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Christlicher Anarchismus

Das Prinzip Verantwortung

von Thorsten Wegau

Rezension: Sebastian Kalicha (Hrsg.), Christlicher Anarchismus – Facetten einer libertären Strömung, Verlag Graswurzelrevolution Heidelberg 2013, 192 Seiten

Der Anspruch dieses Bandes wird im Beitrag des Herausgebers Kalicha zu den "Dimensionen libertärer Exegese" mit einem Zitat des französischen Philosophen Jacques Ellul deutlich: "Es wird als selbstverständlich angesehen, dass AnarchistInnen allen Religionen ... feindlich gegenüber stehen. Es wird ebenfalls als selbstverständlich angesehen, dass gläubige ChristInnen die Anarchie, als Chaos und als Negation etablierter Macht, verabscheuen. Es sind diese simplifizierten und unbestrittenen Annahmen, die ich beabsichtige in Frage zu stellen." (S. 13)

Kalicha zeigt auf, dass die historische Feindschaft zwischen Anarchismus und Christentum auf der Instrumentalisierung des Christentums seit seiner Erhebung zur Staatsreligion Ende des vierten Jahrhunderts beruht. All die Scheußlichkeiten, die im Namen des Christentums danach bis in die heutigen Tage begangen wurden und werden – sind sie wirklich auf das Wesen des Christentums zurückzuführen? Dagegen lässt sich zunächst einwenden, dass gegen das Staatskirchentum immer auch häretische Bewegungen standen, die die subversiven, herrschaftskritischen und egalitären Impulse der jesuanischen Lehren und Bewegung aufnahmen, weitertrugen und so zum Ausgangspunkt für humanistische und revolutionäre gesellschaftliche Impulse wurden. Ein interessanter Beitrag dazu findet sich in dem Aufsatz von Kalicha und Gustav Wagner über "Peter Chelcicky und das Netz des Glaubens" aus der Zeit der Hussitenkriege. Und mit Leo Tolstoi finden Christentum und Anarchismus sich in einer neuzeitlichen Synthese zusammen, deren Bedeutung bis in aktuelle soziale Bewegungen hinein nicht unterschätzt werden können. Es sind solche Unterströmungen und versteckte Pfade, die die oberflächlichen Feindschaften untertunneln und zu interessanten und durchaus erfolgreichen Bewegungen führen. So sind die demokratischen und auf dem Konsensprinzip beruhenden inneren Verkehrsformen der Occupy Wall Street-Bewegung durch die Erfahrungen der Quäker bereichert worden, wie David Graeber an einer Stelle seiner Analyse dieser Bewegung herausarbeitet. Die Quäker wiederum wurzeln in den englischen Revolutionskirchen des 17. Jahrhunderts, deren Theologie auf deutschen Theologen der Mystik wie Sebastian Frank, Johannes Denck und Jacob Böhme fußt. Gustav Landauer hat die deutsche Mystik durchaus als subversiv und als Weggefährtin für sein libertäres Denken geschätzt.

Der Band stellt in seinen durchweg interessanten und lesenswerten Beiträgen darauf ab, dass das Neue Testament von einer ganz anderen, alternativen Vergesellschaftungsform erzählt: "Die Jüngerfamilie ist ein von Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen freier Bereich .... An die Stelle der von oben nach unten mit Gewalt durchgesetzten Herrschaft tritt das dienende Dasein füreinander. Das läuft auf die totale Umkehr der zwischenmenschlichen Perspektive hinaus: Der andere wird vom Objekt möglicher Beherrschung zum Partner, der ein Recht auf Hilfe und Zuwendung hat .... Durch sein Verhalten will Jesus das Strukturprinzip von Herrschaft und Gewalt durchbrechen, in dem er an dessen Stelle das dienende Dasein für andere setzt." (Roloff, zitiert in Kalicha, S. 35). Aber es kann nicht verschwiegen werden, dass Anarchisten und Christen im politischen Alltag ganz überwiegend ein distanziertes Verhältnis zueinander hatten und haben – die Gottlosigkeit bei den einen und eine Gewaltbereitschaft bei den anderen und zuweilen auch beides in der jeweiligen Praxis haben beide Geisteshaltungen nie so recht zueinander finden lassen. Dabei kann man durchaus Erwägenswertes in den Überlegungen von Alexandre Christoyannpopoulos zur Bergpredigt als einem christlich-anarchistischem Manifest finden (S. 49ff.). Darin setzt er sich mit ganz pragmatischen Erwägungen zur Ächtung von Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung auseinander: "Gewalttätige Mittel bringen nur weitere Gewalt hervor und korrumpieren und zerstören auf verhängnisvolle Art und Weise sogar die besten Ziele." (S. 63). Eine nähere Beschäftigung mit dem letzten "Jahrhundert der Extreme" zeigt die Plausibilität dieser These. Man wird deshalb dieser Einschätzung nicht substantiell widersprechen können: Gewalt gebiert Gewalt, Opfer werden zu Tätern und Täter zu Opfern. Aus christlich-anarchistischer Sicht verbietet sich zumindest jeder Kultus der Gewalt als Mittel des Fortschritts. Dies gilt sogar mit einiger Berechtigung für die militärische Gewalt zur Niederschlagung des Faschismus bzw. dem gewaltsamen Kampf der Befreiungsbewegungen, mit dem heute imperiale Kriege und Interventionen gerechtfertigt werden. Die biblisch begründete Ablehnung von Gewalt als Mittel für den Fortschritt hin zu mehr Freiheit und Demokratie kann anhand der jüngeren Geschichte angeblicher Befreiungsbewegungen oder -kriege gut exemplifiziert werden. Die Ergebnisse des 2. Weltkrieges bestanden in einer solchen gewaltfrei-libertären Sicht ja nicht zuletzt darin, dass die Bevölkerung der östlichen Hälfte Europas nach nazistischer Gewalt mit stalinistischen Diktaturen konfrontiert war, dass China 1949 in einer maoistischen Diktatur landete, dass die europäischen Siegermächte ihre Kolonien nach 1945 wieder besetzten und die einheimischen Völker blutig unterdrückten, dass der algerische Befreiungskampf nach einem Massaker französischer Truppen am 8. Mai 1945 (!!) mit Individualterror begann und mit der Errichtung einer repressiven Entwicklungsdiktatur - unter physischer Vernichtung oppositioneller Befreiungsbewegungen - gewonnen wurde. Nebenbei gesagt: Ein Albert Camus hat dies sehr früh gesehen und kritisiert, während ein Jean Paul Sartre sich noch in Elogen auf die Gewaltaktionen der FNL erging. Die gegen Japan und Frankreich sieghaften Vietminh brachten zunächst alle Trotzkisten um, derer sie habhaft werden konnten, die castristische Guerilla auf Kuba ließ es nach ihrem Sieg nicht bei der Erschießung gefangener Anhänger der gestürzten Diktatur Fulgencio Batistas bewenden, sondern verbot auch bald die oppositionellen anarchosyndikalistischen Gewerkschaften und sperrte ihre Anhänger ein usw. usf. Dieser geschichtliche Exkurs belegt die volle Berechtigung der christlich-anarchistischen Kritik, wie sie im Band eher theoretisch und theologisch entwickelt wird.

Auch deshalb ist es eine nützliche intellektuelle Herausforderung, sich den Versuchen – sowohl theoretisch als auch praktisch – zu stellen, mit den sich christliche Anarchisten und anarchistische Christen in die politischen Händel dieser Welt eingemischt haben. Dafür bietet der Band eine Reihe anschaulich dargestellter praktischer und theologischer Beispiele. Neben den bereits erwähnten Beiträgen liefert dafür Dave Andrews Anregungen für eine libertäre Interpretation der beiden Hauptteile der Bibel ("Die subversive Spiritualität der Christi-Anarchy", S. 89ff) sowie Simon Moyle Überlegungen zu Theorie und Praxis des christlichen Anarchismus (S. 105ff.). Ein sowohl in christlichen wie auch anarchistischen Kreisen umstrittenes Beispiel für eine Synthese skizziert Tom Cornell in "Dorothy Day, Ammon Hennacy und der Anarchismus – Leben und Werk zweier Catholic Workers" (S. 117-146). Weshalb eine sozialistische und libertäre Aktivistin und beeindruckende Persönlichkeit wie Dorothy Day sich ausgerechnet der hierarchischen, frauen- und emanzipationsfeindlichen katholischen Kirche unterstellte, dass wird schlussendlich auch nach der Lektüre des gut informierenden Beitrages von Cornell nicht vollständig klar. Das die Geburt ihres Kindes nach jahrelangen erfolglosen Bemühungen zu einem Bekehrungserlebnis führte, das ist noch gut nachvollziehbar. Aber warum dann die katholische Kirche, der Freiheit des Geistes, Selbständigkeit im Glauben und die evangelische Priesterschaft aller Gläubigen Fremdworte waren? Vielleicht war es ein Reflex auf die Bigotterie der puritanisch und calvinistisch geprägten protestantischen Kirchen Nordamerikas, deren Prädestinationslehre kapitalistische Rücksichtslosigkeit zum Zeichen für ein gottgefälliges Leben macht? Auf diese Fragen gibt auch der Abschnitt "Katholisch und anarchistisch?" (S. 140-144) keine zufriedenstellende Antwort. Immerhin bieten die Catholic Worker-Communities beeindruckende Beispiele für die Einheit von konkreter sozialer Arbeit mit den Outlaws und Outcasts, friedensbewegten direkten Aktionen gegen militärische Ziele und so gelebtem christlichem Glauben.

Besonders interessant ist schließlich der Aufsatz "Biblischer Anarchismus" von Lou Marin über den Zusammenhang Christentum-Gewaltfreiheit-Anarchismus bei Jacques Ellul (S. 147-172). Schon der knapp vorgestellte Lebenslauf des 1912 in eine großbürgerliche Familie geborenen Ellul mit multinationalen Wurzeln weckt das Interesse, weil hier Einflüsse aus der französischen Aufklärung mit denen einer in Frankreich minoritären und verfolgten hugenottischen Tradition zusammentreffen. Ellul wurde nie Marxist und schloss sich auch der KP nicht an, weil er die stalinistischen Verfolgungen Andersdenkender sowohl im spanischen Bürgerkrieg wie auch in der Résistance registriert hatte. In der Résistance schloss er sich der unabhängigen, radikaldemokratisch bzw. sozialistisch orientierten Gruppe "Combat" an, der auch Camus angehörte. Mit Passfälschungen und der Rettung verfolgten Widerständler und Juden war er ab 1940 aktiv. Für dieses Engagement wird er in der Gedenkstätte Yad Vashem geehrt. Nach der Befreiung wurde er kurze Zeit stellvertretender Bürgermeister von Bordeaux. Seine Erfahrungen führten zu seiner Hinwendung zur direkten Demokratie. Während Aldous Huxley für die Verbreitung der fundamentalen Technikkritik und anderer Werke Elluls im anglo-sächsischen Raum Sorge trug, blieb die Rezeption im deutschen Sprachraum weitgehend aus – interessanterweise ebenso wie die Rezeption Camus' als libertärem Sozialisten, die in größerem Masse erst jetzt mit der guten Aufnahme der von Marin herausgegebenen libertären Schriften Camus` zu dessen 100. Geburtstag begann. Elluls Einfluss erstreckt sich von Ivan Illich bis zu José Bové. Der Pariser Mai 1968, die französischen ökologischen und antimilitaristischen Bewegungen der Folgejahrzehnte fanden in Ellul einen zuverlässigen Verbündeten. Dieses praktische wie theoretische Engagement findet eine Fundierung in einer besonders zugespitzten protestantischen Gottesbeziehung: für Ellul ist Gott ein Gott der Liebe und Kommunikation, der deshalb "nicht auf der Spitze einer Pyramide von Ursachen stehen" kann (S.162). Ellul verwendete viel Energie auf die Herausarbeitung einer gewaltfrei-libertären Bibelexegese und der Kritik an der Integration des Christentums in eine Staatsveranstaltung nach der Konstantinischen Wende 313 n.Chr. Es ist ausgesprochen schade, dass von diesem inspirierenden Denker nur wenige Schriften auf deutsch und dann auch nur antiquarisch zu beziehen sind. Vielleicht nimmt sich ja Lou Marin und der kleine "Verlag Graswurzelrevolution" der Werke Elluls so an, wie dies mit Camus' libertären Schriften geschehen ist?

Es ist dem Buch "Christlicher Anarchismus" zu wünschen, dass er über die kleine Gemeinde der gewaltfreien Anarchisten und libertären Christen hinaus zu einer lebendigen Diskussion über die Denk- und Handlungsformen der frühen und häretischen Christenheit und ihre Bedeutung für die heutigen sozialen Bewegungen führt. Vielleicht stehen dafür die Chancen angesichts der vielfältigen Krisen in Theologie, Theorie und Politik nicht ganz so schlecht.

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sopos 12/2013