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Reisten Politiker der Freien Welt in die Hauptstadt eines dieser Staaten, wurde gemeldet, daß sie deren Obere auf das dem Volke Vorenthaltene nachdrücklich hingewiesen hätten. Gleichsam über Nacht sind den regierenden Politikern von Washington bis Berlin neue Erkenntnisse geworden. Die teilen sie nun ihren Völkern entweder selbst oder durch jene Fernseh-Nachrichtensprecher oder Talkshow-Moderatoren mit, die bislang mit empörter oder leidender Miene immer nur von jenen drei oder fünf ausgewählten Staaten sprachen. Jetzt ist die Rede von Diktaturen, ihren korrupten Herrschern und verderbten Oberschichten am Südrande des Mittelmeeres und sonst in der arabischen Welt. So erweitert sich ein Weltbild. Bewirkt haben das nicht forschende Gelehrte, sondern politische Demonstranten in Tunis, Kairo, Alexandria und weiteren Städten (bundesdeutsch: Wutbürger). Hätten da diese Aufgeklärten in Fernseh- und Zeitungsredaktionen – von Politikern wird das weder erwartet noch verlangt – nicht Grund, sich bei den Aufbegehrenden dafür ein wenig zu bedanken, daß sie ihnen auf die Gedankensprünge geholfen haben? Und hätten sie nicht Grund, sich bei Lesern und Zuschauern ein wenig wegen ihrer Jahre währenden Versäumnisse bei der Erfüllung ihrer Informationspflicht zu entschuldigen? Sie hätten schon. Doch sie schweigen, denn sie kennen sich als rückfällig – bei nächster Gelegenheit. Und die kommt. K.P. Ein Gespenst geht um – diesmal ist es das Volk in der arabischen Welt. Und es ist ein ganz reales Gespenst: abgemagert, halb verhungert, seit Jahrzehnten gedemütigt und geschunden. Der Aufstand begann in Tunesien, griff über auf Algerien, Ägypten, Jemen. In Jordanien und Mauretanien wurden vorsorglich die Preise für Brot, Öl und Zucker gesenkt. Ob das reichen wird? Die Demonstranten in Algier und Kairo winken mit tunesischen Fahnen, sie rufen die gleichen Slogans gegen ihre Despoten: »Verschwinde!« Und die Ägypter greifen auf Obamas Schlachtruf aus dem Wahlkampf zurück: »Yes, we can!« Es scheint, als habe das Volk nicht nur seine Würde zurückgewonnen, sondern, zumindest in Tunesien, seine Souveränität. Das alles fing geradezu alltäglich an: In einer westtunesischen Kleinstadt verbrannte sich ein diplomierter Informatiker, der keinen Arbeitsplatz gefunden hatte. Seinen Lebensunterhalt fristete er durch den Verkauf von Obst und Gemüse auf einem kleinen Karren, wozu er eine Lizenz gebraucht hätte, die er nicht besaß. Die Polizei wollte sich ein Zubrot verdienen, indem sie von ihm eine »Geldstrafe« zu erpressen versuchte. Nach der Selbstverbrennung kam es zu Demonstrationen. Die Polizei schoß, es gab Tote, die Demonstrationen weiteten sich aufs ganze Land aus – bis sich am 14. Januar der allmächtige Präsident feige davonmachte wie ein Dieb in der Nacht. Und er war ein Dieb. Zusammen mit seiner zweiten Ehefrau Leila Trabelsi und deren Söhnen und Töchtern hatte Ben Ali seit vielen Jahren das Land geplündert und Unsummen ins sichere Ausland geschafft. »Die Friseuse«, wie der Volksmund die Präsidentengattin nach dem von ihr erlernten Beruf verächtlich nannte, nahm auf ihrer Flucht gleich noch die Goldreserven des Landes im Umfang von 1,5 Tonnen (Wert: 45 Millionen Euro) mit. Die Welt rieb sich die Augen, kannte man doch Tunesien als sicheres und sympathisches Urlaubsparadies, erhielt das Land doch aufgrund seiner liberalen Wirtschaftspolitik Bestnoten des Internationalen Währungsfonds, war es doch ein Freund des Westens und vor allem der USA im »Krieg gegen den Terror« und wurde es doch auch von der früheren Kolonialmacht Frankreich – von Chirac bis Sarkosy – gelobt ob seiner »Stabilität« und der Fortschritte zum Schutz der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Dies alles, obwohl nicht nur bei amnesty international, sondern auch in den Menschenrechts-Länderberichten des US-Außenministeriums bis ins Detail nachzulesen ist, mit welcher Willkür und Bestialität der Despot sein Volk quälte. Schon lange sagten tunesische Wirtschaftswissenschaftler hinter vorgehaltener Hand, die Erfolgsstatistiken ihres Landes seien gefälscht und der IWF nehme das wohlgefällig hin. Doch selbst wenn dem nicht so war: Worin bestand das, was die Medien das »tunesische Wirtschaftswunder« nannten? Staatseigene Unternehmen wurden massenhaft privatisiert. Darüber entschied oft der Ministerrat oder der Präsident selbst. An die Spitze der Unternehmen wurden dann getreue Lakaien des herrschenden Clans gesetzt, oft genug Mitglieder der Trabelsi-Familie. Banken sprossen wie Pilze aus dem Boden, im Aufsichtsrat saßen stets die üblichen Vertreter des Clans. Die Familie ergriff Besitz von privaten Immobilien, deren rechtmäßige Bewohner bisweilen von Schlägertrupps vertrieben wurden. Eine besondere Einrichtung war der 1993 eingerichtete »Fonds für nationale Solidarität«, nach seiner Kontonummer 26/26 genannt. Die »Spenden« waren nicht freiwillig, sondern Unternehmen, Staatsbedienstete und Freiberufler wurden auf der Grundlage einer Tabelle veranlagt. Wer nicht zahlte, wurde bestraft: Unternehmen mit Steuernachzahlungen, Staatsbedienstete mit Entlassung. Der Fonds stand allein dem Präsidenten zur Verfügung, der damit, öffentlichkeitswirksam inszeniert, Wohltaten an Arme verteilte. Die Masse des Geldes verblieb jedoch in seiner Schatulle, da es keinerlei Kontrolle über die Verwendung dieser Mittel gab. Die jährlichen Einnahmen werden auf rund 30 Millionen Euro geschätzt. LoyalAls Reaktion auf die Proteste gegen den ägyptischen Präsidenten Muhammad Husni Mubarak wurde Omar Suleiman zum Vizepräsidenten ernannt; er soll wohl Mubarak demnächst ablösen. Bisher war Suleiman Chef des ägyptischen Geheimdienstes. Seiner Ernennung waren Konsultationen des ägyptischen Generalstabschefs Sami Anan mit der US-Regierung vorausgegangen. Was Suleiman sonst noch qualifiziert, berichtete die FAZ: »Die Amerikaner schätzen an ihm, daß er sich entschlossen gegen das Ausbreiten von Irans Machtanspruch in der arabischen Welt stellt und sich loyal zu Israel verhält … Suleiman unterhält intensive Kontakte zu den israelischen Sicherheitsdiensten…« Red. Mitentscheidend für den Erfolg des Aufstands war die traditionsreiche Einheitsgewerkschaft Union Générale des Travailleurs Tunisiens (UGTT). Deren Spitze war zwar vom System Ben Ali korrumpiert, die regionalen und lokalen Strukturen aber entzogen sich weitgehend der Kontrolle durch die Staatsmacht. Die Gewerkschaftshäuser in den Städten wurden schnell zum Ausgangspunkt der Demonstrationen. In der ersten nach Ben Alis Flucht gebildeten Übergangsregierung vom 17. Januar war die UGTT mit drei Kabinettsmitgliedern vertreten, die jedoch wenige Stunden später aufgrund des Drucks der Gewerkschaftsbasis zurücktraten. Im zweiten Übergangskabinett, das am 28. Januar gebildet wurde und dem außer dem Ministerpräsidenten keine Anhänger des ancien régime mehr angehören, ist die UGTT nicht vertreten, aber die Minister wurden wohl nicht ohne ihr Einverständnis ernannt. Die Gewerkschaft scheint sich so die Hände freihalten zu wollen für die Neugestaltung Tunesiens nach den binnen sechs Monaten zu erwartenden ersten wirklich freien Wahlen in diesem Land seit der 1956 errungenen Unabhängigkeit. Die tunesische Umwälzung war nur möglich dank der Unterstützung der gesamten Bevölkerung einschließlich der breiten Mittelschichten und dank der Weigerung des Militärs, auf die Bevölkerung zu schießen. Gerade letzteres zeigt, daß Despotie und Kleptokratie eine kollektive Gegenidentität gestiftet hatten. Dadurch wurde der Volksaufstand überhaupt erst möglich. Was mit einem sozialen Protest begann, endete in einer bürgerlichen Revolution – ein Meilenstein auf dem Entwicklungsweg der arabischen Welt, der gerade diejenigen westlichen Politiker und Publizisten, die die dortigen Diktatoren stützen, seit Jahrzehnten »Demokratieunfähigkeit« attestieren. Kontext:
Erschienen in Ossietzky 3/2011 |
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