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Wege aus dem Irrgarten

Budenzauber der Moderne in Athen

von Gregor Kritidis (sopos)

Ich spreche kein grichix.

Tradition und Moderne - mit diesem Begriffspaar wird in Reiseführern und wissenschaftlichen Publikationen gerne die griechische Gesellschaft charakterisiert.[1] Alte Leute auf dem Rücken von Maultieren und junge Leute in Internet-Cafés illustrieren diese Gegenüberstellung. Eine zutreffende Charakterisierung?

Wer mit dem Flugzeug nach Athen kommt, ist zunächst mit dem konfrontiert, was zumeist als "modern" bezeichnet wird: Dem nach dem liberalen Staatsmann benannten Flughafen Eleftherios Venizelos, ein Ufo-artiges Bauwerk weit vor der Stadt, das sich kaum von einem neuen Verwaltungsgebäude irgendwo in Mitteleuropa unterscheidet: Ein Zweckbau mit viel Glas, Stahl und Beton ganz nach dem Geschmack durchschnittlicher Geschäftsreisender. Seit der Anschluß an die Attiko Metro fertiggestellt worden ist, läßt sich bequem in das Athener Stadtzentrum weiterreisen. Im Gegensatz zu vielen anderen Ecken von Athen ist alles sauber und gepflegt: Keine Graffitis, keine auf dem Boden klebende Kaugummis, keine Raucher in den Stationen. Überwachungskameras sollen garantieren, daß Fehlverhalten unterbleibt, und musikalische Beschallung mit westlicher Pop-Musik signalisiert Bettlern und Straßenmusikanten schon von weitem, daß sie hier nichts zu suchen haben.

Der Flughafen, die neuen Metro-Linien, die Ring-Autobahn um Athen, die Brücke Rio-Antirio, die in Westgriechenland die Peloponnes mit dem Festland verbindet, die Egnatia-Nationalstraße, die von Igoumenitsa an der nordwestgriechischen Küste bis zur türkischen Grenze führen wird, - diese gigantischen Bauprojekte sind durchaus vergleichbar mit den Industrialisierungsschüben vergangener Epochen, als der Isthmos von Korinth und die Eisenbahnlinie Athen - Thessaloniki entstanden oder das Straßennetz ausgebaut wurde. Sind große öffentliche Bauinvestitionen jedoch das Kennzeichen von Modernität?

Der Chic der neuen Großbauten hat eine nicht weniger moderne Unterseite: Vetternwirtschaft und Korruption, grundlegenden Sozialstandards spottende Arbeitsbedingungen, die vielfach tödliche Arbeitsunfälle zur Folge haben - allein 2006 sind 120 Menschen bei der Arbeit tödlich verunglückt - und ökologische Schäden. Diese andere Seite der "Globalisierung" in Griechenland hat Petros Markaris in seinen Krimis oder seiner Kurzgeschichtensammlung "Balkan Blues" treffend beschrieben.[2] Es ist diese andere Seite, die sich immer wieder ins öffentliche, ins mediale Bewußtsein drängt. Ein Beispiel dafür ist ein Skandal, der in diesem Jahr dem Arbeits- und Sozialminister Savvas Tsitoridis das Amt gekostet hat: Staatliche Funktionäre, darunter ein enger Mitarbeiter des Ministers, haben in großem Stil Rücklagen der Rentenversicherungen veruntreut, indem sie mit diesen überteuerte Obligationen gekauft haben. Während hier eine Selbstbedienung im großen Stil stattgefunden hat, muß gut ein Fünftel der Griechen, darunter viele Renter, mit weniger als 16 Euro am Tag auskommen.[3] Ein Gang durch eine der vielen Lidl-Fillialen, die in Griechenland in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, kann einen schnell überzeugen, daß davon niemand leben kann - die Preise vieler Produkte sind höher als in Deutschland. Es ist das löchrig gewordene Netz der Großfamilie, das strapaziert werden muß, um das Überleben zu sichern.

Ein anderes aktuelles Beispiel für die weniger schöne Seite der "Modernisierung" ist die Havarie des Kreuzfahrtschiffes "Sea Diamond" vor Santorini in diesem Jahr. Erst im Jahr 2000 war die Fähre "Express Samina" verunglückt. Für eine Nation, in der die Schiffahrt eine bedeutende Rolle spielt, sind derartige Unfälle ein Menetekel.

Wer am Syntagma, dem Platz der Verfassung, die Metro verläßt, ist noch in der Station mit einer vielfach verborgenen, klassischen Modernität konfrontiert: Dem Athen der Antike, von dessen Überresten der Metro-Bau einiges zu Tage gefördert hat und nun die Station zu einem Museum macht. Und bald kommt die Akropolis in Sicht, jenes monumentale, aber dennoch leicht anmutende Gebäude, an dem gemessen Flughafen und Metro sich architektonisch mehr als spartanisch ausnehmen. Aber Athen sieht größtenteils anders aus: Wer etwa in der Station Tavros oder in Kallithea die Metro verläßt, ist schon nach wenigen Schritten dort gelandet, wo man sich kaum architektonische Schminke leisten kann: Gesichtslose Zweckbauten und enge Straßenfluchten, kleine Läden mit vergilbten Reklamen neben dem Budenzauber moderner Modegeschäfte und Fastfoutadika - jener griechischen Bezeichnung für die globalen Schnellrestaurant-Ketten. Renter, die Lose der staatlichen Lotterie oder geröstete Kürbiskerne verkaufen, stehen neben Immigranten aus Schwarzafrika, die Sonnenbrillen oder CDs feilbieten. Und in den Nebenstraßen lassen sich immer noch kleine, oft unrestaurierte zweistöckige Häuser im neoklassizistischen Stil und Bauhaus-artige Gebäude aus den 50er Jahren finden, die nicht von der Einheits-Architektur der 60er und 70er Jahre verdrängt worden sind - sei es, weil sich eine Erbengemeinschaft nicht einig werden konnte, sei es, weil ein Besitzer eigensinnig dem schnellen Profit getrotzt hat.

Je mehr das alte Athen der Nachkriegszeit durch den modernen Städtebau zerstört worden ist, desto stärker hat sich eine Gegenbewegung Bahn gebrochen: Es gibt Geschäfte mit Möbeln und Uhren in traditionalistischen Stilrichtungen, mit denen dann moderne Appartements bestückt werden. Die Neubauten des letzten Jahrzehnts verraten gestiegene ästhetische Ansprüche und gestiegene finanzielle Möglichkeiten der Mittelschichten; im Erdgeschoß und Souterrain, wo ansonsten Immigranten aus Pakistan, Albanien oder Ägypten wohnen, befinden sich die PKW-Stellplätze, eine deutliches Zeichen für Wohlstand in den ansonsten hoffnungslos zugeparkten Straßen.

In der Vergangenheit war das Ferienhaus im Grünen das Ziel aller Athener, die es sich leisten konnten. In den letzten Jahren sind jedoch auch die Ansprüche an den öffentlichen Raum in der Stadt deutlich wahrnehmbar gestiegen. Viele Plätze sind neu gestaltet worden, und die Zahl der Fußgängerzonen hat sich sprunghaft erhöht. Unterhalb des Philopappou, dem der Akropolis gegenüberliegenden Hügel, im Viertel Thisseio und rund um den antiken Friedhof Keramikos sind viele Gebäude im neoklassizistischen Stil restauriert worden. Auf dem dort angrenzenden Gelände des alten Gaswerks, dem Gazi, ist in den alten Kesseln und Fabrikgebäuden ein für Athener Verhältnisse weitläufiges Veranstaltungszentrum eingerichtet worden. Gemessen an den Lebensverhältnissen der über vier Millionen Bewohner Athens sind das zumindest kleine Fortschritte.

Es muß eine besondere Herausforderung sein, in Athen Kinder großzuziehen. Die Vorstellung, Kinder sollten auch mal auf Bäume klettern oder ein Lagerfeuer machen, ist angesichts überfüllter Spielplätze absurd. Immerhin: Auf den öffentlichen Plätzen spielen Kinder Fußball, ohne daß die dort Tavli spielenden Rentner durch Fehlpässe oder Gebrüll gestört scheinen. Überhaupt ist der Durchschnittsgrieche wesentlich unempfindlicher gegen Lärm als der Zentraleuropäer. Es wird auch wesentlich mehr Krach gemacht: Diskutiert wird immer laut, und die Motorräder, die zu jeder Tages- und Nachtzeit unterwegs sind, scheinen ganz besonders auf Lautstärke frisiert.

Haus in Athen

Oberflächlich betrachtet ist das weitgehend halb- und illegal errichtete Athen ein städtebaulicher Alptraum. Vermutlich wäre die Stadt nicht lebensfähig, wenn es nicht eine verborgene sozio-kukturelle Struktur geben würde, die mit dem Berliner Kiez vergleichbar ist. Der griechische Begriff dafür ist "Jitonia", was mit Nachbarschaft nur sehr unzutreffend übersetzt ist. Es handelt sich um ein urbanes Kollektivbewußtsein, das sich sowohl von der Enge dörflicher und kleinstädtischer Strukturen als auch von großstädtischer Anonymität abhebt. Es ist auf das soziale, kommunikative Leben im Quartier bezogen, weitgehend informell und stellt eine Alternativ-Struktur zu den offiziellen Hierarchien da. So ist jemand, der in Kallithea wohnt, ein "Kallithiotis". Er sagt auch nicht: Ich fahre ins Zentrum, sondern: Pao Athina, ich fahre nach Athen, auch wenn es nur eine Viertelstunde mit dem Bus bis zum Syntagma-Platz braucht. Athen, das ist aus dieser Sicht nur das Gebiet zwischen Akropolis, Syntagma, Omonia-Platz und dem Lykavitto-Hügel. Auch untereinander sind die Stadtviertel zum Teil scharf gegeneinander abgegrenzt: So wird in Moschatou wie auf der Peloponnes Karneval gefeiert, und man muß mitunter nur die Straßenseite wechseln, um den Jecken zu entkommen. Die Ursache dafür liegt in der typischen Form, in der sich die Zuwanderung in die Städte entwickelt hat: Wer sich in der Stadt etabliert hatte, half Verwandten und Bekannten, in der Nähe Fuß zu fassen. Die Schübe der Verstädterung folgten diesem Muster: Nea Smirni [Neu-Smirni, die griechische Bezeichnung für Izmir] entstand, als nach der kleinasiatischen Katastrophe Anfang der 20er Jahre die Flüchtlinge eine neue Bleibe suchten. Und diejenigen, die während und nach dem Bürgerkrieg Ende der 40er Jahre aus politischen Gründen in der Anonymität der Großstadt untertauchen mußten, waren auf die Überlebenshilfe von städtischen Verwandten und Freunden zwingend angewiesen.

Die Jitonia beruht auf einem ungeschriebenen Prinzip gegenseitiger, vor allem spontaner Hilfe, die nicht mit Solidarität verwechselt werden darf: Es geht um das unmittelbare Ziel, das gemeinsame Leben im Quartier erträglich zu machen. Das bedeutet auch, die unterschiedlichen Lebensweisen zu akzeptieren. Das Jitonia-Bewußtsein ist schicht-, milieu- und klassenübergreifend, wobei es jedoch vor allem von den unteren Schichten getragen wird - denjenigen, die etwa ihre freie Zeit im Kafenion "Kallithea Agapi mou" [Kallithea, meine Liebe] verbringen müssen, weil sie kaum die Gelegenheit haben, das Quartier zu verlassen und auf dem Land einmal eine wirklich gute Aussicht - das heißt nämlich "Kali Thea" - genießen zu können.

Ihren hervorragendsten Ausdruck hat die Jitonia im Rembetiko gefunden, jener großstädtischen Musik, die in den 20er Jahren in den urbanen Hybridkulturen proletarisierter Milieus entstand. Der "griechische Blues" galt lange Zeit als verrucht und war bis in die 70er Jahre verpönt, häufig wurden Rembetiko-Lieder polizeilich verboten. In den 50er Jahren trat der Rembetiko dennoch seinen Siegeszug an, allerdings in domestizierter Form. Anspielungen auf politische Themen, Knast- oder Drogenerfahrungen wurden sorgsam aus den Texten gesäubert. In den 70er Jahren griffen Giorgos Dalaras und andere mit ihrer Interpretation von Rembetiko-Liedern aus der Besatzungs- und Bürgerkriegszeit diese verdrängten Traditionen auf. Mittlerweile werden alte Rembetiko-Aufnahmen, von denen nicht wenige übrigens in den USA aufgenommen wurden, als Massenware auf den Markt geworfen, ohne jedoch irgendwelche gesellschaftlichen Zusammenhänge zu thematisieren. Dennoch stellt die Tradition des Rembetiko einen Ausdruck dessen dar, was Zarko Paic den "kollektiven underground" des Westens genannt hat.[4]

Man könnte meinen, die Jitonia hätte ihre Bedeutung eingebüßt, weil sie keine herausragenden kulturellen Blüten treibt. Das wäre aber vermessen; es handelt sich ja um eine weitgehend verborgene, untergründige Struktur, und wer weiß, was sich aus dem Gemisch von Einheimischen, den erst jüngst zugewanderten pontischen Griechen aus der ehemaligen Sowjetunion, den Immigranten aus Afrika, Asien und den anderen Ländern des Balkan noch alles entwickeln wird. Die Jitonia ist ein weitgehend latentes Potential. Stadtplaner, die meinten, sich mit ihren Projekten über die Bewohner eines Quartiers hinwegsetzen zu können, haben an den Machtpotentialen der Jitonia mitunter keine Freude gehabt. Eine sozial-ökologische Stadtentwicklung müßte am Bewußtsein der Jitonia anknüpfen. Die Ideen dazu sind naheliegend: Den großzügigen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, eine weitgehende Verbannung von Autos aus der Stadt, eine Begrünung der freiwerdenden Flächen und vor allem eine flächendeckende Nutzung des Raumes auf den Dächern der Stadt als öffentliche Treffpunkte.

Davon sind die Politik der regierenden "konservativen" Nea Dimokratia und die der oppositionellen PASOK, die bis 2004 regiert hat, weit entfernt. Was an Reformen betrieben wird, dient vor allem dazu, die bestehenden Machtpositionen zu zementieren, nicht eine bessere Zukunft zu gewinnen. Getragen wird diese Politik von breiten Teilen der Mittelschichten, die davon durchaus profitiert haben, aber auch die Risiken einer zunehmenden sozialen Regellosigkeit zu spüren bekommen haben. Die soziale Lage ist nur von scheinbarer Stabilität; die Proteste gegen die Zulassung privater Hochschulen und den Umbau des Bildungssystems seit dem letzten Jahr haben erkennen lassen, daß sich die soziale Polarisierung bald wieder in einer politischen Polarisierung niederschlagen könnte. Daß die neoliberalen Kräfte in den beiden größten Parteien trotz seit Jahren verbreiteter sozialer Unzufriedenheit unangefochten das politische Feld behaupten, ist nicht ihrer programmatischen Ausstrahlungskraft geschuldet. Die großen Parteien sind kaum glaubwürdiger als der Mobilfunkanbieter Vodafon, dessen Werbebotschaften man weder zu Lande noch zu Wasser ausweichen kann und von dem jeder weiß, daß er in die größte Abhöraffäre der Nachkriegszeit verstrickt ist. Ihre Stärke besteht darin, daß es keine oppositionelle Kraft von Einfluß mit tragenden Alternativkonzepten gibt.

Politisches Plakat

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert war diese Kraft die kommunistische Partei (KKE), mittlerweile ist die KKE eine Art politischer Folklore-Gruppe mit Internet-Aufrtitt. Die jungen Aktivisten, die auf Hochglanz-Flugblättern für den 1. Mai werben, könnten dabei durchaus auch in eine Werbeagentur passen. Aber die Ikonographie ist mehr den 20er als den 90er Jahren verpflichtet, und zwar nicht einmal der Avantgarde der 20er Jahre.[5] Nach wie vor lebt die KKE vom Modernisierungsschub der Oktoberrevolution, deren Resultate sie verteidigt, auch wenn sie die traumatischen Ereignisse der Vergangenheit eines besseren belehrt haben müßten.

Der Synaspismos [Linkskoalition], der ebenfalls aus der kommunistischen Tradition entstammt, aber wesentlich durch die Studentenproteste gegen die Obristen-Diktatur 1973 geprägt ist, hat sich analog seiner Basis zu einer eher links-liberalen Partei der Mittelschicht entwickelt. Wie die Grünen in Deutschland ist der Synaspismos weit davon entfernt, neue gesellschaftspolitische Impulse zu geben. Man hält mit schlechtem Gewissen ebenso an den traditionellen Positionen fest wie am erworbenen Wohlstand.

Die PASOK hat in der Metapolitevsi nach dem Zusammenbruch der Obristen-Diktatur die Rolle des Exponenten sozialer Reformen übernommen. Es war in der Tat eine Allagi, eine Wandlung der gesamten Gesellschaft, die von der PASOK unter Andreas Papandreou angestrebt wurde. Die kleinbäuerlich-prolatarische Unterströmung trat für eine kurze historische Periode an die Oberfläche offizieller Politik. Die PASOK zehrt noch heute von dem Mythos des damaligen Emanzipationsversprechens an die Unter- und Mittelschichten, obwohl sie sich längst zu einer Partei der Gegenreform entwickelt hat. An ihrer Basis grummelt es, und viele Aktivisten hat es längst zur Antiglobalisierungsbewegung gezogen, in der sich zahlreiche enttäuschte Mitglieder der Linksparteien sammeln.

Neben der Linken stellt die Orthodoxe Kirche ein Gegenpotential gegen die neoliberale Modernisierung dar. In Panos Karnezis Roman "Der Irrgarten" ist ihre historische Rolle treffend gekennzeichnet:[6] Neben einem Kommunisten ist der Feldgeistliche der Einzige, der von der offiziellen Hierarchie unabhängig agiert. Die Oberkommandierende der in der anatolischen Wüste versprengten Armee, der die Verantwortung für ein Kriegsverbrechen trägt, ist längst morphiumabhängig und ständig an der Grenze zur Handlungsunfähigkeit. Der Pope bleibt aber ein potentieller Oppositioneller, der von seinen Möglichkeiten nichts ahnt. Als er sich zu einer halbherzigen Rebellion entschließt, ist es zu spät. Im Gegensatz zu dem Kommunisten muß er zur "Aufrechterhaltung der Ordnung" nicht einmal erschossen werden, sondern es reicht die Drohung, ihn der Lächerlichkeit preiszugegeben.

Orthodoxe Kirche in Miniatur.

Während bei der KKE noch ein vergangenes Emanzipationsversprechen mitschwingt, stellt die orthodoxe Kirche heute eine rückwärtsgewandte Institution dar. Dabei ist sie alles andere als unmodern. Im Gegenteil, die Kirche stellt ein modernes, global agierendes Unternehmen dar. Umfangreicher Besitz an Grund und Boden, Immobilien, Firmen, Hotels und Banken machen die orthodoxe Kirche zu einer weltweit agierenden Holding mit Dependenzen im östlichen Mittelmeer, in den USA, Australien und Mitteleuropa. Eine Besonderheit stellt freilich das zentrale Geschäftsfeld des Handels mit Glaubensartikeln dar, der trotz Sex- und Korruptionsfällen bisher keinen nachhaltigen Schaden genommen hat. Die Kirche ist nicht nur in den armen "rückständigen" Schichten der Bevölkerung verankert, obwohl sie gerade dort große Popularität genießt. Die orthodoxe Kirche verfügt durchaus über universitäre Think-Tanks und ist nicht wie die Mönche in abgelegenen Klöstern darauf angewiesen, sich mit einem Splitter von Kreuze Jesu oder einer Haarlocke Geltung zu verschaffen. Die Botschaft des Evangeliums scheint dennoch weitgehend verschüttet. In vielem ähnelt der Zustand der orthodoxen Kirche dem der katholischen am Vorabend der Reformation.

Daneben gibt es ein breites, heterogenes Spektrum verschiedenster Gruppierungen und Personen, die Auswege aus dem Labyrinth der falschen Alternativen der modernen griechischen Gesellschaft suchen. Dionysis Charitopoulos' Biographie über Aris Velouchiotis, den legendären Führer der Partisanen - der griechische Che Guevara -, stellt einen solchen Versuch dar, allerdings mit einer deutlich nationalen Färbung.[7] Wegweisender ist Demosthenes Kourtoviks postmoderner Roman "Die Mumie des Ibykus", der versucht, formale und nationale Grenzen zu überschreiten, ohne in einer Welt des Chaos den geistigen Anker der spezifisch griechischen Traditionen und Erfahrungen zu verlieren.[8] Noch sind es einzelne, die sich in einer kritischen Zeitdiagnose versuchen, aber sie sind überall abzutreffen: Auf dem internationalen Athens-Video-Art-Festival etwa wird ein Video mit dem Titel "Einstürze" gezeigt. Kürzer und prägnanter als mit den Bildern von Konstantinos Dimitropoulos läßt sich vieles nicht sagen: Eine nackte, weibliche Schaufensterpuppe am Kreuz, einstürzend; ein rotes Abendkleid wie eine Mamorbüste, die ebenso stürzt wie gleichförmige graue Büsten; eine Pyramide aus Münzen - mit der Unterschrift Black-Jack, dem in Griechenland beliebten Glücksspiel - teilt dasselbe Schicksal. Man könnte einwenden, eine solche Kritik sei nicht konstruktiv. Die Negation des Bestehenden ermöglicht aber erst die Freiheit, nach wirklichen Auswegen zu suchen - aus einem Irrgarten, der keineswegs spezifisch griechisch ist.

Anmerkungen:

[1] Vgl. z.B. Peter Zervakis, Das Parteiensystem Griechenlands. In: Oskar Niedermayer/Richard Stöss/Melanie Haas (Hrsg.), Die Parteiensysteme Westeuropas. Wiesbaden 2006, S. 189-211.

[2] Zürich 2005.

[3] Laut der linksliberalen Tageszeitung To Ethnos v. 3.4.2007 leben 2 Millionen Griechen von 470 Euro im Monat. Mit weniger als 16 Euro am Tag leben 20% der griechischen Bevölkerung.

[4] "Wir gehören alle zum Balkan". Freitag v. 27.4.2007.

[5] Vgl. www.kke.gr sowie die Seite des Risospastis ("Der Radikale")

[6] München 2005.

[7] Aris, O archigos ton atakton (Aris, Der Anführer der Unbeugsamen), Athen 2003.

[8] Leipzig 2002.

Kontext:

Siehe auch von Gregor Kritidis: Hannah Arendt - Eine deutsch-jüdische Eule in Athen, Goethe Institut.

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https://sopos.org/aufsaetze/46a3f96023f21/1.phtml

sopos 7/2007