neoliberaler Musterschüler galt und sich auch bei der Umsetzung der Krisenpolitik der EU des Beifalls des neoliberalen Mainstreams sicher sein konnte. Das Besondere an Griechenland war und ist, dass die sozialen und politischen Eliten aus eigenem Antrieb zur Umsetzung des Austeritätsprogramms auf die Hilfe der EU und des IWF zurückgriffen. Historisch ist dieses Vorgehen keinesfalls einzigartig, die griechischen Eliten haben sich bei schwerwiegenden innenpolitischen Krisen stets der Unterstützung ausländischer Mächte rückversichert.[3]

Seit dem Abschluß der Kreditverträge vom Mai 2010 zwischen den Staaten der Eurozone sowie dem IWF einerseits und der Republik Griechenland andererseits steht das Land unter Kuratel. Die gesellschaftliche Gestaltung mittels des Staates ist mit diesen Verträgen quasi suspendiert worden. Seit 2010 bestimmen die Vertreter der Gläubiger die politische Agenda, und zwar in umfassender Weise. So wurde nicht nur das Budgetrecht des Parlaments vollkommen ausgehebelt, mit den Maßnahmen wurde eine Transformation der gesamten Gesellschaft nach neoliberalen Vorstellungen ins Werk gesetzt. Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht durch die Vorgaben der Gläubiger betroffen wäre. Besonders dramatisch sind die Eingriffe ins Tarif- und Arbeitsrecht, wobei das ausdrückliche Ziel die Senkung von Löhnen und Gehältern auch im privaten Sektor ist. Durch die Verträge und die mit ihnen verbundenen Memoranda wird der griechischen Regierung genau vorgeschrieben, welche Maßnahmen in welchem Zeitraum zu vollziehen sind. Zur Überwachung dieser Vorgaben ist eine eigene Institution geschaffen worden, die Troika, bestehend aus Vertretern des IWF, der EZB sowie der EU-Kommission. Deren Legitimation ist ebenso zweifelhaft wie die der Task-Force, die nach offizieller Lesart im Auftrag der EU-Kommission der griechischen Regierung bei der Umsetzung der Reformen beratend zur Seite steht.
Durch die Kreditverträge ist ganz Griechenland mitsamt allen mobilen und immobilen Sachwerten praktisch verpfändet. Es gibt auch keine Möglichkeit, die Verträge nachträglich zu modifizieren oder juristisch anzufechten. Sie unterliegen auch nicht etwa EU-Recht, wie man annehmen sollte. Ihre Grundlage ist vielmehr das britische Recht, in dem die Position des Gläubigers besonders stark ausgestaltet ist. Der Staatsrechtler Giorgos Kassimatis spricht in diesem Zusammenhang von einer "Aufhebung der Verfassung" sowie einer "Abtretung von Souveränitätsrechten" und hat darüber hinaus eine Reihe von Verstößen gegen das EU- und Völkerrecht ausgemacht.[4]

Die griechische Variante der Postdemokratie

Der von Colin Crouch popularisierte Begriff der Postdemokratie bezeichnet einen Zustand der parlamentarischen Demokratie, bei dem zwar die Institutionen noch den überkommenen formalen Regeln folgen, eine soziale und politische Partizipation der breiten Bevölkerung jedoch nicht oder nur noch in geringem Maße stattfindet. Die mit dem Allgemeinwohl identifizierten Interessen der sozialen und politischen Eliten werden allgemein als maßgeblich anerkannt und als ebenso alternativlos wie notwendig exekutiert.[5] Mediale Diskurse dienen nicht der politischen Meinungs- und Willensbildung, sondern sind ein mehr oder minder bewußt inszeniertes Spektakel. Dieser theoretische Ansatz knüpft mehr implizit als explizit an die ältere sozialistische Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre an, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in England von Harold Laski und in Deutschland von Wolfgang Abendroth entwickelt wurde. In einer Gesellschaft mit antagonistischer Sozialstruktur beruht demnach die politische Demokratie auf dem Kräftegleichgewicht der antagonistischen Klassen. Gerät dieses aufgrund der inneren Dynamik der kapitalistischen Ökonomie in der Krise in eine Schieflage, steht die soziale Integration und politische Teilhabe der subalternen Klasse an der Selbstverwaltung der Gesellschaft zur Disposition.[6]

In Griechenland gibt es eine lange Tradition autoritärer Krisenlösungen. Die demokratische Ordnung, wie sie in Griechenland nach 1974 entwickelt worden ist, war in ihrer sozialen Ausgestaltung begrenzt und in ihrer Rechtstaatlichkeit brüchig. Seit Beginn der 1990er Jahre ist der nach 1974 gefundene Klassenkompromiss der "Metapolitevsi" zunehmend unter Druck gekommen. Die ohnehin schwach ausgeprägte Sozial- und Rechtsstaatlichkeit ist durch die Politik der Troika seit 2010 weitgehend suspendiert worden. Da sich die Durchsetzung der Austeritätspolitik explizit gegen die wirtschaftlichen Interessen der Mittel- und Unterschichten und damit gegen ihre soziale Integration richtet, macht sie folglich eine Aufhebung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten notwendig bzw. setzt sie zu ihrer Durchsetzung geradezu voraus. Die Austeritätspolitik der Troika geht daher mit einer Aushöhlung der demokratischen Institutionen, einer dramatischen Erosion der Basis der bisherigen Organisationsformen sowie einer Zerstörung der demokratischen Kultur einher.

Schock-Therapie zur "inneren Abwertung"

Die drastische Senkung der Masseneinkommen, die sogenannte "innere Abwertung" ist das ausdrückliche Ziel der Politik der Troika, hinter dem andere Ziele wie die Reform der öffentlichen Verwaltung oder des Steuersystems deutlich zurückstehen. Das liegt in der Logik des Bündnisses zwischen den Gläubigern und ihren Vertretern einerseits und der griechischen Oberschicht sowie ihrer politischen Repräsentanten andererseits begründet. Keine griechische Regierung hat ein Interesse, die eigene Machtbasis ernsthaft zu gefährden. Folglich können keine Reformen umgesetzt werden, die zentrale Interessen der griechischen Oberschicht berühren. Exemplarisch dafür ist die Reform des Steuerwesens, die – sollte sie jemals ernsthaft in Angriff genommen werden – die de jure und de fakto bestehende Steuerfreiheit der Oberschicht und der oberen Mittelschicht beseitigen müßte. Das Schicksal der verschiedenen Listen mit mutmaßlichen Steuerhinterziehern von der Liste Lagarde bis zur Liste Oswald ist dafür exemplarisch.[7] Das Reform-Programm der Troika richtet sich vor allem gegen die breite Masse der Bevölkerung, die freilich schon in der Vergangenheit die Leidtragende von Korruption und Vetternwirtschaft gewesen ist. Die Verhandlungen zwischen der griechischen Regierung und der Troika haben überwiegend steuer-, arbeits-, sozial-, oder tarifrechtliche Fragen zum Gegenstand. Das bedeutet, dass die traditionellen Formen der politischen Herrschaft, insbesondere der ausgeprägte Klientelismus, nicht beseitigt sondern im Gegenteil noch verfestigt werden.[8] Mit zunehmender Verarmung nimmt die soziale Abhängigkeit der um das Überleben kämpfenden Bevölkerung zu, sodass Formen der Vorteilsgewährung und –nahme einen besonders guten Nährboden finden.

Wirtschaftliche und soziale Folgen der Austeritäts-Politik

Die Politik der Troika hat sich sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht desaströs ausgewirkt. Durch die Politik der Ausgabenkürzungen und Lohnsenkungen schrumpft die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, dadurch wird die wirtschaftliche Abwärtsbewegung verstetigt, die Steuereinnahmen sinken trotz massiver Steuererhöhungen und der Schuldenberg steigt sowohl in absoluten Zahlen als auch relativ zum BIP. Die griechische Ökonomie befindet sich in einer deflationären Abwärtsspirale, allen Behauptungen der griechischen Regierung über eine "Success-Story" zum trotz. Der vom Wirtschaftsminister hochgelobte Primärüberschuss im Haushalt – das Ergebnis des Staatshaushaltes vor dem Schuldendienst – ist einerseits das Resultat exorbitanter Steuererhöhungen, andererseits das Resultat zahlreicher unbezahlter Rechnungen.[9] Tatsächlich hat es außerhalb von Kriegszeiten eine derartige wirtschaftliche Zerstörung in einem ökonomisch fortgeschrittenen Land noch nie gegeben. Selbst der IWF betrachtet die Resultate der von ihm mitverantworteten Politik im Gegensatz zur EU mittlerweile kritisch und entfernt sich zunehmend von orthodox-neoliberalen Vorstellungen.[10] Dafür gibt es handfeste Gründe: Die Austerity-Politik hat die Grundlage für eine massive Umverteilung des Eigentums gelegt, nicht nur durch die nach deutschem Vorbild eingesetzte Privatisierungs-Agentur, auch durch Firmenpleiten und private Notverkäufe findet eine gigantische Umverteilung von Immobilien, Ländereien und Sachvermögen statt. Zudem haben die großen Kapitalgruppen in Griechenland von der Senkung der Masseneinkommen erheblich profitiert. Durch die Rezession sinkt jedoch auch die Schuldentragfähigkeit des griechischen Staates, sodass die Bedienung der Schulden zunehmend in Frage steht – eine Kuh kann man schlachten, gleichzeitig melken kann man sie nicht. Eine erneute Umschuldung in welcher Form auch immer ist daher auf absehbare Zeit unumgänglich.
Für die Mehrheit der Lohnabhängigen, Rentner und kleinen Selbstständigen hat die Politik der Troika dramatische Auswirkungen: Die Einkommen sind nach Schätzungen mittlerweile um 35 bis 40 Prozent gesunken, die Arbeitslosigkeit lag im Oktober 2013 offiziell bei 27,8%, bei jungen Leuten unter 25 Jahren bei 58%.[11] Über die tatsächliche Verarmung gibt es aufgrund ihrer dramatischen Zunahme kaum belastbare Daten. Zehntausende Familien sind vor allem in den städtischen Zentren ohne Einkommen und auf die Unterstützung durch Suppenküchen und Lebensmittelhilfen angewiesen. Betroffen sind vor allem die ohnehin verwundbarsten Teile der Gesellschaft, d.h. diejenigen Bevölkerungsschichten, die bereits vor der Krise nur über ein geringes Einkommen verfügten, und von diesen insbesondere Kinder, Alte, Alleinerziehende, Migranten oder Menschen mit Behinderungen. Besonders dramatisch sind die Auswirkungen der Kürzungsvorgaben der Troika im Gesundheitssektor. Der ehemalige Gesundheitsminister Andreas Loverdos hat zugegeben, dass die Regierung zu ihrer Erfüllung "Schlachtermesser" benutzen würde.[12] Offiziell sind rund 30% der Bevölkerung nicht mehr krankenversichert. Inoffizielle Schätzungen gehen davon aus, dass mittlerweile etwa jeder Zweite keine Krankenversicherung mehr hat. Einen Hinweis auf das Ausmaß der Verschlechterung der öffentlichen Gesundheitsversorgung gibt die Rate der Kindersterblichkeit, die zwischen 2008 und 2010 um 43% angestiegen ist.[13] Nicht weniger dramatisch ist die psychische Situation großer Teile der Bevölkerung. So ist die Selbstmordrate zwischen 2007 und 2011 um 45% gestiegen.[14]

Postdemokratisierung der politischen Sphäre

Die Folgen der Austeritätspolitik der Troika hinsichtlich der politischen Rechte stehen der Suspendierung der sozialen Rechte in keiner Hinsicht nach. Faktisch ist in Griechenland eine neue Form der politischen Herrschaft etabliert worden, die mit den Begriffen der Postsouveränität und Postdemokratie zutreffend beschrieben werden kann: Formal verabschiedet zwar immer noch das Parlament die Gesetze, ihrem Inhalt nach handelt es sich aber um einen Vollzug der Vorgaben der durch die Troika vertretenen Gläubiger. Die parlamentarische Demokratie ist in Griechenland nur noch eine Attrappe, hinter der sich ein postdemokratischer autoritärer Maßnahmestaat formiert.[15] Alle Regierungen, die seit 2010 gebildet wurden, stehen daher auf einer mehr als zweifelhaften Legitimationsbasis. Unter politischen Akteuren und Beobachtern sind die negativen Folgen der Austeritätspolitik für die politische Demokratie bisher selbst von ihren Befürwortern nicht in Frage gestellt worden. Während der Massenproteste gegen die sogenannte "mittelfristige Finanzplanung" im Frühsommer 2011, die die Regierung Papandreou zu einem zeitweiligen Rückzug zwang, kommentierte die FAZ, die Abgeordneten des griechischen Parlaments könnten "keine eigenständigen Entscheidungen von halbwegs maßgeblicher Bedeutung" mehr treffen. (...) "Das griechische Volk kann wählen, was es will – wirklich ändern kann es nichts."[16]

Die Parteien, die bisher die Regierungen gebildet haben, sind im Zuge der Troika-Politik marginalisiert worden und befinden sich teilweise in einem Zustand des Zerfalls. Nur die ND konnte sich bisher als Massenpartei behaupten, büßte jedoch erheblich an Einfluss ein. Angesichts des dramatischen Legitimationsverlustes der alten politischen Eliten wird bei dem Versuch, die Entstehung einer radikaldemokratischen Massenbewegung zu verhindern, zunehmend zu autoritären Mitteln gegriffen, wobei die kommerziellen Medien, die sich fast ausnahmslos in den Händen weniger Kapitalgruppen befinden, die Regierungspolitik in weitgehendem Maße unterstützten. Es gibt keine größere Versammlung gegen die Maßnahmen der Troika, der nicht mit exzessiver Polizeigewalt begegnet worden wäre. Legitimiert wird das häufig von parastaatlichen Schlägertrupps flankierte Vorgehen der Behörden mit der angeblichen Gewaltbereitschaft der Demonstranten und von den Gerichten verhängten Demonstrationsverboten. Mehrfach ist der Einsatz von Einheiten des Militärs erwogen worden, wie von ehemaligen Generälen zugegeben worden ist.

Das Streikrecht ist in den letzten Jahren massiv ausgehöhlt worden. Griechenland hat eine lange Tradition von staatlichen Eingriffen in Arbeitskämpfe, etwa durch gerichtliche Verbote, wobei Streiks auf der Basis äußerst dehnbarer Formulierungen relativ willkürlich als "missbräuchlich" klassifiziert werden können. Auch wenn die rechtliche Grundlage für diese Eingriffe mehr als fragwürdig ist, so werden Streikverbote doch von den Gerichten und nicht direkt von der Regierung verhängt. Neben einer Zunahme dieses vergleichsweise etablierten Mittels ist in den letzten Jahren vermehrt das Mittel der Dienstverpflichtung zur Anwendung gekommen. Dabei handelt es sich um ein Notstandsrecht, das noch aus der Endphase der Junta stammt und für den Fall des Krieges, von Naturkatastrophen oder der Gefährdung der öffentlichen Gesundheit (also etwa Seuchen) vorgesehen ist. Streikwillige Arbeiter können von der Regierung dienstverpflichtet werden, bei Zuwiderhandlung drohen ihnen Gefängnisstrafen und Entlassung. Dieses Notstandsrecht kam bei den Protesten der LKW-Fahrer 2010, beim Streik der Kommunalen Angestellten im Herbst 2011, beim Streik der Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs und der Seeleute Anfang 2014 sowie beim geplanten Arbeitskampf der Lehrer im gleichen Jahr zur Anwendung.[17] Stehen die staatlichen Eingriffe in das Koalitionsrecht auch nach internationalen Maßstäben stets auf einer brüchigen Legitimationsbasis, so zeigt allein ihre Häufung einen dramatischen Verlust an Rechtsstaatlichkeit an. Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass zahlreiche Arbeitskämpfe durch gewaltsame Polizeieinsätze beendet wurden.

Charakteristisch für das Selbstverständnis der gegenwärtigen griechischen Regierung ist die handstreichartige Abschaltung des staatlichen Rundfunks ERT per Regierungsdekret im Frühsommer 2013. Dieses Vorgehen ist vor allem deswegen pikant, weil dadurch die Pressefreiheit und die politische Meinungsbildung tangiert worden ist. In den griechischen und internationalen Medien ist versucht worden, das Regierungsdekret durch die unzutreffende Behauptung zu legitimieren, der staatliche Rundfunk sei ohnehin immer von staatlichen Direktiven abhängig gewesen. Ihrem Charakter nach war die ERT jedoch eine pluralistische Sendeanstalt, in der Vertreter aller Parteien – auch der linken Opposition – zu Wort kamen. Auch wenn die jeweils regierende Partei leitende Funktionen des öffentlichen Rundfunks mit ihren Parteigängern besetzte, so genossen die Journalisten dennoch eine gewisse Bewegungsfreiheit, die derjenigen anderer öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten entsprach. Über die Motivation, den staatlichen Rundfunk zu schließen, gibt es unterschiedliche Versionen. In den griechischen Medien wurde spekuliert, dass die Regierung die Vorgabe der Troika nach einem weiteren Stellenabbau im öffentlichen Sektor auf möglichst einfache Weise umzusetzen beabsichtigte. Zweifelsohne gab es jedoch auch das Interesse, die privaten Sender zu Lasten des profitablen öffentlichen Rundfunks zu begünstigen und widerständiges Verhalten der Beschäftigten zu brechen. Die ERT wurde zwar am 11. Juni per Regierungsdekret geschlossen, ein großer Teil der Belegschaft besetzte jedoch das Hauptgebäude des Rundfunks und führte das Programm selbstorganisiert weiter, allerdings nicht auf den bisherigen Frequenzen, da die Verbindungen gekappt wurden, sondern als Internet-Livestream. Dabei wurden die Mitarbeiter des Senders von zahlreichen Organisationen, u.a. der European Broadcast Union, unterstützt, die ihre technischen Möglichkeiten dafür zu Verfügung stellten. Da das Regierungsdekret über die ERT-Abschaltung vom Parlament nicht bestätigt wurde, war die Weiterführung des Sendebetriebes rechtmäßig. Die Regierung revidierte ihre Entscheidung jedoch nicht einmal, nachdem der Oberste Gerichtshof am 17. Juni 2013 in einer einstweiligen Verfügung entschieden hatte, dass bis zur Aufnahme des Sendebetriebs durch den von der Regierung angekündigten neuen öffentlich-rechtlichen Sender NERIT die ERT weitersenden müsse. Die Regierung ignorierte dieses Urteil und ließ am 7. November das Hauptgebäude der ERT von der Polizei stürmen. Zahlreiche Stationen in der Provinz konnten ihren Betrieb dagegen fortsetzen.

Diese Beispiele für die sukzessive Zerstörung der Demokratie ließen sich fast beliebig ergänzen, insbesondere wenn man die Suspendierung der Menschen- und Bürgerrechte für Gruppen wie Häftlinge oder Migranten einbezieht. Die teilweise unverhohlene Kooperation zwischen staatlichen Institutionen und der faschistischen Goldenen Morgendämmerung, über deren Regierungsfähigkeit vor dem Mord an dem linksgerichteten Rapper Pavlos Fissas im Herbst 2013 in den Medien offen spekuliert wurde,[18] ist ebenso exemplarisch für den autoritären Charakter staatlicher Politik wie der Skandal um den Generalsekretär der Regierung Panajotis Baltakos, dessen Kooperation mit der Goldenen Morgendämmerung ein deutlicher Beleg für die Funktion faschistischer Parteien zur Durchsetzung kapitalistischer Herrschaftsinteressen ist.

Noch ist die griechische Regierung angesichts der seinerzeit bevorstehenden griechischen Ratspräsidentschaft und einer Welle der öffentlichen Empörung bis in die Reihen der etablierten politischen Kräfte hinein davor zurückgeschreckt, die Goldene Morgendämmerung in die Regierungsverantwortung einzubeziehen. Die Entwicklungen in der Ukraine zeigen jedoch, dass ein großer Teil des politischen Establishments in Europa kaum Probleme darin sieht, offen faschistische Kräfte als politische Partner zu akzeptieren.

Anmerkungen

[1] Es handelt sich um eine stark gekürzte und aktualisierte Fassung eines Beitrages, der in der Zeitschrift Kulturrevolution erscheinen ist: Krisenlabor Griechenland. kultuRRevolution 66/67. Juni 2014. S. 25-31.

[2] Yannis Varoufakis hat in seinen Beiträgen den globalen und systemischen Charakter der Krise herausgearbeitet. Vgl. Yanis Varoufakis, Der globale Minotaurus. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft. München 2012. Weitere Beiträge unter http://yanisvaroufakis.eu/ Siehe auch: Ingo Stützle, Austerität als politisches Projekt. Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise. Münster 2013. Insbesondere S. 305ff., S. 325ff.

[3] Vgl. Dimitris Charalambis, Gesellschaftliche Klassen, politische Krise und Abhängigkeit. Frankfurt/Main 1981.

[4] Vgl. Giorgos Kassimatis, EU verstößt gegen demokratische und europäische Rechtskultur. Zum Kreditabkommen der Troika mit Griechenland. In: Widerspruch 61. 31. Jg. 2. Hj. Zürich 2011. S. 49-60. Dimitris Sarafianos, I Dimokratia choris syntagma kai choris dimokratia (Die Demokratie ohne Verfassung und ohne Demokratie. In: Outopia. Sonderheft Europa. Heft 96. September/Oktober. Athen 2011. S. 21-26. Andreas Fischer-Lescano, Troika in der Austerität. Rechtsbindungen der Unionsorgane beim Abschluss der Memoranda of Understanding. In: Kritische Justiz 1/2014. S. 2-25. Costas Douzinas, Philosophie und Widerstand in der Krise. Griechenland und die Zukunft Europas. Hamburg 2014. S. 65ff.

[5] Vgl. Dirk Jörke, Was kommt nach der Postdemokratie? In: Vorgänge 2/2010. S. 17-25. Oliver Nachtwey, Die liberal-regressive Moderne. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2011. S. 16-19. Frank Deppe, Autoritärer Kapitalismus. Demokratie auf dem Prüfstand. Hamburg 2013. Joachim Perels, Europäische Wirtschaftskrise und Demokratie. In: Detlef Horster (Hrsg.), Vom Hund zum Schwanz. Zum Verhältnis von Exekutive und Legislative. Göttinger 2013. S. 9-19.

[6] Exemplarisch: Wolfgang Abendroth, Zur Funktion der Gewerkschaften in der westdeutschen Demokratie. In: Gesammelte Schriften Bd. 2. Hrsg. Von Michael Buckmiller, Joachim Perels und Uli Schöler. Hannover 2008. S. 221-230.

[7] Kathimerini vom 16.3.2014 sowie die ARD-Reportage Griechisches Roulette vom 24.3.2014 http://www.ardmediathek.de/das-erste/reportage-dokumentation/die-story-im-ersten-griechisches-roulette?documentId=20371606 Zugriff v. 25.3.2014.

[8] Vgl. Heinz Richter, Der Athener Klientelismus. In: Exantas Nr. 16. Berlin, Juni 2012. S. 6-14.

[9] Das Argument, die Ausgaben für das Gesundheitssystem, selbst wenn sie nicht bezahlt würden, seien im Haushalt eingestellt, ist nur sehr eingeschränkt richtig; das gilt ebenso für Steuern, die viele Haushalte und Unternehmen aufgrund der wirtschaftlichen Lage nicht bezahlen können. Mit anderen Worten: Der Staat kompensiert die nur rechnerischen Einnahmen, indem er Ausgaben nur auf dem Papier tätigt.

[10] Vgl. Christoph Stein, Heterodoxes vom IWF. In: Telepolis, http://www.heise.de/tp/artikel/41/41254/1.html sowie Karl Heinz Roth, Konflikt im Troika-Camp. Griechenland: Trendwende oder Pfeiffen im Wald? In: Lunapark 21 25/2014. S.. 8-11.

[11] http://www.nachdenkseiten.de/?p=19916

[12] Alexander Kentikelenis, Marina Karanikolos, Aaron Reeves, Martin McKee, David Stuckler, Greece’s health crisis: from austerity to denialism. http://download.thelancet.com/pdfs/journals/lancet/PIIS0140673613622916.pdf?id=baalQnvv5SEkZ-KBKTYru Zugriff vom 26.3.2014.

[13] Kentikelenis et. al., Health Crisis. A.a.O.

[14] http://download.thelancet.com/pdfs/journals/lancet/PIIS0140673613622916.pdf?id=baalQnvv5SEkZ-KBKTYru#page=1&zoom=50,0,799

[15] Der Begriff des autoritären Maßnahmestaates, wie er von Ernst Fraenkel in seiner Analyse des Dritten Reiches entwickelt wurde, zielt darauf ab, das Fortbestehen des rechtlichen Rahmens des bürgerlichen Staates und gleichzeitige Zerstörung rechtlicher Sicherungen in einzelnen Bereichen zu fassen. Ernst Fraenkel, der Doppelstaat. Gesammelte Schriften Bd. 2. Nationalsozialismus und Widerstand. Hrsgg. von Alexander von Brünneck. Baden-Baden 1999.

[16] Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.6.2011.

[17] Prin vom 3.2.2013. Besonders skandalös war die Dienstverpflichtung der Seeleute, da ihr Arbeitskampf die Zahlung ausstehender Gehälter zum Gegenstand hatte. Das Beispiel zeigt die realen Tendenzen zur Auflösung der Vertragsfreiheit, mit der die Auflösung der aus ihr abgeleiteten politischen Freiheiten einhergeht.

[18] Vgl. Vassiliki Georgiadou, Populismus und Extremismus am rechten Rand - der rasante Aufstieg der Goldenen Morgenröte im Krisenland Griechenland. In: Ralf Melzer/Sebastian Serafin (Hrsg.), Rechtsextremismus in Europa. Berlin 2013. S. 79-105. Dimitris Psarras, Neonazistische Mobilmachung im Zuge der Krise. Der Aufstieg der Nazipartei Goldene Morgenröte in Griechenland. Berlin 2013. S. 13.

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sopos 7/2014