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"Ausgewachsen!"

Neue Literatur zum "Postwachstum"

Stefan Janson

Fukushima ist das letzte Fanal einer Zivilisationskrise, "einer Krise der Gesellschaften, die auf unkontrollierbare Großtechnologien und destruktive Energieformen angewiesen sind, um kontinuierliches Wirtschaftswachstum zu befeuern."[1] Und das, um den Bequemlichkeiten einer kleinen Minderheit der Weltbevölkerung dienlich zu sein und mit ihrer imperialen Lebensweise zugleich auch deren imperialen Habitus und die dazugehörigen Denkweisen am Laufen zu halten ("Schmelzer/Passadakis: 'kosmopolitische Plünderungsökonomie'"). Vielleicht müssen wir uns daran gewöhnen, die Frage nach der Wirkungsweise und Perspektive einer kapitalistischen Zivilisation in ganz anderer Schärfe und Konsequenz zu stellen als in den vergangenen Jahrzehnten. Zwei Bücher aus dem Hamburger VSA-Verlag tragen, die vorwiegend in den lateinischen Ländern Europas geführte Diskussion über "Postwachstum" nun auch nach Deutschland.[2] Mit ihnen möchte ich eine Bewegung vorstellen, mit der sich alle auseinandersetzen müssen, die "eine andere Welt für möglich halten".

Der sperrige Begriff des "Postwachstums" war im Mai 2011 Thema eines vom globalisierungskritischen Netzwerk attac veranstalteten Kongresses. Die Beteiligung übertraf deutlich die Erwartungen der Veranstalter, über 2000 überwiegend junge Menschen, diskutierten einen Ansatz, den Matthias Schmelzer und Alexis Passadakis als "Solidarische Postwachstumsökonomie" bezeichnen. Damit wollen sie sich von den Wachstumskritikern absetzen, die wie Meinhard Miegel das Wirtschaftswachstum aus neoliberaler Perspektive kritisieren und den Sozialstaat als wesentlichen Wachstumstreiber ausmachen. In ihrem Buch weisen sie darauf hin, dass über 800 Jahre lang Bruttoinlandprodukt und Bevölkerung parallel und sehr langsam wuchsen. Erst die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise forcierte das wirtschaftliche Wachstum und führte zu expansiver Warenproduktion.

Sie stellen das Wachstumskonzept als hegemoniales Projekt dar, dem sich nahezu alle politischen Akteure verpflichtet haben. Und dies, obwohl Wachstum per se weder ein gutes Leben ermöglicht, Armut und Ungleichheit verringert, einen Beitrag zum Abbau von Massenarbeitslosigkeit leistet oder Umweltschutz ermöglicht. Im Gegenteil sind die Kosten des Wachstums größer als die Vorteile der gesteigerten Produktion.[3]

Schmelzer/Passadakis verwerfen die Vorstellung, durch die Installation eines Öko-Keynesianismus oder der Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch könnte es gelingen, eine zwar kapitalistische, aber nachhaltige Wirtschaftsweise zu erzeugen. Dieses Konzept, dass von Umweltverbänden, den Grünen[4] und Teilen der SPD vertreten wird, verkenne unter anderem die Wirkung des Rebound-Effektes. Danach führt jeder Effizienzgewinn letztlich zu einer Erhöhung der Nachfrage und weist im Ergebnis sogar einen negativen Gesamteffekt auf: diese Politik verschärft den Ressourcenverbrauch und die kapitalistische Indienstnahme der Welt noch.

Dem wird eine Solidarische Postwachstumsökonomie gegenübergestellt, "eine konsequente sozial-ökologische Transformation der Produktions- und Lebensweise und eine demokratisch organisierte Reduktion von Produktion und Konsum. Ziel ist eine Ökonomie, die global soziale Rechte für alle sichert und die ökologischen Grenzen nicht überschreitet."[5] Dies bedeutet im Klartext, dass eine Ökonomie des Schrumpfens organisiert und eine Lebensweise des "Genug" durchgesetzt werden muss. Diese "großen Erzählung" nach dem Ende der anderen "großen Erzählungen" muss die ökologische und die soziale Fragen nicht nur stellen, sondern auch zusammenbringen. Und: "Wer soll ein solches Projekt schließlich ins Werk setzen? Notgedrungen fällt die Antwort vage aus, denn eine Koalition von gesellschaftlichen Akteuren, die sich für eine ökologisch-solidarische Lebensweise in einer Ökonomie jenseits des Wachstums aussprechen, gibt es bisher nicht."[6]

In der Tat ist eine solche Koalition in den Deutschland und den nordeuropäischen Ländern nicht absehbar. Industrie- und wachstumkritische Stimmen sind in diesen Regionen mit ihrem überwältigenden Übergewicht etatistischer und marxistischer Traditionen seit über 100 Jahre auf ein minoritäres Dasein am Rande der großen progressiven Strömungen und Organisationen, auch der Arbeiterbewegung verwiesen. Zu nennen wären hier Gustav Landauer; die Naturfreunde und fortschrittliche Strömungen in der Jugendbewegung, nach 1945 die Hippies, die niederländischen Kabouters, Ivan Illich; die frühen Grünen zwischen Gründung und dem Sieg des Realoflügels, Rudolf Bahro. Demgegenüber träumten die Mehrheitsfraktionen der sozialistischen Bewegung menschlichen Fortschritt und eine gerechte Gesellschaft entweder als Sowjet(=Partei)macht und Elektrifizierung und oder von einem (von ihnen) bürokratisch verwalteten, aber kapitalistisch geführten Wohlfahrtsstaat. Im Kern blieben diese Vorstellungen Kapitel in der "großen Erzählung" von der Wohlfahrt durch Industrialismus und unterliegen damit auch deren Beschränkungen und Historizität. Mit dieser Denkweise muss nun gebrochen werden, wenn eine menschenwürdige und solidarische Welt entstehen soll.

In Südeuropa dagegen gibt es Traditionen, an die hier angeknüpft werden kann. Serge Latouche reklamiert zu recht "Decroissance[7] als Projekt der Politischen Linken"[8]: sie ist ein Projekt, das die ursprünglichen Ideen des Sozialismus wieder aufgreift als da sind: eine radikale Kritik der Konsumgesellschaft, eine radikale Kritik am Liberalismus und eine Kritik an der Arbeit als Lebensinhalt – hier im Rekurs auf den von Marx und den Marxisten angegriffenen Paul Lafargue ("Recht auf Faulheit"). Latouche macht eine Galerie auf, die für deutsche Ohren recht ungewohnt und deren Namen mir zumindest teilweise nicht geläufig sind: Jacques Ellul, Ivan Illich, Andre Gorz, Charbonneau, Cornelius Castoriadis, Leo Tolstoi, Mahatma Gandhi oder Henry David Thoreau. Wenn, wie Latouche sagt, der "Kuchen nicht mehr wachsen kann", ja, nicht mehr wachsen darf, dann bedarf es einer Umwertung: "…die Werte, an die wir glauben und nach denen wir unser Leben gestalten, (müssen wir – d.V.) einer Prüfung ... unterziehen und diejenigen ändern, die einer Änderung bedürfen. Es muss kaum besonders herausgestellt werden, welche Werte hier an die Stelle der derzeit vorherrschenden zu treten hätten: Altruismus statt Egoismus, Zusammenarbeit statt Konkurrenzwahn, Vergnügen am Gestalten freier Zeit und Ethos des Spielerischen statt Arbeitsbesessenheit, gemeinschaftliches Leben statt schrankenloser Konsum, regionale Wirtschaftsmodelle statt globaler, Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung, Schönheit handwerklicher Fertigung statt industrieller Massenproduktion, schöpferisches Denken statt Effizienzdenken, Relationales statt Materielles und so weiter."[9]

Besonders der Beitrag von Federico Demaria u.a. "Degrowth in Südeuropa: Komplementarität in der Vielfalt" bietet einen guten Überblick über Quellen und Aktionsformen, von denen sich für die deutsche Diskussion manches lernen ließe.[10] Ausgehend von Frankreich, hat sich die Degrowth-Idee etwa seit 2001 über Italien und Spanien mittlerweile auch in den frankophonen Teilen von Belgien und der Schweiz entwickelt, beteiligt sich ein Netz von Umweltorganisationen, Altermondialisten und kleinen dissidenten Gewerkschaftsorganisationen an der Debatte. Sie treibt der Kampf gegen die Kommodifizierung menschlicher Beziehungen, die kulturellen Uniformierungen und der Entwicklungskritik an. Sie stellt die Frage nach dem "Sinn des Lebens unter der Annahme, dass nicht-materieller Austausch und ‚die Poesie des Lebens’ fundamental sind. Degrowth fordert auch eine (direktere und partizipatorische) Vertiefung und Ausweitung von Demokratie. Der Diskurs zur Ökologie ist eine selbstverständliche Quelle…Schließlich ist die Gerechtigkeitsperspektive ein Hauptanliegen bei den sozialen und ökonomischen Dimensionen von Degrowth."[11] Dabei legen die Autoren großen Wert darauf, dass ideologischer Reduktionismus vermieden wird. Die "Entstehung eines neuen fremdbestimmten Ungeheuers, bei dem ein strikter Top-Down-Plan für Degrowth verfolgt wird (eine Art UdSSR, diesmal für Degrowth)" wird zu recht abgelehnt.

Eine lohnende Lektüre für eine hoffentlich spannende Diskussion!

Anmerkungen

[1] Matthias Schmelzer/Alexis Passadakis, Postwachstum, AttacBasisTexte 36; 94 Seiten, VSA-Verlag Hamburg 2011, S. 8f.

[2] Op. cit und Werner Rätz/Tanja von Egan-Krieger u.a. (Hrsg.); Ausgewachsen! Ökologische Gerechtigkeit – Soziale rechte – Gutes Leben; 190 Seiten; VSA-Verlag Hamburg 2011.

[3] Schmelzer/Passadakis; S. 29.

[4] Vgl. dazu Robert Habeck/Andrea Tietze; Landgewinnung - Nachhaltigkeit; Erstmals analysiert eine Studie, wie "grünes Wachstum" in einem Bundesland aussehen könnte; der Freitag Nr. 22 vom 1.06.2011; S.11.

[5] Op.cit, S. 67.

[6] Op. cit; S. 91.

[7] Das französische "Decroissance" entspricht dem deutschen "Schrumpfen" und ist offensiver als das seine Folgen offen lassenden Begriffs "Postwachstum" in der beginnenden deutschen Debatte. Gleiches gilt für den englischen Begriff "degrowth" oder den griechischen Begriff "apoanaptixi".

[8] In: Rätz/von Egan-Krieger; S. 66-74.

[9] Op. cit. S. 67.

[10] a.a.O. S. 161-172.

[11] a.a.O. S. 165f.

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sopos 9/2011