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Am 19. Januar wird er neunzig, der aktive, engagierte, neugierige und sachkundige Schreiber und Leser. Im Ossietzky berichtet er regelmäßig über seine Lektüre: Bücher aus aller Welt, meist von Journalisten oder Schriftstellern, die Aufregendes erlebten oder erzählten, die sich vom weltweiten Kapitalismus in ihrem Kampf um eine gerechtere Welt nicht unterkriegen lassen. Er fühlt sich ihnen verbunden, will sie mit seinen Artikeln ermuntern, weiterzumachen. Will auch sagen, er gehört zu ihnen. Ungern ärgert er sich öffentlich über das Gelesene, denn er weiß um die Schwierigkeiten des Schreibens. Obwohl in letzter Zeit vor allem Autobiographisches erschien, unter anderem »Gelebtes Leben« (2000), »Die Welt der Markus Epstein« (2004), »Die Zeit berühren« (2008) und erst neulich »Schade, dass du Jude bist«, atmen Kaufmanns Bücher die Ereignisse unserer Zeit und der ganzen Welt. Was für eine Biographie wird da aber auch erzählt! Kind einer armen polnisch-jüdischen Mutter aus der Berliner Mulackstraße, wird der Kleine von einer vermögenden Kaufmannsfamilie adoptiert. Nach der Verschleppung des Vaters nach Dachau konnte er gerade noch mit einem der letzten Kindertransporte 1939 nach London entkommen. Weiter geht es nach Australien. Soldat, Matrose, Hochzeitsfotograf, Liebender, Hafenarbeiter, Gewerkschafter, Schreibender. 1953 wurde sein erster Roman »voices in the storm« veröffentlicht. Als Delegierter der Australian Seamans Union nahm Kaufmann an den Weltfestspielen in Warschau teil, erlebte Europa und übersiedelte 1957 in die DDR. Er wurde und blieb Reporter, Schriftsteller, Abenteurer, vertrat zeitweilig die Autoren der DDR im PEN als Generalsekretär. Schrieb, rieb sich an Borniertheiten, suchte und fand, sogar als »Schmiermaxe« ganz unten in der Maschine des MS »Freundschaft«, Wege in die Welt, die ihn immer interessierte. Wenn so einer »Autobiographisches« schreibt, erzählt er von einem Jahrhundert großer Widersprüche und tragischer Begebenheiten, Hoffnungen und Niederlagen. Die von ihm meisterlich beherrschte Form ist die Short-Story. Ein Leben in Short-Stories meint nicht nur den eigenen Bauchnabel, auch das Beobachtete und die vielen, die seinen Weg kreuzten. Jedes der autobiographischen Bücher birgt eine andere, neue Erinnerung. Er feilt an den Texten, mir scheint: Er wird immer knapper, aber umso wirkungsvoller. Der Titel des aktuellen Buches verweist auch auf seine Erfahrungen als Jude. Auf den alltäglichen Antisemitismus und das besondere Schicksal eines Jungen aus der Mulackstraße. Walter Kaufmann wußte sein Schicksal immer als Teil des Leids von vielen einzuordnen, und er lernte, sich zu wehren, anzuschließen an eine große Bewegung der Solidarität mit Unterdrückten und Benachteiligten. Davon konnte ihn weder eine gesellschaftliche Wende noch ein anderes Ereignis abbringen. In diesem Geist schreibt und liest er, hoffentlich noch lange. Christel Berger Wie das Fotoalbum eines weltläufigen Abenteurers scheint mir Walter Kaufmanns Erzählungsband. Es handelt sich um packende und zum Teil ergreifende Lebenslichter des im Januar neunzig Jahre lebendigen Autors. Die erste der drei Abteilungen von Erzählungen umgibt sich am stärksten mit dem Flair des Abenteuerlichen, da sie die Erlebnisse des jugendlichen, unfreiwillig von England nach Australien Exportierten nachzeichnet. Der nach England emigrierte Halbwüchsige wurde bei Kriegsanfang mit zweitausend andern vor den Faschisten Geflüchteten wegen möglicher Spionage für Deutschland in den entferntesten Teil des Dominiums verfrachtet. Für die Dauer des Krieges wurde er dort dienstverpflichtet als Arbeitssoldat in der australischen Armee, mußte in den unwirtlichsten Gegenden des Kontinents schuften. Die zeitliche Entfernung der lapidar erzählten Erlebnisse des jungen Mannes läßt diese wohl weniger brutal erscheinen als sie gewesen sein müssen. Nach seiner Entlassung schlug er sich mit rauhen Gelegenheitsarbeiten im Hafen von Sydney und auf Küstenschiffen durch, hatte aber auch seine ersten ephemeren Liebeserlebnisse mit australischen Frauen. Als er nach siebzehn Jahren im Ausland über Moskau und Warschau nach Ostberlin zurückgekehrt war, riet ihm dort ein alter Schriftsteller und Spanienkämpfer, in die Stadt seiner Jugend, Duisburg, weiterzufahren. Es wird eine Heimkehr in eine ihn abweisende Fremde – wie auch dieser Abschnitt überschrieben ist –, da die wenigen noch auffindbaren Bekannten ihm ins Gesicht leugnen, gewußt zu haben, in welches Schicksal seine Eltern »abgereist« sind, nämlich nach Auschwitz. Die alte Sekretärin seines Vaters aber hatte ihm eine ihr von seinen Eltern anvertraute Mappe ausgehändigt, aus der er nun erstmals erfuhr, daß er der Adoptivsohn dieser Eltern war und der uneheliche Sohn Salomon einer polnischen Jüdin in Berlin. Mit dieser bestürzenden Aufklärung flieht er die unheimlich gewordene Jugendheimat zurück in die frühe DDR und sucht dort fast kriminalistisch nach seiner leiblichen Mutter. Wenig erfahren die Leserinnen und Leser über Walter Kaufmanns erste Berliner Jahre als Schriftsteller und Reporter, um so mehr dafür von seinem erneuten Exil als Matrose auf Handelsschiffen der DDR, und das sind drastische, saftige Geschichten, erlebt zwischen Kuba, Rio und Rostock und erzählt in der ehrenwerten Tradition von Jack London und Hemingway. Doch erst im dritten Teil dieses Bandes dringt der Autor vor, nein: zurück zu den Erinnerungen, die zeitlich am weitesten entfernt und doch am grellsten und schmerzlichsten gespeichert sind und so auch auf mich gewirkt haben. Es sind die Jahre seiner Jugend in Duisburg, im Haus des gut situierten jüdischen Rechtsanwalts, in denen der von den Nazis geschürte Judenhaß zu ständig sich verschlimmernden Erlebnissen des Schülers mit den nichtjüdischen Deutschen führt. Lange ist er ein ganz naiver Junge, der nicht versteht, was die Landsleute so verdreht. Als ihn sein bester Freund fragt, weshalb die Deutschen die Juden hassen, weiß er keine Auskunft. Da sagt der, weil er immer wieder angepöbelt wird wegen seiner Freundschaft mit ihm, den Satz, der einen auch vom Umschlag des Buches erschreckend anspringt: »Schade, daß du Jude bist.« Und Walter Kaufmann, nachdem er die Horrorszene beschrieben hat, wie am 9. November 1938 die SA-Bande des elterliche Haus verwüstet und den Vater verschleppt hat, schreibt die Sätze: »Ich schreibe dies nieder wie in Trance, ohne Erregung jetzt, beschreibe die Zerstörung, die über uns kam, plötzlich, auf Befehl, und mit einer solchen Wucht, daß es die ganze Zeit unwirklich schien – nicht faßbar. Und dennoch habe ich Hoffnung. Das ist eine Ordnung, die wir zerstören – in unseren Herzen, unserem Geist, zerstören sie durch unsere Art zu leben, zu denken und zu handeln. Vielleicht wurde meine Hoffnung an jenem Novembertag im Jahr 38 geboren. Ich habe sie bewahrt.« Walter Kaufmann: »Schade, dass du Jude bist. Kaleidoskop eines Lebens. Autobiographische Erzählungen«, Prospero-Verlag, 353 Seiten, 17,95 € Redaktion und Verlag Ossietzky gratulieren herzlich Walter Kaufmann.
Erschienen in Ossietzky 3/2014 |
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