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Touristen aus aller Welt schlendern an den vielen Boutiquen entlang, Straßenkünstler geben um die Plazoleta Julio Cortazar herum ihr Bestes und die parillas, die Steakhäuser, haben Hochkonjunktur. Hier habe ich mich mit Silvio Martínez, einem Kollegen, zu einer Tasse Kaffee verabredet. Martínez leitet eine mittelgroße Privatschule im Stadtteil Los Polvorines, 800 Schüler der Primaria und der Secundaria. Die Eltern gehören zum übergroßen Teil der oberen Mittelschicht an, viele sind Unternehmer oder Angehörige freier Berufe, Anwälte, Ärzte oder Ingenieure. Sie alle sind eigentlich wohlhabend und haben teil am gesellschaftlichen Fortschritt Argentiniens. Und dennoch mache sich, so meint Silvio, eine Stimmung bemerkbar, die unterschwellige Ängste verrate: Da sei zunächst die offensichtliche Inflation, die man am besten im Kursverhalten der argentinischen Nationalwährung, des Pesos, studieren könne. Der offizielle Kurs des Pesos zum US-Dollar steht ungefähr 5 zu 1. Nur daß eben außer den arglosen Touristen niemand zu diesen Konditionen Dollar tauschen würde, wenn man nicht unbedingt müsse. Der inoffizielle Dollarkurs steht hingegen bei zehn Pesos zu einem US Dollar und wird Dolarblue genannt. Man kann sich als Argentinier ganz ungeniert auf der entsprechenden Website dolarblue über den täglichen Wertverlust der eigenen Währung informieren. Ein größerer Dollarbesitz, außer für Auslandsaufenthalte und im Ausland zu tätigende Devisenzahlungen, sei im Prinzip auch nicht statthaft. An Geldautomaten kann man gegenwärtig nicht mehr als 1000 Pesos abheben. Die größte Banknote ist der 100-Peso-Schein, was zur Folge hat, daß bei vielen Käufen, geht es beispielsweise um Autos oder Immobilien, das Bargeld in großen Aktentaschen transportiert werde. Dies nun wiederum führe zu Ängsten vor zunehmender Kriminalität, die auch begründet seien. Andererseits hat die Regierung von Cristina Kirchner bei den Verstaatlichungen von Energie-, Bergbau- und Verkehrsbetrieben durch ihre isolationistische Währungspolitik eine gigantische Staatsverschuldung vermeiden können; die durch forcierte Sozialleistungen für bankrotte Staatsbetriebe wie die staatliche Luftfahrtgesellschaft LAFSA mitverursachte Binnenverschuldung nimmt jedoch drastisch zu. Mein Gesprächspartner Silvio betont, die wirtschaftlichen Existenzängste der arbeitenden Bevölkerung, vor allem der Mittelschicht, seien sehr real – einige Eltern hätten ihre Kinder bereits von seiner Schule abgemeldet, um sie anderswo zu günstigeren Einschreibegebühren unterrichten zu lassen – selbst, wenn dies zu Lasten der Bildungsqualität führe. Auch dies sei ein Indikator für die tatsächliche Bedrohung einer ganzen Gesellschaftsschicht, deren Stolz jahrzehntelang darin bestand, ihren Nachkommen die anspruchsvollste Schul- und Universitätsbildung ganz Lateinamerikas zukommen zu lassen. Für ihn persönlich am schmerzhaftesten jedoch sei, daß die wirtschaftlichen Auswirkungen einer neuen Krise zu sozialen Ängsten führen würden, die Argentinien als einem klassischen Einwanderungsland über Generationen hinweg eigentlich fremd gewesen seien: Die Rede ist von der Solidarität mit den Armen und Ärmsten, mit den jüngst Zugewanderten aus den Andenländern, mit den Arbeitslosen und der mittellosen Landbevölkerung. Die Regierung Kirchner fördere großzügige Sozialmaßnahmen, die den zahlreichen Bedürftigen in den villas de emergencia, den Elendsvierteln, auch wirklich zugute kämen. So erhalte eine prekäre Familie für jedes Neugeborene eine finanzielle Unterstützung. Obwohl diese Maßnahmen tatsächlich solidarisch und in ihrem Ansatz als durchaus humanistisch begriffen werden, vermuten viele Argentinier wahltaktisches Kalkül dahinter. Die breite und lediglich finanzielle Unterstützung von mittellosen Bevölkerungsteilen ohne die gleichzeitige Implementierung nachhaltiger Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten für sie stelle ein zukünftiges Konfliktpotential dar. Genau diese Entwicklung, so meint Silvio, hätte beispielsweise 1973 in Chile zu einer Radikalisierung der damaligen Mittelschicht geführt, in deren Ergebnis dann die demokratisch gewählte Regierung der Unidad Popular von der faschistischen Junta um Pinochet blutig zerschlagen wurde. Auch in Argentinien seien die Abstiegsängste der Mittelschicht zeitgleich so stark ausgeprägt gewesen, daß man sich 1976 schließlich die eigene, noch furchtbarere Diktatur ins Haus geholt habe. Silvio vernimmt aus seiner Elternschaft in letzter Zeit immer schärfer werdende Töne, die auf eine bewußte Ausgrenzung der zahlreicher werdenden Marginalisierten und Migranten abzielten. Wir müssen uns und unsere Kinder schützen, heiße es bei den Eltern. Silvio hält diese neoliberale Radikalisierung für kreuzgefährlich. Hier, in Lateinamerika, sagt er, haben wir eine schamlose Tradition von sozialdarwinistischem Rassismus bei den Besitzenden und einen beschämenden Minderwertigkeitskomplex bei den Besitzlosen. Und ganz unten auf der Skala der Stigmatisierten fänden sich die Indigenen wieder. Als wir uns schließlich nach einer Stunde vor dem Café verabschieden, lächelt Silvio und blickt die Calle Armenia hinauf und hinunter. Dann deutet er auf die vielen Menschen, die entspannt und fröhlich den sonnigen Sonntag-nachmittag in Palermo genießen und meint schließlich: »Bei euch wie bei uns – wir genießen unsere vorgebliche Freiheit eben, solange es noch geht.«
Erschienen in Ossietzky 14/2013 |
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