Was steht im Blickfeld?

Lothar Kusche   

Vor meinem Vaterhaus stand keine Linde. Da stand meistens gar nichts. In der unauffälligen Nebenstraße im Berliner Bezirk Reinickendorf gab es keine Bäume und keinen Briefkasten, bloß eine alte Litfaßsäule, die sich mit ß schrieb wie der Name des Berliner Buchdruckers, nach dem sie benannt ist. Nicht mit drei s wie die kaum noch vorhandenen Litfasssäulen. Damals gab es eine ältere Rechtschreibung. Eine Rechtschreibung ohne Rechtschreib-Reformalisten.

Auf dem baumlosen Gehweg stand in der Dämmerung manchmal doch was: die Person eines sogenannten Reichsluftschutzwarts, welche kontrollierte, ob kein Lichtschein aus unseren Fenstern blinzelte.

Viele Nachtstunden des Bombenkriegs verbrachte auch ich im hauseigenen Reichsluftschutzkeller auf einer wackligen Holzbank in einem feuchtkühlen und verwinkelten Gang. Da lebten wir nachts. Da lebten wir noch, atmeten aber schon Grabesluft. So verplemperte sich die späte Kindheit zwischen Bett, Sirenengeheul, der Bank zum Sitzen und Splitter-in-den-Hintern-Reißen, gedämpftem Erwachsenen-Gequatsche und nochmaligem Sirenengeheul (»Entwarnung«).

»Keine Trübsal ficht den Sinn der Jugend an.« Denkste, Euripides!

Nach dem nächtlichen Spuk gab es nichts oder wenig zu sehen außer einem gewissen Feuerschein. Im Glücksfall für uns: Feuerschein von weit her, und weit her hieß: weit weg.

Frische Luft war schon lange bloß ein Traum und nun ein Traum mit Brandgeruch.

Am nächsten Morgen spähten wir nach dem, was noch da war. Oft war manches aus unserem Blickfeld und aus unserem Leben verschwunden. Das Eckhaus mit dem Zeitungsladen und der Bäckerei – ein Trümmerhaufen. Eine Straßenbahn, ihr Anhänger und drei Autos – fünf Blechhaufen. Weiter hinten vor einer herausgerissenen Haustür ein seltsames Kleiderbündel mit zwei zugeschnürten Stiefeln am Ende ... der Überrest eines Menschen.

Da wußte man wenigstens, woran man war.

*

Heute hat sich vieles verändert.

Ob sich unser Blickfeld verändert hat, mag der Augenarzt diagnostizieren. Aber die Dinge, Geschöpfe, Vorgänge, die in unser Blickfeld geraten, und daraufhin in unserem Blickfeld stehen, sind von anderer und von neuer Art.

Selbstverständlich wird einer, der in finsterer Mitternacht nach längerer Reise heimgekehrt ist, erst mal schlafen gehen. Am nächsten Morgen aber macht er das Fenster auf, nicht um zu sehen, was noch da ist, sondern was vielleicht dazugekommen ist.

Die Bäckerei ist weg, denn der Bäcker ist gestorben, und jungen Bäckern sind einfachere Arten des wirtschaftlichen Selbstmords bekannt als die, einen Bäckerladen zu betreiben. Der Fleischer sah sich gezwungen, seine Schlachtbank an eine Kreditbank zu verpfänden. Die Post hat ihre hiesige Filiale geschlossen mit einem Hinweis auf die nächste Posthilfsstelle, welche bequem und rasch mit dem Ausflugsmotorschiff der Firma Stern und Kreis zu erreichen ist, das jeden Donnerstag (Pulverkaffee und Seemannskeks beim Kapitän erhältlich) nach Lübbenau verkehrt, außer im Winter, bei Mondfinsternissen und Liebes-Paraden.

Aber unser Freund schätzt als Optimist die Leuchtfeuer einer wirklich glücklichen Entwicklung und freut sich, was ihm nach dem frohen Erwachen in seinem Blickfeld begegnen:

- ein den mehrmals rundum erneuerten Berliner Ostbahnhof total ersetzender Hauptbahnhof (mit eigenem Gleis-Anschluß!), seiner architektonischen Schönheit wegen auch »Gasometer ohne Gas« genannt (Lagepläne, Kompaß, Nachtgeschirre und Sanitäter bitte mitbringen!),

- eine Kanzler-U-Bahn vom U-Bf. Brandenburger Tor über die Haltestelle Reichsbundestag zum Bundeskanzler-Sicherheits-Schloß (bei Regenfällen ­U-Boot-Einsatz-Verkehr für Zuzahler) und

- ein Riesenrad im Berliner Zoo – fast so groß wie der Europarat, in dem sich etwa 10.000 gut bezahlte Leute damit beschäftigen, die Beschäftigungslosigkeit von Millionen anderer Leute »zu analysieren«.

Na also! Da weiß er doch wenigstens, woran er ist.

Erschienen in Ossietzky 10/2007