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Der Zensus 2011 geht auf eine Vorgabe der Europäischen Union zurück, die erstmals gemeinschaftsweit und zwingend eine Zählung der Bevölkerung, der Haushalte und Wohnungen in allen Mitgliedstaaten für 2011 vorschreibt. Ziel ist es, in allen EU-Staaten nach gleichen Kriterien erzielte, vergleichbare Ergebnisse zu gewinnen. Der Zensus soll Daten über Bevölkerung, Migration, Alter, Familienstand, Erwerbstätigkeit, Wohnsituation und vieles mehr liefern: statistische Grundlagen für künftige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Planungen von Bund, Ländern und Kommunen. Dabei geht es etwa um den demografischen Wandel, um Infrastrukturplanung und den Finanzausgleich der Länder untereinander wie auch den der Gemeinden. Das klingt zwar vernünftig, doch Planungssicherheit oder gar -gerechtigkeit sind damit noch lange nicht garantiert, denn aus aktuellen Zahlen erfolgt nicht zwangsläufig eine bessere und gerechtere Politik. Politische und wirtschaftliche Fehlplanungen basieren in der Regel nicht etwa auf fehlenden oder veralteten Daten, sondern auf einer falschen Bewertung oder auf einer verfehlten, interessegeleiteten Verteilungspolitik. Schon für die Volkzählung 1987 wurde mit »Sicherung der Renten« oder »Schaffung von Arbeitsplätzen« geworben, betrieben aber wurde eine Politik des Sozialabbaus. Über diese Bedenken hinaus dürfte der Zensus 2011 zumindest in Teilen verfassungswidrig sein: Er ist nicht nur aufwendig und teuer, er führt auch den Trend zur Verdatung der Bevölkerung fort, greift in Persönlichkeitsrechte ein und ist, wie jede Großdatensammlung, in größtem Maße mißbrauchsanfällig. Knapp 800 Millionen Euro wird der Zensus bundesweit kosten. Von dieser Volkszählung ist prinzipiell jeder Bürger, jede Bürgerin betroffen, manche sogar mehrfach: Anders als bei früheren Volkszählungen sind wir dieses Mal mit einem weitgehend verdeckt durchgeführten »registergestützten Zensus« konfrontiert: Dabei werden zunächst personenbezogene Informationen aller Bewohner aus etlichen staatlichen Datenbanken klammheimlich zusammengeführt – ohne Kenntnis und Einwilligung der Betroffenen. Die teils sensiblen Daten werden bei Meldebehörden, Liegenschaftskatastern, den Agenturen für Arbeit sowie aus anderen Quellen abgerufen, ungeachtet der ganz anderen Zwecke, zu denen sie eigentlich einmal erhoben worden sind. Dazu gehören neben den Grundmeldedaten auch Angaben zu Schulabschluß und Ausbildung, Eheschließungen und -scheidungen, Religion, Wohnungsstatus, Anschrift des Wohnungsgebers, Beruf, Arbeitsort und -stätte, Branche, Arbeitslosenstatus (etwa die Kategorie »nicht zu aktivierende Person«) und eine Liste bisher empfangener Sozialleistungen. Darüber hinaus wird ein erheblicher Bevölkerungsanteil verpflichtet, ja gezwungen, nahezu 50 Fragen aus dem persönlichen Lebensbereich zu beantworten. Dieses Stichprobenverfahren nach dem Zufallsprinzip soll der Sicherung der Datenqualität dienen und betrifft bis zu zehn Prozent der Bevölkerung; bundesweit sollen etwa acht Millionen Menschen betroffen sein. Ihre Auskunftsbereitschaft kann im Falle der Verweigerung entweder mit Verwaltungszwang – also unter Androhung und Festsetzung von Zwangsgeldern – oder per Androhung eines Bußgeldes bis zu 5.000 Euro durchgesetzt werden. Widerspruch oder Klage gegen die Befragung haben keine aufschiebende Wirkung, das heißt: Die Fragen sind jedenfalls vor einer gerichtlichen Entscheidung zu beantworten. Für diese Haushaltsstichproben werden bundesweit rund 80.000 Erhebungsbeauftragte (oder Interviewer) benötigt, die zu dem »Ehrenamt« auch verpflichtet werden können. Befreit werden kann nur, wem eine solche Tätigkeit aus gesundheitlichen oder anderen wichtigen Gründen (Krankheit, Gebrechen; beruflich/wirtschaftliche Nachteile) nicht zugemutet werden kann. Viele Kommunen finden nicht genügend Freiwillige und suchen deshalb Interviewer verstärkt per Anzeigen oder ziehen öffentlich Bedienstete heran; allerdings nicht ohne Risiko: Denn sobald es sich etwa um Bedienstete von Polizei- und Ordnungsämtern, Arbeits-, Sozial- oder Finanzämtern handelt, können leicht Interessenkollisionen und Mißbrauchsgelegenheiten entstehen. Mißbrauch droht auch, seit die rechtsradikale NPD angekündigt hat, eigene Mitglieder und Kader als Interviewer einzuschleusen, um so Zugänge und Strukturdaten aus erster Hand zu gewinnen. Die NPD erhofft sich Erkenntnisse über politische Gegner und Grundlagen für »nationaldemokratische Marktforschung«. Hiergegen formiert sich bislang nur zaghafter verbaler Protest: »Wir lassen uns von Faschisten nicht noch mal zählen!« Die Erhebungsbeauftragten, die man keinesfalls in die Wohnung lassen muß, fragen im Verlaufe ihrer Hausbesuche laut amtlichem Erfassungsbogen nach Geschlecht, Geburtsort und -land, Alter, Staatsangehörigkeit, Ausbildung, Familienstand, nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Haushaltsgröße, Familientyp, ausgeübtem Beruf, Berufsstellung und Erwerbsstatus. Auch Fragen nach dem Migrationshintergrund (Zuzug des Betroffenen oder eines Elternteils nach 1955) sind vorgesehen sowie – anders als es die EU-Vorgabe vorschreibt – nach der Religionszugehörigkeit – Fragen also, deren Beantwortung diskriminierende Folgen haben könnte. Menschen, die keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft angehören, sollen freiwillig Angaben über ihr »Bekenntnis zu einer Religion, Glaubensrichtung oder Weltanschauung« machen; und Muslime sollen offenbaren, ob sie sich dem sunnitischen, schiitischen oder alevitischen Islam zugehörig fühlen. Über diese Stichprobenerhebungen hinaus, die auch postalisch beantwortet werden können, sind alle rund 18 Millionen Haus- und Wohnungseigentümer verpflichtet, postalisch Auskünfte über ihre Immobilien zu erteilen, etwa über Größe und Alter der Gebäude, wie sie genutzt werden, wie viele Leute dort wohnen und wie die Wohnungen ausgestattet sind. Des Weiteren: Wohnungseigentumsverhältnisse, Heizungsart, Zahl der Wohnungen und Räume, WC, Badewanne oder Dusche, Art der Nutzung… Die Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften, Kasernen, Asyl-, Senioren-, Studenten-Wohnheimen, Krankenhäusern, Psychiatrie oder Gefängnissen werden ebenfalls erfaßt wobei die Gefahr sozialer Stigmatisierung nicht von der Hand zu weisen ist. Auch Obdachlose und Menschen ohne Papiere bleiben nicht verschont. Mit den zweckentfremdeten Informationen aus diversen staatlichen Datenbanken, angereichert mit sensiblen Daten einer Zwangsbefragung, können hoch- problematische Personenprofile entstehen. Die Datensätze werden zusammengeführt, zentral gespeichert und können über eine eindeutige Ordnungsnummer auch zugeordnet werden. Für jede Anschrift, jedes Gebäude, jede Wohnung, jeden Haushalt und jede Person wird eine Ordnungsnummer vergeben und geführt – obwohl das Bundesverfassungsgericht eine solche Identifikationskennziffer bereits in seiner Mikrozensusentscheidung von 1969 und in seinem Volkszählungsurteil von 1983 ausdrücklich untersagt hat. Denn, so das Gericht, »es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen« und ihn »zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren, sei es auch in der Anonymität einer statistischen Erhebung, und ihn damit wie eine Sache zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Beziehung zugänglich ist.« Die gesammelten und zusammengeführten Daten werden nicht etwa unverzüglich nach ihrer Auswertung gelöscht, sondern sollen nach dem Zensusgesetz bis zu vier Jahre lang gespeichert und über die Ordnungsnummern zu heiklen Personenprofilen verknüpfbar bleiben. So entsteht für einen langen Zeitraum eine riesige, schwer kontrollierbare zentrale Datensammlung mit hohem Mißbrauchspotential, wie es allen großen Datenbanken eigen ist. Hier lauern große Gefahren für Informationelle Selbstbestimmung, Datenschutz und Datensicherheit, die angesichts der technisch möglichen Re-Identifizierung noch erheblich gesteigert werden. Der Zensus 2011 dürfte deshalb in wesentlichen Punkten gegen das Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung verstoßen und damit gegen die Verfassung. Gründe genug, sich gegen den Zensus gerichtlich zur Wehr zu setzen, etwa in Form von Verfassungsbeschwerden. Leider hat das Bundesverfassungsgericht die größte, von über 13.000 Personen unterstützte Beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie nicht genügend begründet worden sei. Andere Beschwerden sind noch anhängig. Um so mehr Grund gab es, den Vorsitzenden der Zensuskommission, Professor Gert G. Wagner, mit dem Negativpreis BigBrotherAward 2011 auszuzeichnen (www.bigbrotherawards.de). Wagner erschien zur Verleihungsgala am 1. April in Bielefeld, um sich den Preis persönlich abzuholen – aber nicht etwa aus Einsicht, sondern um die Kritik der preisverleihenden Datenschützer, wie er sagte, »formvollendet zurückzuweisen«. Schließlich schaffe der Zensus 2011 »mehr Gerechtigkeit für die Bürger« – ein verheißungsvolles Argument, das den Betroffenen nur noch besser verklickert werden müsse. Weitere Informationen im Internet unter: www.vorratsdatenspeicherung.de; http://zensus11.de (hier bündeln sich Proteste und rechtliche Gegenwehr); www.zensus2011.de (das ist die offizielle Seite).
Erschienen in Ossietzky 9/2011 |
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