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Nun hat sie sich zusammen mit Tine Rahel Völcker die »Madame Bovary« vorgenommen und für das Berliner Maxim Gorki Theater inszeniert, das schon eine Reihe Produktionen zu Frauen-Themen im Repertoire hat: Kleists »Penthesilea«, Tolstois »Anna Karenina«, Ibsens »Nora oder ein Puppenheim«, auch Dürrenmatts »Der Besuch der alten Dame«, Herta Müllers »Herztier« oder Christa Wolfs »Kindheitsmuster«. An der »Bovary« kann man lernen und ebenso gut sich verheben. Das ist hier geschehen. In diesem Stoff liegt doch mehr als nur ein »großes Scheitern einer Beziehungsmöglichkeit«, wie die Dramaturgie des Maxim Gorki Theaters meint. Die Bühnen scheinen in Nöten um Stoffe und Stücke zu sein. Neuerdings greifen sie nach großen Film-Sujets wie einst Filmer nach großen Romanen. Schon bei einem früheren Theaterspaziergang habe ich erleben müssen, wie vergeblich sich dieses Haus um »Anna Karenina« bemüht hat. Inzwischen kam man hier auf die ziemlich närrische Idee, Luchino Viscontis »Rocco und seine Brüder« zu vertheatern. Wie kommt man dazu, aus solch großem Film so kleines und belangloses Theater zu machen? Mit einem andern Film ist man etwas besser zurecht gekommen: Ernst Lubitschs »Sein oder Nichtsein«. Die Inszenierung hat Furor, den der furiose Schauspieler Milan Peschel als Regisseur auf das Ensemble überträgt. Aber paßt der Furor (Wut, Raserei bis zur Verzückung) zu etwas, was sich als Comedy versteht? Und eignet sich Comedy zum Widerstandskampf gegen NS-Faschismus und Besatzung in Polen? Sind jene furchtbaren Vorgänge lustspielreif? Sicher, man kann auch über Hitler lachen – Chaplin hat es vorgemacht und mancher andere auch. Hier fehlt das Gespür für die scharfe Grenze zwischen Komik und Tragik, und das Shakespearesche Ineinander-Übergehen beider bleibt aus. Übrig bleibt eine Posse – immerhin mit bemerkenswerten artistischen Einzelleistungen, namentlich von Ronald Kukulies und Horst Westphal. Holger Stockhaus als SS-Gruppenführer dagegen kommt denn doch zu leicht daher. Ein wirklich großes Unternehmen des Maxim Gorki Theaters scheint die Zusammenarbeit mit dem Stary-Theater Krakow zu sein. Die Bühne Polens für hohe Klassik ist auch ein Partner von hohem Rang. Die literarischen Grundlagen von Horst Bienek und Tomasz Rozycki, zudem Schauspieler wie Andreas Leupold garantieren einige Güte, politisches Theater eigener Art, Geschichtsarbeit zwischen diesen beiden Völkern. Dazu kann man nur Erfolg und Glück wünschen. * Im Berliner Ensemble, das wir so gern und zärtlich BE nennen, macht man immer gute Entdeckungen. Und man ist glücklich, an einem Abend mal wieder drei überragende Schauspieler auf dieser ruhmreichen Bühne zu sehen: Angela Winkler, Alexander Lang und Jürgen Holtz – Ruth Glöss in ihren Zwischenszenen nicht zu vergessen. Robert Wilson führt wieder Regie, formidabel. Was er macht, ist Klasse, aber immer dasselbe. Ein Wiederholungstäter auf hohem Niveau. Es gibt zu schauen viel Schönes, zu hören manch Hohes, was wie herabfallend wirkt. Leuchtendes Licht und possierliche Posen, sehr abgehoben und fern der Welt, die Kunst hat sich in sich selbst verliebt und Wilson in Wilson. Nur einmal kommt Realität ins Bild und auf die Bühne: das technische Kollektiv unter Leitung von Stephan Besson, das dem Glanz und Glitzer seinen hohen Rang gegeben haben. Solchen verdienten Sonderapplaus erlebte ich bislang nur zweimal: einmal unter Brecht am BE und dann unter Felsenstein an der Komischen Oper. Das ist freilich lange her. Ja, fragt nun der Leser: Welches Stück gab es eigentlich? Fast hätte ich unter all dem Technik-Komfort und Licht-Design vergessen, es zu nennen: Frank Wedekinds »Lulu« in der Urfassung »Die Büchse der Pandora«. Immer wieder der verquaste und totgespielte Wedekind. Warum bringt man nicht mal die »Pandora« von Peter Hacks nach Goethe? Da wird Welt durchgespielt! Die Geschichte vom Niedergang der Lulu, auf die alles Böse herabkommt bis zu ihrem Untergang, war kaum erkennbar. Sie ist auch dürftig. In ihrer Pracht hier eigentlich eine überflüssige Veranstaltung! Wenn da nicht diese wundervollen Schauspieler gewesen wären! Zu deren Schein noch ein Sinn – und wir hätten Welttheater gehabt! * Bei den sogenannten Autorentheatertagen am Berliner Deutschen Theater von Welttheater keine Spur, nur sehr viel Provinz. Oliver Bukowski mühte sich wieder nur um Sterben und Tod (Deutsches Schauspielhaus Hamburg mit Bukowskis Stück »Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen«, Regie Markus Heinzelmann). Das Schwach- und Schwatz-Epos »Turm« von Uwe Tellkamp (müßte eigentlich Sumpfloch heißen) war vom Staatsschauspiel Dresden zwar zurechtgestutzt worden, blieb aber so trostlos langweilig wie der ganze 973-Seiten-Wälzer. »Spiel mir das Lied vom Tod« (Theater am Neumarkt Zürich) wurde vom Regisseur Rafael Sanchez selbst umgearbeitet – mußte das sein? Einen großen Film kriegt man zum Glück nicht klein. Schlimm waren die beiden Schimmelpfennig-Produktionen »Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes« (Burgtheater Wien) und »Wenn, dann: Was wir tun, wie und Warum?« (Schauspiel Frankfurt am Main). Purer Naturalismus. Sind wir wieder im späten 19. Jahrhundert gelandet? Doch die Schreiber um Gerhart Hauptmann verstanden wenigstens noch ihr Handwerk! Der neuerdings viel gespielte Schimmelpfennig ist absolut überschätzt. Liegt es am Mangel an Autoren, daß ein Einäugiger unter Blinden halt immer noch König ist? Ein Glück, daß wenigstens wieder Elfriede Jelinek gespielt wurde: »Winterreise« ist wenigstens Literatur, und das Ensemble der Münchener Kammerspiele versteht sich wenigstens noch auf schlüssiges und formbewußtes Theater, namentlich Jan Czaikowski, Stefan Hunstein, Wiebke Puls, Hildegard Schmahl. Vom selben Ensemble sei auch »Alpsegen« von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel empfohlen. * Mein Haupteindruck vom letzten halben Jahr: Mehr oder weniger Klein-Klein, meist im Bereich des heißgeliebten und perfiden Unterleibs. Hat die Welt keine anderen Sorgen? Sicher, es ist auch in diesen kleinen Hohlräumen nicht alles in Ordnung. Aber wie banal angesichts dessen, was um uns geschieht? Da bersten Atom-Anlagen, stürzen die höchsten Häuser der Erde zusammen, verhungert halb Afrika, krachen die Banken, sanieren sich einige steinreiche Nabobs, gehen ganze Volkswirtschaften und Währungen zugrunde – und diese Dramatiker, diese Theater befassen sich mit Beischlafproblemen, Identitätskrisen feinsinniger Individuen, beinlosen Sofas, Mittelschichtsgeschichtchen; geraten sie aber wirklich einmal an ein wichtiges Thema, etwa Aufrüstung in »Supernova« (Philipp Löhle) oder Krieg in »Balkanmusik« (Daniel Metzger), nehmen sie es hilflos an, da sie nicht wissen, was sie wollen oder auch sollen. Die beiden genannten Stücke werden nicht in Berlin, sondern in Mainz und Mannheim gespielt. Paradebeispiel für Hilflosigkeit ist »Tape« von dem US-amerikanischen Autor Stephen Belber. Wieder eine dieser armseligen Dreiecksgeschichten, zu sehen in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin, inszeniert von Stefan Pucher. Der Stoff ist ebenfalls schon verfilmt und das Thema derart ausgelaugt, daß uns damit offenbar nahegelegt wird, künftig ins Theater Schlafsäcke und Kopfkissen mitzubringen. Daß sich Paare verbinden und trennen und manchmal wieder verbinden, ist so alt wie die Tragödie, nur ging es damals meist blutiger zu, und im Streit lagen gesellschaftliche Formationen und Systeme. In der Neuzeit galt es als rechtspolitischer Fortschritt, daß sich versteinerte Bindungen leichter auflösen konnten. Daß das nicht konfliktfrei abgeht, versteht sich von selbst. Doch auf der Bühne ist es inzwischen Dutzendware. Ein Glück, daß es gute Schauspieler gibt: Die machen manchmal aus dramatischem Koks noch Edelsteine wie hier Nina Hoss. Dennoch: Es gibt wichtige, gewaltigere Themen. Man langweile uns nicht ständig! Im BE fragte ich mich, was Brecht wohl dächte, sähe er Wilson auf den Brettern seines Theaters. Immerhin, der hat noch ein Thema. Aber was könnten Otto Brahm und Max Reinhardt, Wolfgang Langhoff und Wolfgang Heinz, Benno Besson oder Adolf Dresen denken, sähen sie diesen Plattsinn? Zum Glück habe ich, meine Spaziergänge beendend, doch noch zwei welthaltigere Abende anzubieten. Der eine ist groß in seinem Untergangspessimismus, der andere bietet etwas Überlebenshoffnung und kühne Entwürfe an. Der eine verheißt gloriose Untergänge nicht ohne Kitsch, der andere Hoffnung auf angeblich Unmögliches, nämlich Kommunismus. Ich nenne Schlingensiefs offenbar bereits vom eigenen Tod gezeichnete Vision »Via Intolleranca II« und (im Mai beim Berliner Theatertreffen) setze ihr entgegen Alain Badious triumphales Gastspiel mit seinen Stücken »Ereignis in Antiochien« und »Achmed der Philosoph« (Hebbeltheater). Schlingensief, mit dessen Weltsicht ich niemals korrespondieren konnte, war gut im Handwerklich-Technischen. Das verführte und machte seine lebensverachtenden Vorstellungen so anziehend für ein bourgeoises Publikum, das offenbar nur noch am eigenen Überdruß und Untergang interessiert ist und ihm zujubelt. Da wird Dantes »Inferno« zitiert, Schlingensiefs Freund Nurkan Erpulat jammert in gleichem Tone in »Verrücktes Blut« (unlängst im Ballhaus Naunynstraße) mit. Und dann heulen sie im Quartett weiter mit Herbert Fritsch (schade um dieses Talent) und Kathrin Röggla. Es ist zum Heulen! Wie da die Welt dargestellt wird! Gewiß, diese Welt ist ganz und gar nicht in Ordnung! Das wissen – außer unbelehrbaren verantwortlichen Politikern – fast alle, vor allem die Betroffenen von ganz unten. Und an diesem Punkt versagen viele Autoren, Regisseure und Darsteller, die die verdammte Pflicht hätten, auch Gegenentwürfe zu liefern, Mögliches und Ideales. Kritik war allezeit Pflichtaufgabe von Kunst, aber besonders dann, wenn das Innere verpfuschter Gesellschaften so deutlich erkennbar ist wie heute. Ein Glück, das wenigstens von einem Beispiel großen Denkens und Spielens zu berichten ist: Alain Badiou, der uns im Juli besuchte. Die beiden genannten Stücke dieses Philosophen wurden hier kaum aufgeführt, eher gelesen, erklärt, demonstriert. Dies freilich äußerst eindrucksvoll. Badiou saß mit fünf Engländern auf der Bühne, und diese präsentierten den Text, der zu Stück und Spiel wurde. Badiou rührte als Erzeuger wie Dozierender eine erregende Mixtur an. Mit dem großen französischen Theatermann Antoine Vitez war nun auch das »Ereignis in Antiochien« selbst Ereignis geworden, gelesenes Ereignis: »Was Sie jetzt hören, kommt von ganz unten, aus dem Grab des Kommunismus«. Das hatte Wirkung aus dem Geist der Sache und der Stille. Wie auch immer die Qualität des Berliner Theaters einzuschätzen ist: Höhepunkte, gar Innovatorisches lieferte es in dieser vergangenen Spielzeit nicht – aber Quantität. Als ob die Theaterleiter und Regisseure den Regensommer geahnt hätten – sie gaben einem guten Publikum einen reichen Theatersommer!
Erschienen in Ossietzky 19/2011 |
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