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Wie Schauspieler so sind, sagen sie dann: Der muß etwas Schlimmes erlebt haben! Damit kommt man bei Shakespeare leider nicht weit. Das ist eine Setzung. Malvolio ist übrigens auch gar nicht ›böse‹: Er trägt das Prädikat des Puritaners und drückt damit eine Geisteshaltung aus.« Bei Shakespeare ist es »oft so«, daß nicht nur autobiographische, sondern überhaupt biographische Hinweise auf die Bosheit seiner Figuren fehlen. Gerade auf Malvolio allerdings trifft der Befund nicht zu. Für die Ursache seiner Boshaftigkeit gibt es präzise Hinweise. Er ist ein Aufsteiger und will um jeden Preis seiner Herrin gefallen, noch ehe ihm der gefälschte Brief zugespielt und in ihm eine irreführende Hoffnung auf die Liebe Olivias erweckt wird, die ihn zum Gespött macht. Deshalb muß er sich durch übersteigerte Arroganz und Bösartigkeit gegenüber den »unter« ihm Stehenden auszeichnen, gegenüber dem Dienstpersonal und dem bei Olivia schmarotzenden ewig besoffenen Onkel Toby. Gerade Malvolios Bosheit ist soziologisch wie psychologisch außerordentlich modern motiviert. Meyerhoff bemerkt absolut zutreffend: »Das Bürgerliche wird mit Malvolio überhaupt erst konstituiert. Bürger gibt es nicht häufig bei Shakespeare. Wir kennen Dienerfiguren, den Falstaff. Aber diese komischen Figuren aus der Zwischenebene, die zur Macht drängen, die Bürgerlichen, denen eigentlich die Zukunft gehört, die findet man selten. (...) Malvolio drückt die Ideologie einer neuen Klasse aus.« Malvolio repräsentiert ein Bürgertum, das die Stellung der Aristokratie einnehmen will und sich, statt sie zu bekämpfen, bei ihr anschleimt. Es ist das Bürgertum, das zweieinhalb Jahrhunderte später seine Börsen, Bahnhöfe und Museen nach dem Vorbild der Adelsschlösser erbaut und die Manieren der Aristokratie, meist hilflos und daher lächerlich, zu imitieren versucht. Es verbündet sich mit jenen, von denen es getreten wurde, gegen die nachrückende Klasse und zeichnet sich dabei durch besonderen Eifer aus. In der deutschen Dramatik war es Carl Sternheim, der dieses Phänomen wie kein Zweiter auf die Bühne brachte. Auch Beate Seidel, die Dramaturgin der Stuttgarter Inszenierung von »Romeo und Julia«, will es genau wissen. Auf dem Programmzettel fragt sie: »Und was haßt Tybalt an diesen jungen Montagues so gnadenlos?« Aber es gibt darauf keine Antwort außer: Tybalt haßt die Montagues, weil er die Montagues haßt. Psychologisierung führt hier in die Irre. Tybalt haßt die Montagues, weil die Story das erfordert. Tybalt muß sie hassen, weil in Verona »zwei Häuser waren, durch alten Groll zu neuem Kampf bereit«. Das ist die Ausgangssituation, die Joachim Meyerhoff völlig korrekt eine »Setzung« nennt, weiter braucht Tybalt keine Gründe. Im Übrigen brauchen Menschen auch diesseits von Freud keine Gründe, um andere zu hassen. »Ich kann den Novotny nicht leiden!« heißt es in einem Chanson von Hugo Wiener. Bedenkenswerter als Tybalts Haß wäre die Frage, warum uns der Vers von der Nachtigall, nicht der Lerche nach mehr als 400 Jahren immer noch berührt. Wer sie beantworten könnte, käme dem Geheimnis Shakespeare näher. Denn wer sagt: »Es war die Nachtigall und nicht die Lerche«, wenn er meint, »es ist noch sehr früh«, der weckt dadurch bei uns mehr Interesse als durch ein totes Liebes-paar oder den Haß eines Capulet-Sprosses. Es ist ja schon bei Shakespeare nicht wahr, daß Romeo und Julia, wie die Regisseurin Catja Baumann sagt, bereit seien, für die Liebe bis in den Tod zu gehen oder, wie Beate Seidel behauptet, »in Schönheit gegen die unerbittliche Welt, die eine so ausschließliche Liebe nicht zulassen will«, zu sterben. Julia will zunächst nicht sterben, sondern eine List anwenden, um danach fröhlich mit Romeo weiter zu leben. Romeo will nicht im Widerstand gegen eine »unerbittliche Welt« sterben, sondern weil er Julia tot wähnt, Julia will sterben, weil Romeo dann tatsächlich tot ist. Ein Mißverständnis, das auch den Stoff für Komödien abgeben könnte. Hier wird es zur Tragödie: Tragisch ist der Tod, der hätte vermieden werden können wie die Vergiftung Luises durch Ferdinand in »Kabale und Liebe«. Dieser vermeidbare Doppeltod unterscheidet sich grundsätzlich vom – sei es durch gesellschaftliche, sei es durch scheinbar private Umstände motivierten – freiwilligen Doppelselbstmord, den die Romantik und die Trivialliteratur – Stichwort Mayerling – verklären; auch die japanische Literatur kennt ihn. Romeo und Julia haben gar keine Gelegenheit, den gemeinsamen Tod zu vereinbaren. Sie reden immer nur zu Toten und Scheintoten. Eigentlich ein bißchen deppert. Wie schön ist verglichen damit Ernst Lubitschs auf dem Schweizer Heimatroman »Der König der Bernina« basierender Stummfilm »Eternal Love«. Da gehen Marcus und Ciglia alias John Barrymore und Camilla Horn Hand in Hand in eine Lawine hinein, um einer ausweglosen Situation und – jawohl, Beate Seidel – einer »unerbittlichen Welt« zu entfliehen, die den unschuldigen Marcus als Mörder brandmarkt und Ciglia zur Ehe mit dem ungeliebten Lorenz verdammt hat. Mal ehrlich: Kommen Romeo und Julia dagegen an?
Erschienen in Ossietzky 3/2011 |
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