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Unpolitische Politische Wissenschaften?

von Gregor Kritidis
mit Unterstützung eines großen Autor_innenkollektiv

Der Konflikt um eine Studentin mit Funktionen in der NPD wirft Fragen zum Selbstverständnis der Politischen Wissenschaften auf.

Kann die Politische Wissenschaft unpolitisch sein? Vor dieser Frage des fachlichen Selbstverständnisses sieht sich gegenwärtig das Institut für Politische Wissenschaft der Leibniz-Universität Hannover gestellt. Der Anlaß ist unmittelbar praktisch-politischer Natur: Seit dem Wintersemester studiert eine Frau am Institut, die nicht nur Funktionärin der NPD ist, sondern darüber hinaus sich positiv auf die Gruppierung "Besseres Hannover" bezogen hat, die wegen ihrer offen rassistischen Propaganda von den Behörden verboten und aufgelöst worden ist.[1]

Die Angelegenheit ist überregional in die Diskussion gekommen, nachdem eine Gruppe von Aktivisten den Fall öffentlich gemacht hat, indem sie als Clowns verkleidet in einem Seminar, an dem die Frau teilgenommen hat, auf die politische Gesinnung der Studentin hingewiesen haben.[2]

Nun ist unstrittig, daß auch einer Rechtsradikalen das Studium an einer deutschen Hochschule nicht verweigert werden kann. Jede Art einer Gesinnungsprüfung bei der Immatrikulation oder im laufenden Studium würde, daran besteht kein Zweifel, der Grundidee der Universität fundamental widersprechen, die darauf beruht, jedem fachlich geeigneten Bewerber die Möglichkeit zu eröffnen, sich die gewählten Inhalte und Methoden kritisch anzueignen.

Dennoch stellt sich die Frage, wie sich die Grundidee von Freiheit der Forschung und Lehre mit der Teilnahme einer Studierenden verträgt, die mit ihrer Funktion in der NPD dokumentiert, dass sie eben diesen Grundlagen widerspricht. Das gilt insbesondere für die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer, die mehr oder minder auf dem Gedanken der Demokratie und Aufklärung beruhen.

Die Politischen Wissenschaften, daran sei erinnert, wurden nach 1945 in der Bundesrepublik explizit mit dem Ziel etabliert, als "Demokratiewissenschaft" zur Überwindung des NS-Erbes beizutragen. Das in Deutschland neue Fach sollte die Funktion erfüllen, die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion staatlicher und gesellschaftlicher Akteure zu stärken und damit demokratisches Handeln zu fördern. Exemplarisch dafür ist die Gründung des IPW (Institut für Politische Wissenschaft) in Marburg. Seinen Sitz erhielt es in den Räumen des Instituts für Grenz- und Auslandsdeutschtum, das wegen seiner NS-Ausrichtung von den US-Besatzungsbehörden aufgelöst und die dazugehörige Bibliothek beschlagnahmt worden war. Die Politischen Wissenschaften, in denen viele Exilanten und Widerstandskämpfer eine neue Betätigung fanden, wirkten in staatliche Institutionen, Verbände und Gewerkschaften sowie angrenzende Fächer wie die Pädagogik hinein. Vor diesem Hintergrund stellt die Immatrikulation einer Studentin mit Funktionen in der NPD als solche eine Provokation dar.

Die Debatte kreist aber bislang weniger um diese Frage, sondern darum, inwieweit es zulässig ist, die Aktivität in der NPD öffentlich zu skandalisieren und selbst dabei vermummt aufzutreten. Das ist umso bemerkenswerter, als die Studentin aus ihrem Engagement für die NPD weder an der Universität noch in der breiteren Öffentlichkeit einen Hehl gemacht hat. Das Gegenteil ist der Fall, in Einführungsseminaren hat sich die Studentin als Mitglied der "Nationaldemokraten" vorgestellt, und auf ihrer Facebook-Seite hat sie behauptet, die direkte Aktion der antifaschistischen Aktivist_innen habe ihr zusätzliche Publicity eingebracht.

Die Angelegenheit wäre weitgehend unbedeutend, wenn die verantwortlichen Repräsentanten der Universität und vor allem die Lehrenden am IPW souverän mit den Protesten umgegangen wären und eine offene und öffentliche Debatte über die Grundidee der Freiheit von Forschung und Lehre, über die Vorraussetzungen und Ziele Politischer Wissenschaften initiiert hätten. Davon kann aber keine Rede sein, wie die ebenso hilflosen wie empfindlichen Reaktionen der Verantwortlichen zeigen. In einer ersten Stellungsnahme des geschäftsführenden Direktors des IPW brachte dieser gegenüber der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung zum Ausdruck, dass die Lehrenden des Instituts den Vorgang missbilligen, und wurde mit den Worten zitiert, man suche "unsere Studenten weder nach der Hautfarbe noch nach der politischen Meinung aus – jeder hat das Recht, hier zu studieren."[3] Dieser Rückzug auf eine formale Position stellt weniger deswegen ein Problem dar, weil aus ihr eine Gleichsetzung von Nazis und Menschen mit Migrationshintergrund folgt. Problematischer ist die Erosion des wissenschaftlichen Selbstverständnisses das sich dahinter verbirgt.

So heißt es in der offiziellen Stellungsnahme des IPW, die bei der Ringvorlesung „Einführung in die Politische Wissenschaft“ am 13.11.2013 verbreitet wurde, unter anderem, die Universität sei "für deren Mitglieder (...) ein geschützter Raum der Freiheit von Forschung und Lehre auf der Grundlage vernunftgeleiteter, argumentativer Kommunikation unter gleichzeitiger Berücksichtigung der persönlichen Grundrechte der Beteiligten. (...) Dazu gehört jedoch auch, dass der Raum Universität kein Ort weltanschaulicher Konfliktaustragung ist, kein Ort weltanschaulicher Propaganda, und erst recht kein Ort ist, einer Person die Menschenwürde abzusprechen." Ferner hieß es: "Der Vorfall ist eine Form der zu verurteilenden Selbstjustiz und weckt ... fürchterliche Assoziationen der Menschenjagd." Auf die Nachfrage von Studierenden, was damit gemeint sei, hieß es:

"Zum Beispiel, wie nach 1944, als die alliierten Truppen in Paris einmarschiert sind und insbesondere sogenannten Kollaborateurinnen, Frauen, in Paris auf der Straße die Haare abgeschnitten worden sind von irgendwelchen Volksmassen und dementsprechend durch die Straßen gejagt wurden, ohne dass diesen Personen der Vorwurf der Kollaboration, also die Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzungsmächten nachgewiesen werden konnte. Es gibt genauso schreckliche Bilder vom Jahrestag, der ... gerade bedacht worden ist, der Reichspogromnacht."[4]

Dieser groteske Vergleich war selbst dem Präsidenten der Leibniz-Universität zu viel. In einer Stellungnahme kritisierte er die Antifa-Aktion als "feige und undemokratisch" , verwahrte sich aber gegen derartige NS-Vergleiche: "Genauso falsch ist es allerdings, eine solche Aktion mit verbrecherischen Vorgängen während der nationalsozialistischen Herrschaft in Zusammenhang zu bringen."[5]

Weitreichender und prinzipieller sind dagegen die Auffassungsunterschiede bezüglich des Charakters und der Funktion der Universität, die der Präsident in erfreulicher Klarheit herausgestellt hat: "Die Universität ist ein Ort des offenen Diskurses. Selbstverständlich dürfen hier politische Meinungen frei geäußert und diskutiert werden, solange sie sich im Rahmen der geltenden Gesetze bewegen. Studentische Aktionen gehören zum Universitätsleben dazu."

Das IPW spricht hingegen davon, dass die Universität "kein Ort weltanschaulicher Konfliktaustragung" sei. Politik ist in ihrem Wesenskern das Aufeinanderstoßen von unterschiedlichen Auffassungen im öffentlichen Raum, und die Wissenschaft von der Politik kann und darf sich diesen Konflikten nicht entziehen. Wenn aber das IPW sich nicht mit weltanschaulichen Konflikten befassen will - hat sie dann überhaupt noch einen Gegenstand?

Damit ist ein Kernproblem der vorherrschenden Tendenzen in der Politik und in den gegenwärtigen Politikwissenschaften nicht nur in Deutschland charakterisiert. Die zunehmende Anlehnung an Begrifflichkeiten und Modelle der neoklassischen Ökononomietheorie haben dazu geführt, dass die Politik im eigentlichen Sinne der Tendenz nach zum Verschwinden gebracht wird, es eigentlich gar nicht mehr um widerstreitende Auffassungen und Interessen geht, sondern um die Anpassung an die von der Ökonomie gesetzten Zwänge. Das ist aber die Aufgabe von Verwaltung, von "effektiven" Management-Techniken, nicht eine Frage der Politik. Politik hat nach dieser ökonomistischen Vorstellung die Zustimmung zu diesen Prozessen zu organisieren.

Die Organisationsreformen an den Hochschulen stehen mit diesem Paradigmenwechsel in engem Zusammenhang. Seit den Bologna-Reformen folgt die Universität betriebswirtschaftlichen Imperativen, die sich die wissenschaftlichen Inhalte zunehmend Untertan gemacht haben. Der "akademische Kapitalismus" (Larry Hanley) orientiert sich an der Fiktion eines freien Marktes selbst dort, wo es gar keinen Markt gibt und mühsam ein solcher inszeniert werden muss. Folglich werden die Studierenden auch nicht mehr als lernende Subjekte, sondern als Kunden, als Konsumenten einer Dienstleistung betrachtet, auf deren politische Urteilskraft es gar nicht mehr ankommt.

Nichts verdeutlich diese Erosion des professionellen Selbstverständnisses besser als ein Zitat Peter Brückners, das im Zuge der studentischen Protestaktion gegen das sogenannte "Eckwerte-Papier" 1993/94 über die Eingangstür zum IPW geschrieben und bisher - man werte dies als positives Zeichen - noch nicht übergetüncht worden ist:

"Der sich politisch Mäßigende setzt Fett an, das ihm und anderen als Muskel nur erscheint, und gleichzeitig magert etwas in ihm ab. Er wird ein politischer Suppenkaspar."[6]

Diese Aussage ist offensichtlich überholt, weil es im Gegensatz zu den frühen 1980er Jahren kaum noch politische Positionen innerhalb der Politischen Wissenschaften gibt, die zu mäßigen wären. Aktuell ist sie dennoch, weil sie die Schwundstufe eines Prozesses kennzeichnet, der mit den Bologna-Reformen seinen Abschluß gefunden hat.

Es ist daher nicht überraschend, dass weniger die Immatrikulation einer rechtsradikalen Studentin für Empörung sorgt, sondern vielmehr die Aktion, die es nicht mehr erlaubt, die Angelegenheit mit Schweigen zu übergehen. So zeigt sich der Dekan der Philosophischen Fakultät "entsetzt über die denunziatorische Form der Protestaktion",[7] so sei die Studentin bisher nicht im Sinne ihrer Partei an der Universität in Erscheinung getreten und habe sich unauffällig verhalten.

Eine solche Position des kommunikativen Beschweigens blendet den politischen Kontext jedoch vollkommen aus: Es gehört zu den Strategien der NPD und der mit ihr verbundenen Kräfte, die öffentlichen Räume symbolisch zu erobern mit dem Ziel, "national befreite Zonen" einzurichten, in denen die Geltung des Grundgesetzes empfindlich eingeschränkt ist. Die NPD-Funktionärin wird deshalb auch niemandem den Gefallen tun, sich durch antisemitische oder rassistische Agitation eine offene Flanke zu geben. Allein ihre unwidersprochene Anwesenheit am IPW stellt einen Erfolg für die NPD dar. Sollte es dabei bleiben, ist es um die Meinungsfreiheit am IPW wenig gut bestellt. Die Verunsicherung, die in öffentlichen Veranstaltung ausbricht, wenn sich Neonazis durch provokative Fragen als solche zu erkennen geben, waren bisher keine gute Grundlage für politische und wissenschaftliche Lernprozesse.

Können Studierende, die sich in einer Lehrveranstaltung kritisch in Bezug auf die NPD exponieren, sicher sein, nicht außerhalb der Universität zum Ziel gewaltsamer Übergriffe zu werden? Die NPD-Funktionärin mag sich am Institut unauffällig oder sogar unpolitisch verhalten, hinter ihr steht aber eine politische Kraft, an deren Gewaltpotential wenig Zweifel bestehen sollte. Es gibt eine Reihe von Beispielen, wie Neonazis gegen ihre Gegner- und Kritiker_innen vorgehen, wobei - wie im Falle des Thüringer HBV-Gewerkschaftssekretärs Angelo Lucifero[8] - neben gewaltsamen Übergriffen auch subtile Formen der Einschüchterung und Diffamierung zur Anwendung gekommen sind.[9]

Um weitere Beispiele dafür zu finden, braucht man nicht in die Ferne zu schweifen: Im Zuge der Kampagne von Nazis gegen den Falkenkeller in Barsinghausen ist es zweimal zu einer Messer-Attacke auf einen Besucher gekommen, Vorfälle, die in der Presse als Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken Jugendlichen bagatellisiert worden sind. Bei einer Podiumsdiskussion in Barsinghausen wurde gar die These vertreten, Besucher des Falkenkellers würden die Neonazis durch ihre Anwesenheit provozieren. Folgt man dieser Logik, dürften sich bald Homosexuelle oder Migranten nicht mehr auf der Straße blicken lassen. Es ist bezeichnend, dass im Zuge dieser Auseinandersetzungen die NPD der Stadt Barsinghausen vorgeschlagen hat, die Jugendarbeit im Falkenkeller zu übernehmen. Und in Langenhagen wurde einer Studentin, die in der lokalen Antifa aktiv war, von den Behörden empfohlen, sie solle sich besser aus der Schusslinie nehmen, indem sie für zwei Semester ins Ausland geht.

Die These, dass die Universität ein geschützter Raum sei, in der die vernunftgeleitete Argumentation möglich wäre, verwechselt den politischen Anspruch mit der empirischen Wirklichkeit. Keineswegs stehen die Politischen Wissenschaften außerhalb der Gesellschaft davon zu abstrahieren, wäre schlicht unwissenschaftlich. Eine Wissenschaft, die das Bewußtsein für ihre sozialen und politischen Voraussetzungen sowie die Folgen ihres Handelns verliert, gibt jedoch ihre eigenen fachlichen Grundlagen preis.[10]

Es ist zu vermuten, dass viele der Lehrenden am IPW das durchaus ähnlich sehen, bisher aber der Schwerkraft institutioneller Logiken gefolgt sind. Auch gibt es durchaus Lehrende, die sich um eine Öffnung der Universität zur Gesellschaft bemühen und immer wieder die öffentliche Diskussion über die Universität hinaus gesucht haben.[11] Es wäre jetzt eine Gelegenheit, eine öffentliche Diskussion über das Selbstverständnis der Politischen Wissenschaften zu beginnen, und damit im besten Sinne Aufklärung und Selbstaufklärung zu betreiben. Dazu wäre es auch notwendig, die Fokussierung auf einzelne Personen aufzugeben und ein Klima zu schaffen, das eine solche Diskussion bedarf, damit sie produktiv werden kann.[12]

Die Studierenden könnten dafür entscheidende Anstöße geben. Sie sollten sich auch nicht von den Ordnungswünschen von Teilen der Universitätsverwaltung einschüchtern lassen, sondern selbst überlegen, auf welche Weise sie in dieser Situation weiter verfahren wollen. Denn der Konflikt bleibt und läßt sich nicht dadurch aufheben, indem man ihn negiert und zu beschweigen versucht.

Anmerkungen

[1] Inweit sich die Studierende an der Schnittstelle von legalen und kriminellen politischen Aktivitäten, wäre eine eingehende Untersuchung wert. Vgl. http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/NPD-Kandidatin-wirbt-fuer-Besseres-Hannover

[2] Vgl. http://refused-news.de/antifa-outing-vs-novemberpogrome/ dort auch weitere links

[3] http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Aktion-gegen-NPD-Chefin-an-der-Uni-Hannover

[4] http://www.asta-hannover.de/2013/11/14/stellungnahme-des-asta-zu-geschichtsrevisionistischen-auserungen-in-bezug-auf-nazi-kader-an-der-uni-hannover/ Man sollte aber bei der Bewertung berücksichtigen, dass es sich um Assoziationen handelt, keinesfalls um eine Auffassung, die sich auf eine politisch-wissenschaftliche Analyse stützt.

[5] http://www.uni-hannover.de/de/aktuell/online-aktuell/news/14232/

[6] Peter Brückner, Das schwierige Verhältnis von Parteilichkeit und Wahrheitsanspruch. Hrsg. von den Basisgruppen an der Ruhr-Universität Bochum. Bochum 1982. S. 26.

[7] Ebenda.

[8] Vgl. http://labournet.de/diskussion/rechten/opfer/angelo.html Es ist bewerkenswert, dass dem Fall Lucifero im Zuge der NSU-Affäre auch innerhalb der Linken kaum Aufmerksamkeit eingeräumt worden ist.

[9] Vgl. auch: http://www.netz-gegen-nazis.de/lexikontext/anti-antifa

[10] Die in der Erklärung des IPW enthaltene Forderung nach einem Verbot der NPD kann kaum dazu beitragen, die eigenen Positionierungen der Lehrenden am IPW zu ersetzen. Die Politischen Wissenschaften sollen ja gerade zur politischen Willensbildung, die staatlichem Handeln vorausgeht, beitragen.

[11] Das steht in der Tradition des Gründers des IPW, Peter von Oertzen, der sich auch zu ähnlich gelagerten Problemen geäußert hat: P. v. Oertzen, Der Rechtsstaat und die Rechte. In: Ders., Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft. Hannover 2004. S. 376-379.

[12] Gegenwärtig folgt die Kritik dem Prinzip, den Sack zu schlagen und den Esel zu meinen. Die bisherige Stellungnahme des IPW sollte jedoch als Ausdruck einer institutionellen Konstellation aufgefasst werden, nicht als Meinungsäußerung eines Einzelnen.

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https://sopos.org/aufsaetze/5294bcf55154f/1.phtml

sopos 11/2013