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Neoliberalismus in der Kritik

Rezension

von Gregor Kritidis (sopos)

Seit den Protesten gegen die WTO-Verhandlungen in Seattle 1999 ist der Begriff des Neoliberalismus aus den Kreisen der Antiglobalisierungsbewegung in den Mainstream der bürgerlichen Öffentlichkeit vorgedrungen. Dennoch gibt es immer wieder Kritiker von rechts und links, die darin nur ein unbestimmtes Schlagwort oder einen substanzlosen Kampfbegriff sehen wollen. Daß dem nicht so ist, haben die Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak und als weiterer Autor Tim Engartner systematisch, fundiert und zudem gut lesbar in ihrer Veröffentlichung "Kritik des Neoliberalismus" aufgearbeitet. Mit ihrem Buch ist den Autoren eine klare, kritische Begriffsbestimmung der ideologischen und gesellschaftlichen Strömung des Neoliberalismus gelungen. Es richtet sich über den wissenschaftlichen Bereich hinaus an ein breites Publikum – ein erfreulicher Anspruch ganz in der Tradition aufklärerischen Denkens.

Ralf Ptak widmet sich im ersten Beitrag des Bandes der historischen Entstehung des Neoliberalismus. Dieser habe sich einerseits gegen den nach dem Ersten Weltkrieg gestiegenen Einfluß der Massenparteien und Gewerkschaften gerichtet, andererseits gegen den Einfluß keynesianistisch orientierter Wissenschaftler und Wirtschaftspolitiker im Gefolge der großen Krise der 30er Jahre. Den Zusammenbruch des „freien“ Marktes interpretierten die Neoliberalen als Versagen von Staat und Politik um. Das habe die neoliberalen Vordenker jedoch keinesfalls daran gehindert, dem Staat eine besondere Funktion zuzuweisen: Wenn der Markt eine "natürliche" Ordnung darstelle – ein Gedanke, der insbesondere durch Friedrich August Hayek ausgearbeitet wurde – , die durch Eingriffe gesellschaftlicher Gruppen gestört werde, müsse der Staat dafür Sorge tragen, diese Einflüsse zurückzudrängen. Der Staat, so wird Walter von Eucken zitiert, solle „nicht entgegen die Marktgesetze, sondern in Richtung der Marktgesetze“ eingreifen und damit "zur Beschleunigung des natürlichen Ablaufs beitragen".[1] Dadurch bekomme der Neoliberalismus einen äußerst elitären und autoritären Zug. Vor allem in Deutschland hätten sich die Ordoliberalen wie Alexander Rüstow dabei auf den Vordenker des totalen Staates, Carl Schmitt, bezogen.[2] In den angloamerikanischen Ländern sei der Neoliberalismus weniger etatistisch, aber nicht minder elitär und autoritär fundiert, wie Ptak exemplarisch am Menschenbild August von Hayeks herausarbeitet, dessen antiaufklärerische Stoßrichtung alle hehren Ideale des Liberalismus wie Freiheit und Individualismus hinter sich lasse.[3] Die profunde Analyse und Kritik der ideellen Grundlagen des Neoliberalismus bettet Ptak immer wieder in die historischen Entwicklungen ein; etwas zu kurz kommt dabei allerdings die wichtige Phase der 70er und 80er Jahre, als mit der Krise des Keynesianismus der Neoliberalismus seinen Siegeszug antrat.

Tim Engartner analysiert in seinem Beitrag die Strategien, mit der sich große Teile der politischen Klasse für die Aneignungspläne privater Interessengruppen einspannen lassen und wie diese Raubzüge öffentlich legitimiert werden. Individuelle Freiheit und Demokratie werden demnach an der privaten Verfügungsmacht über Eigentum gemessen – seinen konsequenten Ausdruck habe dieses Denken im Dreiklassenwahlrecht gefunden, dennoch erfreue sich diese theoretische Position auch heute wieder großer Beliebtheit. Öffentliche Güter seien nur da akzeptiert, wo man – wie bei Leuchttürmen oder der Feuerwehr – von ihren positiven Wirkungen ohnehin nur schlecht jemanden ausschließen könne.[4] Engartner weist zu recht das neoliberale Effizienz-Kriterium zurück; was sich betriebswirtschaftlich "rechne", sei keinesfalls zwangsläufig auch volkswirtschaftlich rational. Im Gegenteil: Am Beispiel erfolgter Privatisierungen und ihrer verschleiernden Instrumente wie Cross-Border-Leasing und Public Private Partnership zeigt er auf, wie verheerend sich die Privatisierungen bereits ausgewirkt haben: Steigende Preise, ein verringertes Leistungsangebot und eine allen sozialen und ökologischen Überlegungen zuwiderlaufende Strukturpolitik. Das Ziel der Privatisierungen sei eingebettet in das internationale Institutionen-System und werde durch rechtliche Regelungen flankiert, die in immer weiterem Maße nationale und demokratische Regelungen ausgehöhlt hätten. Privatisierung bedeute mithin Entdemokratisierung.

Daß eine Armee zu den öffentlichen Gütern gehöre, bleibt freilich unkritisiert. So kommt insbesondere die Landesverteidigung keinesfalls allen in gleichem Maße zugute, da eine Armee auch der Aufrechterhaltung der Eigentumsordnung dient und zwar im zunehmenden Maße – man denke nur an Afghanistan – in weltweitem Maßstab.

Christoph Butterwegge widmet sich in seinem Beitrag der ideologischen Legitimation derjenigen Maßnahmen, die häufig unter Begriffen wie Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik abgehandelt werden, tatsächlich aber fast alle gesellschaftlichen Bereiche umfassen. Im Kern gehe es um eine "Verbesserung der Kapitalerträge" und eine Verbilligung des Faktors Arbeit.[5] Die grundlegende neoliberale Agenda sei bereits 1982 im sogenannten Lambsdorff-Papier formuliert worden – jener Programmatik, mit der die FDP den Bruch mit der Sozialdemokratie vollzog und in eine Koalition mit der CDU/CSU eintrat. Butterwegge erinnert daran, daß es die Sozialdemokratie gewesen ist, die mit der Agenda 2010 über jene Programmatik hinausgegangen ist – eine nicht nur für Sozialdemokraten bittere Feststellung. Wie es dazu kommen konnte, wird im Folgenden analysiert. Butterwegge konstatiert, daß es auf allen Ebenen zu einer Umdeutung zentraler Begriffe gekommen ist. So werde von neoliberaler Seite der soziale Wohlfahrtsstaat nicht mehr als Reaktion auf die sozialen Verwerfungen kapitalistischer Vergesellschaftung betrachtet, sondern als Ursache für ein ganzes Bündel sozialer Probleme.[6] So sei der Gerechtigkeitsbegriff in weitreichendem Maße umgedeutet worden: Statt von Verteilungs- werde von Beteiligungsgerechtigkeit, statt von sozialer Gerechtigkeit von Generationengerechtigkeit gesprochen. In der Konsequenz werde der Sozialstaatsgedanke auf den Kopf gestellt: Förderung erhielten die Besserverdienenden, gleichzeitig würden die ohnehin Benachteiligten von der politischen Mitgestaltung zunehmend ausgeschlossen und durch bürokratische Maßnahmen schikaniert. Die als "Leistungsgerechtigkeit" verklärte Konkurrenz- und Standortideologie habe notwendiger Weise zur Folge, daß sich rassistische, sozialdarwinistische und nationalistische Ideologien verbreiteten und eine Brutalisierung sozialer Verhältnisse um sich greife.

Einen demokratietheoretischen Zugang wählt Bettina Lösch, die systematisch die antidemokratischen Implikationen der neoliberalen Ideologie herausarbeitet: Wenn Politik einzig und allein die Funktion zukommen soll, staatliches Handeln darauf auszurichten, die Kräfte des Marktes zu entfesseln, seien alle denkbaren Alternativen von vornherein ausgeschlossen. Entsprechend orientierten sich die Neoliberalen nicht mehr an den klassischen Vorstellungen von Demokratie, sondern identifizierten die demokratischen Institutionen mit dem Markt, auf dem verschiedene Anbieter um Wahlstimmen konkurrierten. Die Staatsbürger seien in diesem Denken nicht mehr der Souverän, sondern nur noch eine Masse von Konsumenten, die wie im Supermarkt zwischen oberflächlich verschiedenen, aber im Kern identischen Produkten wählen könnten. Die kritische Analyse der Beeinflussung von Parteien und Mandatsträgern, sei es durch Lobbygruppen, private Brain-Trusts wie die Beterlsmann-Stiftung oder vermittelt über die politische Meinungsbildung, bleibe in diesem Zusammenhang ausgeblendet.[7] An die Stelle einer politischen Öffentlichkeit trete die Manipulation der Wähler-Konsumenten mit Methoden der Reklametechnik. Die Lobbygruppen würden dabei allerdings keinesfalls gleich behandelt. So würden etwa demokratisch verfaßte Organisationen wie Gewerkschaften seit den 20er Jahren als unzulässiger Beeinflussungsfaktor staatlicher Entscheidungsprozesse denunziert.

Als Gegenmodelle würden zivilgesellschaftliche oder "Global-Governance"-Konzeptionen propagiert, deren neoliberale Einbettung jedoch nicht hinterfragt werde. Keinesfalls böten sie eine Alternative zur Forcierung der Privatisierung politischer Entscheidungsprozesse, sondern verhielten sich dazu komplementär. Je weiter der Neoliberalismus als politische Bewegung voranschreite, desto mehr zerfalle die Demokratie und würden antidemokratische Kräfte und Tendenzen gestärkt.

Mit dem vorliegenden Band haben die Autoren eine fundierte Ideologiekritik der vorherrschenden, für die gegenwärtige Phase des kapitalistischen Weltsystems spezifischen Integrations- und Herrschaftsideologie vorgelegt. Mit großer Klarheit und anhand zahlreicher aktueller Beispiele werden die immanenten Widersprüche neoliberaler Ideologiebildung analysiert und mit einer, der Absurdität vieler Ideologeme fast schon nicht mehr angemessenen Sachlichkeit, kritisiert. Dabei drängt sich eine Frage auf, die für die politische Linke von entscheidender Bedeutung ist: Warum war die neoliberale Strömung mit ihrem scheinbaren Freiheitsversprechen derart erfolgreich? Nun ist zwar nicht von der Hand zu weisen, daß die herrschenden Eliten den weit überwiegenden Teil der öffentlichen Meinungsbildung monopolisiert haben. Der Erfolg des Neoliberalismus basiert aber nicht allein auf reiner Manipulation. Peter Birke hat darauf hingewiesen, daß dem "winter of discontent" in Großbritannien, der noch ganz im Zeichen der Arbeitermilitanz gestanden hatte, wenige Monate später die Regierungsübernahme durch Margret Thatcher folgte.[8] Es gab also durchaus breite Zustimmung zu einem politischen Versprechen, daß die Linke im Kern nicht mehr repräsentierte und daher nicht mehr glaubwürdig vertreten konnte. Dieser rationale Kern des theoretischen und politischen Irrationalismus muß – das wäre eine wichtige Konsequenz der „Kritik des Neoliberalismus“ – dringend begrifflich in die Zange genommen werden.

Anmerkungen:

[1] Ralf Ptak: Grundlagen des Neoliberalismus, in: Christoph Butterwegge, Bettina Lösch und Ralf Ptak: Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 2007, S. 35.

[2] Ptak: Grundlagen, a.a.O., S. 33ff.

[3] Ebd., S. 58ff.

[4] Natürlich ließe sich auch die Feuerwehr privatisieren; im Gegensatz zum alten Rom wäre es allerdings gemeingefährlich, jemanden von den Löschdiensten auszunehmen. Löscharbeiten erst zu beginnen, wenn der Geschädigte bereit ist, seinen (brennenden) Besitz zu Spottpreisen veräußern, wäre allerdings eine konsequente Weiterentwicklung der Idee der Selbstregulierung auf dem freien Markt. Auch beim Verkauf von Feuerversicherungen ergäben sich dann neue Geschäftsfelder: Die Anbieter bräuchten nur darauf hinzuweisen, wie leicht ohne Versicherungsabschluß ein Feuer ausbrechen könnte.

[5] Butterwegge: Rechtfertigung, Maßnahmen und Folgen einer neoliberalen (Sozial-)Politik, in: Kritik des Neoliberalismus, a.a.O., S. 137.

[6] Diese Umdeutungen haben mittlerweile ein Orwellsches Ausmaß erreicht.

[7] Staatliches Handeln ist, da die institutionellen Gegenkräfte weitgehend fehlen, mittlerweile in immer stärkerem Maße privaten Interessen ausgeliefert. Daß bezahlte Lobbyisten intellektuelle Zuarbeit für staatliche Stellen leisten und Gesetzesentwürfe teilweise von Managern privater Konzerne geschrieben werden, dringt mittlerweile immer öfter in die bürgerliche Öffentlichkeit. Umgekehrt gibt es eine große Zahl von Politikern, die auf der Gehaltsliste einer oder mehrerer privater Unternehmen stehen.

[8] Peter Birke: "Wir sind die Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts". Rechtsparteien in Dänemark.

Das Buch "Kritik des Neoliberalismus" von Christoph Butterwegge, Bettina Lösch und Ralf Ptak ist im Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) erschienen, umfaßt 298 Seiten und kostet 12,90.

Dr. Gregor Kritidis ist Sozialwissenschaftler, Mitherausgeber der sopos und lebt in Hannover.

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sopos 7/2008