Heuchelei mit Raketenschild

Sergej Guk

Als »lächerlich« hat jüngst die US-Außenministerin Condoleezza Rice die Argumente des um seine Sicherheit besorgten Rußland abgetan. Statt das Problem mit dem »strategischen Partner« Moskau (so das offizielle amerikanische Vokabular) zu diskutieren, versteckt sich Washington hinter Unschuldsbeteuerungen.

Dicht an den Grenzen Rußlands, in Alaska wie in Europa, haben die USA mit der Aufstellung ihrer Raketenabwehrsysteme begonnen, angeblich um ein Schild gegen die vermeintlichen Angriffe der »Schurkenstaaten« zu errichten. Und wer ist damit gemeint? Der Iran? Experten sagen, daß der Iran in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein wird, Interkontinentalraketen zu bauen. Wenn aber doch: Abwehrraketen können die feindlichen Objekte nur bei ihrem Start abfangen. Für diese Aufgabe kann ihre Stationierung in Europa nicht gedacht sein. Andere Ziele liegen viel näher.

Die Anflugzeit für US-Raketen von Westeuropa nach Rußland wird nach der Aufrüstung auf drei bis fünf Minuten verkürzt. Das bedeutet, wie der in Deutschland als früherer Botschafter bekannte Abrüstungsexperte Valentin Falin mir erklärt, daß die gesamte russische Abwehr auf Automatik umgestellt werden muß. Nicht die Politiker oder Militärs, sondern die Maschinen werden dann über einen Gegenschlag entscheiden. Eine ähnliche Situation gab es schon bei der Stationierung von amerikanischen Pershing-Raketen in den 1980er Jahren.

Neue Gefahren werden durch die Weiterentwicklung der militärischen Technologien entstehen. Beide Seiten werden ihre eigenen unberechenbaren Wege einschlagen. Nicht punktgenaue, sondern eher weitflächig wirkende Waffen sollen künftig für die Vernichtung gegnerischer Objekte eingesetzt werden, so Falin weiter. Das von der Antikriegsbewegung der 80er Jahre entwickelte Plakat: »Besuchen Sie Europa, solange es Europa noch gibt« kann dann sinnvoll nachgedruckt werden.

Die zehn US-Raketen in Polen würden keine Bedrohung für das Rußland darstellen, beteuern die Offiziellen in Washington. Das mag stimmen. Aber wer hat gesagt, daß sich die Amerikaner mit dieser Anzahl von Raketen begnügen?

Die NATO besitzt heute die drei- bis fünffache konventionelle Überlegenheit gegenüber Rußland. Die USA haben zudem neue Militärstützpunkte in Bulgarien und Rumänien eröffnet, sie drängen in den Kaukasus und nach Mittelasien – und das alles soll sich etwa nicht gegen Rußland, richten, sondern gegen den Iran oder Nordkorea?

Noch nie war der US-Militäretat so groß wie heute: rund 700 Milliarden Dollar. Für dessen Rechtfertigung braucht man reale Gefahren.                                                                                          

Erschienen in Ossietzky 11/2007