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Keine Gestapo-Methoden im Wincklerbad – eine Absage an neonazisitische Geschichtsverfälschung.

Rezension

von Torben Ehlers

Utz Anhalt und Steffen Holz: Das verbotene Dorf. Das Verhörzentrum Wincklerbad der britischen Besatzungsmacht in Bad Nenndorf 1945 bis 1947; Offizin-Verlag, Hannover 2011, 191 Seiten, broschiert.

Fast "pünktlich" zum seit August 2006 jährlich stattfindenden, mittlerweile größten norddeutschen Neonazi-Aufmarsch am Wincklerbad in Bad Nenndorf ist im Offizin-Verlag eine umfassende historisch-politikwissenschaftliche Studie erschienen, die sich differenziert und kritisch mit den Vorgängen der britischen Verhörmethoden an Nationalsozialisten von 1945 bis 1947 auseinandersetzt.

Von 1945 bis 1947 internierte der britische Geheimdienst in der zum Verhörzentrum umfunktionierten Kureinrichtung "Wincklerbad" namhafte nationalsozialistische Größen wie Oswald Pohl (nach Himmler mächtigster SS-Organisator des Holocausts, S. 87), Hanna Reitsch (Testpilotin und NS-Symbolfigur, S. 91), Otto Dietrich (Hitlers Pressechef, S. 68) oder Horst Voigt (HJ-Führer, S.97) in Bad Nenndorf, um Informationen über begangene Kriegsverbrechen und einen möglichen Partisanenkrieg zu sammeln sowie Sabotageaktivitäten durch Freischärlertruppen zu verhindern (S. 33). Oft wird vergessen, dass mit der politischen Zuspitzung zwischen Westmächten und Sowjetunion ab 1946 auch potentielle kommunistische Spione fragwürdigen Verhörmethoden unterzogen wurden (S. 107ff).

Das Buch ordnet die Vorfälle im Wincklerbad, bei dem es zweifellos zu einzelnen Misshandlungen von Inhaftierten durch britisches Wach- und Verhörpersonal gekommen ist, durch eine umfangreiche Recherche sowohl der zeitgenössischen deutschen Quellen, in Kontext gesetzte wissenschaftliche und journalistische Untersuchungen der letzten Jahrzehnte als auch durch seit kurzem in England freigegebene Geheimdienstunterlagen in die geschichtliche und politische Nachkriegsperiode Deutschlands bis heute ein.

Dafür stellen die Autoren die aktuellen und brisanten Geschehnisse der letzten Jahre in Bad Nenndorf als neue Pilgerstätte für Neonazis vor (Kap. 1). Um einer Umdeutung von Geschichte entgegenzuwirken, bei der einflussreiche Nationalsozialisten zu Opfern stilisiert werden sollen, werden die Gründe für eine Einrichtung des Wincklerbades als Verhörzentrum im Zusammenhang mit der Situation Deutschlands nach der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 dargestellt (Kap. 2) sowie die Funktion dieses Zentrums detailreich dargelegt (Kap. 3). Die genaue Vorstellung der namhaften NS-Größen, aber auch einzelner potentieller Kommunisten (Kap. 3.6) sowie des britischen Lagerpersonals (Kap. 3.5) bildet das Fundament für eine individualpsychologische Herangehensweise an die heutigen Foltervorwürfe. In Kapitel 4 werden die größtenteils erst seit kurzem zugänglichen Untersuchungen britischer Militärgerichte von 1947 zu den Anschuldigungen und Vorkommnissen sowie der genaue Prozessverlauf gegen das britische Personal dargestellt, als auch die Urteile erklärt und begründet (Kap. 5). Zwei Interviews im Anhang mit einem ehemaligen Angehörigen einer heutigen britischen Spezialeinheit sowie mit dem Kulturkritiker Klaus Theweleit ordnen die Vorkommnisse bewertend in den Zusammenhang mit den Vorwürfen ein, die Briten hätten sich "Gestapo- und KZ-Methoden" bedient (S. 173ff). Denn die zentrale Frage der Forschungen war, ob im Wincklerbad systematisch und vorsätzlich mit physischen Foltermethoden zur Informationserlangung vorgegangen worden ist und der britische Geheimdienst somit wissentlich seine Kompetenzen überschritten hätte.

So zeigen die Autoren, dass es zwar zu individuellen Kompetenzüberschreitungen in Einzelfällen kam, diese Vorfälle letztlich aber durch die kritisch-demokratische Öffentlichkeit in Großbritannien selbst zutage gebracht worden sind und eine entsprechende Verfolgung dieser Vorgänge von Seiten englischer Behörden stattgefunden hat. Entgegen dem staatlich verordneten und mit Straffreiheit verbundenen Terror der NS-Herrschaft in Gestapo-Zentren und Konzentrationslagern werden gerade die qualitativen Unterschiede der prinzipiellen Rechtsstaatlichkeit britischer Vorgehensweise als demokratische Gefahrenprävention herausgearbeitet, auch wenn es diesbezüglich zu Missbrauch gekommen ist. Legitimerweise hat der britische Geheimdienst psychische Druckszenarien aufgebaut, wozu lange Verhöre, Schlafentzug, zeitlich begrenzte Mangelernährung, allgemein extreme Stresssituationen der Inhaftierten gehörten. Grundsätzlich wurden diese – im Gegensatz zu den vorsätzlichen Foltermethoden der Nationalsozialisten – ohne direkte und vorsätzliche physische Gewalteinwirkungen vollzogen. Das stellt die Untersuchung klar. Auch untermauert sie, dass gerade engagierte zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit und kritischer Journalismus in England maßgebliche Organe zur Benennung von potentiellem Unrecht im Wincklerbad gewesen sind, selbst wenn es sich um Kriegsverbrecher des NS-Regimes handelte. Hier liegt der wertvolle Impetus des Buches, der allem Geschichtsrevisionismus faktenreich ein für allemal den Boden entzieht. Seit dieser Untersuchung können sämtliche Vorwürfe der Neonazis, im Wincklerbad wären Nationalsozialisten zu Opfern einer alliierten Siegerjustiz geworden, ihrer Grundlage enthoben werden. Angesichts der Tatsache, dass die in den letzten Jahren stetig wachsenden Naziaufmärsche bis 2030 von den zuständigen Verwaltungsgerichten in Bad Nenndorf bewilligt worden sind, wird dieses Buch noch lange aktuell bleiben.

Der Autor Torben Ehlers ist Diplom-Sozialwissenschaftler und momentan Doktorand am Soziologischen Institut der Leibniz-Universität, Hannover

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sopos 8/2011