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Mediale Gewißheit Sankt Erika Steinbach Ich weiß, Dietrich Kittner
Verzichten und gehorchenWenn Springers Massenblatt Bild titelt »So erziehen Sie Kinder richtig!«, kann etwas nicht stimmen. Das Blatt erzieht seine Leser mit Papstberichten, Pornographie und politischer Hetze zu autoritären Charakteren. Was verstehen die Bild -Macher von »richtiger« Erziehung? Bernhard Bueb, als »Deutschlands strengster Lehrer« vorgestellt, taugt zweifellos nicht als Ratgeber und Vorbild. Er beendete jüngst seine Laufbahn mit einer Streitschrift, die Bild als Serie veröffentlichte. Einzelne Folgen hießen »Nur strenge Eltern sind gute Eltern« oder »Nicht immer über alles diskutieren!«. Schuld an allem sind laut Bueb »der lange Atem Hitlers«, also nicht die Nazis, und die antiautoritären 68er. Deutsche Kinder müssen, so verkündet er, endlich wieder zum Verzicht erzogen werden: »Verzicht auf Freizeit, auf Genuß, auf Ausruhen [...] auf alles, was Spaß macht, das ist die Voraussetzung von Arbeit.« Bueb, der über Nietzsche promovierte, plündert bedenkenlos den Giftschrank der Pädagogik. Ihm geht es ums Ganze: »Die Zukunft Deutschlands hängt von der Rückkehr zur Disziplin ab«, erklärte er dem Nachrichtenmagazin Spiegel in einem vier Seiten langen Interview – denn wo Bild ist, kann der Spiegel nicht lange fernbleiben, und dann folgen bald alle anderen, auch der Rundfunk beteiligt sich an der Kampagne. Bueb weiter: »Ich halte Demokratie in der Schülermitverwaltung für Unsinn [...] Sie erzeugt eine Gewerkschaftsmentalität unter den Schülern und hat zur Folge, daß sie alle miteinander mehr Freiheiten einfordern.« Alle miteinander? Freiheiten? Aber nicht in Buebs Deutschland! Vor fünf Jahren – Bueb war knallharter Direktor des Elite-Internats Salem – feierten dreißig seiner Schüler den Tag der Deutschen Einheit mit allen drei Strophen des Deutschlandlieds, einer Hitlerrede und dem Hitlergruß. Ihr Anführer flutete das Zimmer eines andersdenkenden Schülers mit Kunstnebel, als wäre es eine Gaskammer. Bueb tat erschrocken, hielt aber an seinen autoritären Überzeugungen fest. Die Kinder seiner Millionen Leser werden die Welt noch das Fürchten lehren. Martin Petersen
GeilUnterwegs notiert: In Bremen heißt ein Gebäude der Landesregierung »Reichshof«. In der Nazi-Zeit hatten dort Reichsbehörden ihren Sitz. Wenige Schritte von dort in Richtung Bahnhof macht ein »Erotic Point« Reklame. Ein Schaufenster verheißt in großer roter Schrift »Hilfsmittel«. Ausgelegt und ausgehängt sind in diesem Fenster lauter schwarz-rot-goldene Fahnen. Das erinnert mich an eine Parole, mit der sich die »Republikaner« am Berliner Wahlkampf beteiligten: »Deutsch ist geil«. Die junge Frau auf dem Plakat, Objekt der Begierde, ist, wie ich hörte, nicht deutscher Herkunft. E.S.
Oppositionsfähig?Im Kapitalismus haben Sozialisten eine lohnende Aufgabe: Opposition. Nebenbei gesagt: Demokratie lebt geradezu von Opposition. Aber sind die führenden Berliner Landes- und auch die Bundespolitiker der Partei, die sowohl »Die Linke« (mit bestimmtem Artikel, der den Anspruch erhebt, alle Linken im Lande zu repräsentieren) als auch »Partei des demokratischen Sozialismus« heißt, wirklich Sozialisten? Verstehen sie sich selber so? In den vergangenen Jahren äußerten sie immerzu den Wunsch, sich als regierungsfähig zu erweisen. Nach alledem, was sie in der Hauptstadtpolitik mitverantwortet haben, fragt sich: Sind sie überhaupt oppositionsfähig? Arnold Venn
Walter Kaufmanns LektüreDie sechziger, siebziger Jahre in deutschen Landen, Studentenrevolten, weit verbreitete Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, das Attentat auf Rudi Dutschke und der Aufruhr gegen die Springer-Presse, Warnstreiks in der Stahlindustrie an Rhein und Ruhr, Berufsverbote und die Proteste gegen Atomkraftwerke – Erasmus Schöfer, Jahrgang 31, Fabrikarbeiter in Köln, promovierter Sprachwissenschaftler, Gründer des »Werkkreises Literatur der Arbeitswelt«, hat uns mit seiner Romantrilogie »Die Kinder des Sisyfos« in jene Zeit versetzt. Und das mit Macht über eine Strecke von nahezu 1.500 Seiten. Schöfer hat sein Handwerk über Jahrzehnte erproben können, er versteht zu erzählen, zu berichten, sich diverser Stilmittel zu bedienen: Miniaturen, Dialoge, Portraits, Dokumentarisches, Lyrisches, und vor allem prall und plastisch von der Liebe zu schreiben, von den Beziehungen der Geschlechter. Die Frauen, die er gestaltet, sind lebenstüchtig, schön und selbstbewußt, wissen sich zu behaupten, ihren Weg zu finden und darauf zu beharren: mit oder gegen ihre Männer – wie das Leben es will. Durch sie, die Frauen, werden die Männer über ihr berufliches, ihr politisches Wirken hinaus begreifbar, wird ihr innerstes Wesen offenbart. Wie erträgt es der Geschichtslehrer Viktor Bliss, wenn seine Frau Lena sich in der Theaterwelt entfaltet, nicht Kostümbildnerin bleibt, sondern Schauspielerin wird und sich am Ende einem anderen Mann zuwende? (Hier verflechten sich die politischen Beweggründe für sein Exil in Griechenland mit der schmerzlichen Erfahrung im Persönlichen – ein Exil, in dessen Verlauf ihm tiefe Einblicke in die blutige Zerschlagung der griechischen KP nach dem Krieg und deren späteres Wiederaufleben vermittelt werden und er gefährlich nah in die Aktionen von Jungkommunisten verwickelt wird; das sind bildhafte, höchst eindringliche Erzählstücke wie auch die packende Schilderung der Männerfreundschaft zwischen Viktor Bliss und Manfred Anklam, dem Düsseldorfer Arbeiterführer, der ihm für eine kurze Spanne Zeit nach Griechenland folgt.) Und was geht im Innersten des einstigen Sozialarbeiters und späteren Reporters Armin Kolenda vor, wie verkraftet er es, wenn die Bauerntochter Salli ihn verstößt, er die große Liebe seines Lebens verliert, weil er den Mut zur Offenheit über seine ehelichen Bindungen allzu spät aufbringt? Die Selbstüberwindung der jungen Salli bis zur Einwilligung in den Abbruch der Schwangerschaft (den Kolenda später bitterlich bereut) ist ergreifend gestaltet. Nicht minder die Schilderung der gewandelten Mutter-Sohn-Beziehung, nachdem die alternde Frau Kolenda sich zu einer Lebensbeichte durchgerungen und ihrem Sohn offenbart hat, daß sein vermeintlicher Vater nicht der leibliche ist. Wie sie ihm den Verlust ihrer großen Liebe von einst nahebringt und zugleich von dem so schmerzlichen Liebesverlust ihres Sohnes erfährt, das hat Schöfer meisterlich erarbeitet. Es zeichnet ihn aus, daß die sinnliche Schilderung intimster Verhältnisse zugleich auch die gesellschaftlichen Verhältnisse erhellt, sie beide gleichermaßen erlebbar macht. Mit dem Zyklus »Die Kinder des Sisyfos« ist ein Schriftsteller aus dem linken Spektrum Deutschlands in Erscheinung getreten, dessen »Ein Frühling irrer Hoffnung«, »Zwielicht« und »Sonnenflucht« (ein viertes Buch ist im Werden) den Maßstäben eines Peter Weiß und eines Uwe Johnson gerecht werden. Direkter gesagt: Schöfers Romane (auch der in Griechenland angesiedelte) spiegeln ein Stück unseres Lebens. Sie sind sehr zu empfehlen – besonders jenen, die damals im Osten nur ein fernes Echo jener Geschehnisse im Westen wahrnehmen konnten. W. K. Erasmus Schöfer: »Ein Frühling irrer Hoffnung«, »Zwielicht«, »Sonnenflucht«, drei Romane im Dittrich Verlag, zusammen 1.445 Seiten, 64.60 €
Zilja ist gestorbenZilja war Anariks Frau in den letzten Jahren. Die beiden wohnten nach einer heute kaum vorstellbar entbehrungsreichen Zeit endlich für immer in Moskau zusammen. Aus Romeo und Julia, die zueinander nicht kommen konnten, waren Philemon und Baucis geworden, alles war gut, und eine Liebe hatte sich erfüllt, die eine Jahrhundertliebe war. Aber es lebt heute kein Shakespeare oder Goethe, der die beiden unsterblich machen könnte. Andrej Eisenberger, von seinen Freunden Anarik genannt, ist der jüngere Sohn eines anarchistischen Gewerkschafters aus Bayern, der das Münchener Massaker von 1919 überlebt hatte, nach Sowjetrußland geflohen war und dort zum frühen Todesopfer Stalinscher Repressionen wurde. Friedrich Wolfs Frau Else nimmt sich uneigennützig auch Anariks an. In Peredelkino verbringt er zusammen mit den Brüdern Markus und Konrad Wolf, den Söhnen des amerikanische Journalisten Louis Fischer, dem Berliner Jungen Lothar Wloch, mit Zilja Selwinskaja, der Tochter des Dichters Ilja Selwinski, und vielen anderen Jugendlichen unbeschwerte Sommertage. Bevor Ziljas geliebter Freund Lothar nach dem Tod seines Vaters – auch der ein unschuldiges Stalin-opfer – im Juli 1941 nach Berlin zurückkehrt, nimmt er Anarik das Versprechen ab, Zilja in Zukunft für ihn zu beschützen. Aber auch Anarik ist in das Mädchen verliebt, so wie nur ein Achtzehnjähriger lieben kann. Dann beginnt der Krieg, und Anarik meldet sich sofort an die Front. Der Zug transportiert ihn und seine Kameraden jedoch statt in Richtung Westen weit nach Osten. Als vollkommen rechtlose Gefangene schuften sie in der Eiseskälte des sibirischen Winters bei der sogenannten Trud-Armee. Würde sich nicht ein Einheimischer, der Tatare Habibula, ein wahrer Mensch, um die unerfahrenen Stadtjungen kümmern, viele von ihnen müßten sterben wie die zahllosen Mädchen und Jungen aus den warmen südlichen Regionen des Riesenlandes. Aber einer, Leonid Eifert, nimmt sich doch das Leben und hinterläßt auf dem Tisch ihrer Wohnbaracke einen Brief: »Mein Tod soll nicht als Akt von Feigheit vor den kommenden Schwierigkeiten unseres Kollektivs der verbannten Moskauer Deutschen betrachtet werden, sondern ich fordere, daß mein Tod als Akt staatsbürgerlichen Protestes gegen die an uns von den NKWD-Organen und der Regierung begangenen Willkür zu gelten hat. Ich scheide aus dem Leben mit hoch erhobenem Kopf!« Abgesehen davon, daß diese Zeilen ihren Adressaten im Kreml niemals erreicht haben, ist auch kaum anzunehmen, daß sie ihn in irgendeiner Weise beeindruckt hätten. Um zu überleben, denkt sich Anarik sehnsuchtsvolle Briefe an die ferne Ziljuscha aus, aber er kann sie nicht abschicken, wohin denn in dem kriegsgeschüttelten Land? Der Krieg ist längst zu Ende, doch Anarik darf den Ort seiner Verbannung noch immer nicht verlassen. Dann, irgendwann Anfang der Neunziger, sieht er in einer Buchhandlung die russische Übersetzung von Markus Wolfs »Troika«, und er liest über die inzwischen fast vergessene kurze und fröhliche Zeit auf der Wolfschen Datscha. Er beschließt, nach Zilja zu suchen, findet sie, und die Perestroika erlaubt ihm endlich die Heimkehr nach Moskau. Lothar, der Westberliner, ist da schon lange tot. Anarik schreibt sein ganzes Leben auf, und Zilja hilft ihm, die an sie gerichteten Briefe gut und schlicht zu formulieren. Das wunderbare Buch erscheint auch in Deutschland (Andrej Eisenberger: »Wenn ich nicht schreie, ersticke ich – Eine wahre Geschichte von Liebe und Tod«, Verlag Das Neue Berlin 1997; zuletzt beim Verlag Weltbild erhältlich), und Markus Wolf fügt den Aufzeichnungen des wiedergefundenen Freundes ein sehr persönliches Nachwort über Schuld, Unschuld und Schicksal bei. Unvergeßlich ist mir eine Lesung mit allen dreien in Leipzig. Die Begegnung mit dem alten und weisen Mann und seiner feinsinnigen russischen Frau hat alle Zuhörerinnen und Zuhörer damals atemlos gemacht. Was hat die verfluchte Zeit diesen beiden Menschen angetan, und mit welcher Größe haben sie alle Prüfungen bestanden! Ohne sich selbst zum alleinigen Maß aller Geschehnisse zu machen, hat der ungebrochene Anarik mit seinen wahrhaftigen Aufzeichnungen ein großes Stück unvergänglicher Literatur geschaffen, das gerade in unseren Tagen – da Bücher, die außer dem Geständnis, bei der Waffen-SS gewesen zu sein, wenig Berichtenswertes enthalten, zu sogenannten Bestsellern werden – seinesgleichen sucht. Ich denke an Zilja mit Hochachtung und wünsche Anarik Kraft und Mut, so wie er uns Lesern und Zuhörern Kraft und Mut gegeben hat. Günther Drommer
WiderspruchWiderspruch ist das, was der Kapitalismus am dringendsten braucht – vor allem wenn er seine Propagandisten immerzu behaupten läßt, es gebe zu ihm keine Alternative. Widerspruch kommt aus Zürich, einer Zentrale des Finanzkapitals, seit 25 Jahren zweimal jährlich, und so liegt jetzt das 50. Heft vor, wie jedesmal mit Beiträgen aus der Schweiz, aus Österreich und Deutschland. Im Einleitungstext des Jubiläumsheftes schreibt Elmar Altvater über die Notwendigkeit von Alternativen allerlei Richtiges – aber ich wünschte es mir argumentativ und sprachlich zupackender. Mehrere Beiträge befassen sich mit der »Neuformierung der Linken«. Da berichten unter anderen Joachim Bischoff und Christoph Lieber über den Parteibildungsprozeß in Deutschland, wobei sie der PDS vorhalten, daß sie, statt zur Interessenvertretung sozialer Unterschichten und Verteidigerin des Sozialstaats zu werden, »über den Status einer Bürgerrechtspartei für die diskriminierten Bürger der damaligen DDR nicht hinausgekommen« sei und »sich schließlich in Koalitionen mit der Agenda-2010-gewendeten Sozialdemokratie in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern derart verstrickt« habe, daß »von den Grundsätzen einer modernen linkssozialistischen Partei in der Realität politischer Verantwortung wenig übriggeblieben ist«. Der sich formierenden Linkspartei empfehlen sie neben »beharrlicher und durchgreifender Aufklärungsarbeit« ein »konkretes politisches Projekt«. Dieser nicht sonderlich kühnen, aber offenbar nicht selbstverständlichen Empfehlung schließe ich mich an. Karl-Heinz Roth stellt in seinen abschließenden skeptischen Anmerkungen fest, bei dem »von oben« forcierten Prozeß der Vereinigung von PDS und WASG hätten sich die Initiatoren »nicht einmal auf eine einigermaßen kohärente keynesianische Variante sozialstaatlicher Re-Regulierung zu verständigen vermocht«. Um so notwendiger sei der Aufbau basisdemokratischer Opposition. Das Heft (Bestelladresse: Widerspruch , Postfach, CH-8031 Zürich) kostet 16 Euro plus Versand. Apropos: 25 Jahre alt wird auch die Zürcher Wochenzeitung (WoZ) – in der laut Eigenwerbung »wöchentlich widersprochen wird«. Ossietzky gratuliert. Red.
Grüne EntpolitisierungWer sich heutzutage politisieren will, braucht nur seinen Mitmenschen im Supermarkt oder in der Arztpraxis zuzuhören. Man kann aber, wie fast alles, auch Politisierung kaufen: Sie geht für 12 Euro pro Portion über den Ladentisch, heißt polar und riecht komisch. Das neue »Halbjahresmagazin für politische Philosophie und Kultur« ist eine Antwort auf die Frage, was dabei herauskommt, wenn mehr als 40 Autoren – unter ihnen ein halbes Dutzend Professoren und acht wissenschaftliche Mitarbeiter – ihre Zettelkästen zum Thema Politisierung plündern, um politisierende Texte zu basteln. Wer als Ergebnis uninspirierte und trotz ihrer Kürze erstaunlich langatmige Aufsätze auf Proseminar-Niveau erwartet, wird leider nicht enttäuscht. »Die Grundfrage des Politischen ist die, wer wen aus welchen Gründen heraus regieren kann und darf.« Ach so. »Wer nur die Augen verschließt, verweigert die Parteinahme, auf die andere existenziell angewiesen sind.« Aha. »Der Irak ist gerade einer der gefährlichsten Orte der Welt.« Nein, wirklich? Sätze wie die hier zitierten prägen Stil und Inhalt von polar . Das ist alles irgendwie richtig, zugleich aber auch alles irgendwie nichtig. Damit es keiner merkt, sollen Wortballungen wie »reale supranationale Interessen-Aggregation« den Anschein erwecken, daß auf den 194 Seiten etwas ganz Großes geschieht. polar muß sich schon deshalb mit den ganz großen Themen auseinandersetzen, weil sein halbjährlicher Erscheinungstakt die Aktualität der Artikel begrenzt. Warum aber werden DVDs von 1998 und 2001 vorgestellt? Was ist so faszinierend an Tonträgern der Jahre 2001 und 2003? Warum berichtet ein Rezensent von einem Kinofilm, der seit Februar in keinem Kino mehr läuft? Was an diesen vorgestrigen Kulturgütern besonders interessant oder politisierend sein soll, bleibt im Dunkeln. Auf acht Farbseiten bestaunen wir »kollektive Erinnerungsorte der westdeutschen Geschichte«: So sieht also Gorleben heute aus; das also ist Mutlangen; hier also wurde Benno Ohnesorg erschossen, und zwar laut Bildlegende im Jahr 1976. War es nicht 1967? Kann sein. Egal. Irgendwas Politisches wird es schon bedeuten – so wie das Titelfoto. Es zeigt die gelbe Wand eines leicht lädierten Raums. Kabel hängen von der Decke und durch die halboffene Tür. Daneben stehen drei leere Stühle. Ist das der Wartesaal zum Kleinen Glück? Das Redaktionsstübchen der polar -Macher? Wer lange sucht, findet die Antwort kleingedruckt in der Autorenliste: Dies ist ein Foto aus der Bildserie »Berlin Clubs«. Schaut man sich die Club-Fotos unter der angegebenen Internetadresse an, wird man auch nicht schlauer. Ohne großes Rätselraten kann man sich hingegen an den fast drei Dutzend Sammelbildchen wichtiger Politiker erfreuen, die hier und da mal einzeln, mal in Vierergruppen zu sehen sind: Karzai, Mubarak, Blair, Khatami, Bush und viele andere, deren Gesichter sich politisch Interessierte offenbar einprägen sollen. Redaktionsleiter Peter-Stefan Siller ist zugleich Leiter der Abteilung Inland der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung und Geschäftsführender Vorsitzender der Grundsatzkommission der Grünen. Sein polar -Stellvertreter Bertram Keller ist Mitglied der Grünen Akademie. Im Beirat der Zeitschrift sitzen Daniel Cohn-Bendit und etliche andere, die gelegentlich bei Veranstaltungen der Böll-Stiftung mitwirken. Dennoch versichert Herausgeber Siller im Deutschlandfunk : »Dieses Zeitschriftenprojekt polar hat keinerlei parteipolitische Konnotationen«. Es hat aber auch kaum politische Konnotationen. Statt Politisierung erzeugt polar Langeweile. Schnell interessiert man sich weniger für die Texte als den süßlichen Chemieduft des teuren Papiers. Martin Petersen
Schmunzeln über die böse WeltIm überfüllten Zug von Berlin nach Karl-Marx-Stadt kamen sich – es war kurz vor Weinachten – die Fahrgäste nahe, körperlich und mental. Man sprach über Planerfüllung und Zugverspätung, und ein ganz schlauer, blasser Germanistikstudent ließ auch mal ein Brecht-Zitat los, das er – um unangreifbar zu sein – einem »Sowjetbürger« zuschrieb. In dieser Runde fielen auch die Sätze: »Kunst muß man nicht so ernst nehmen. Sie verschönt zwar unser Leben, beantwortet aber nicht die aktuellen Fragen der Zeit.« Daran hält sich der Autor dieser und vieler anderer schöner Szenen. Er verschönt uns mit seinen Schilderungen und seinem Humor das Leben, das dennoch ungerecht bleibt. Wir können lachen, schmunzeln, uns erinnern und so prächtige Figuren bewundern wie die dicke Großmutter; und auch der spindeldürre Großvater erfreut uns. Thomas Bruhn hat sein erstes Buch geschrieben, es ist gelungen. Es handelt vom Besitz eines Schlosses, das in Vorzeiten an die Familie geriet, aber weder zu DDR-Zeiten noch danach werden Scheiblers als Besitzer anerkannt. Die Welt ist den kleinen Leuten nicht gut gesinnt, und dennoch verstehen sie zu leben, können arbeiten, feiern, trinken – mehr als nur ihren »Kirsch« –, haben ihre Gewohnheiten, Marotten und Überzeugungen, wechseln die Parteien, wenn es dem Schloßbesitz dienen könnte, und halten zusammen. Weihnachten gibt es Klöße, da ist das Gedränge in der Bahn vergessen. Humor und genaue Detailkenntnis, Drüberstehen und Drinstecken – Bruhn nutzt seine Mittel virtuos. Er fand eine Tonlage, die Vergessenes zurückholt, ohne sentimental-ostalgisch zu werden, aber auch nicht verbissen und böse. Möglicherweise bereitet das Hören des Textes noch mehr Spaß als das Lesen. Thomas Bruhn bietet Lesungen an. Christel Berger Thomas Bruhn: »Das großartige Wiederhabenwollen«, Scheunen-Verlag. 220 Seiten, 18 €
Kreuzberger NotizenDieser Artikel ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht verfügbar. Press-KohlDie Freie Presse (Zwickau) berichtete aus Osterode: »Mit einem gefährlichen Ausflug hat eine todesmutige Nacktschnecke in Niedersachsen für einen mittelgroßen Störfall gesorgt. Sie krabbelte in einen Kabelverteiler und erlitt einen tödlichen Stromschlag.« Über den allgemeinen Charakter der Bewohner dieser Gegend wußten wir aus dem einschlägigen Liedgut: »Wir sind die Niedersachsen, / sturmfest und erdverwachsen, / heil, Herzog Widu-kinds Stamm.« Nun erfährt man, daß die niedersächsischen Nacktschnecken, obwohl sie nicht fliegen können, gefährliche Ausflüge veranstalten. Manche von ihnen sollen sogar todesmutig sein. Falls Sie interessiert, woher die Freie Presse das weiß, müßten Sie mal in Zwickau (Obersachsen) anrufen. * Stefan Kirchner berichtete in der Berliner Morgenpost , im hiesigen Deutschen Theater seien »die Dramatisierungen zweier gewichtiger Romane geplant. Ingo Schulzes Wendewerk ›Neue Leben‹ und Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹. Letzteres ein klarer Fall für Chefdramaturg Oliver Reese.« Die 1626 eng bedruckten Seiten des Musil-Romans dramatisiert Reese, der Chefdramaturg des Berliner Reese-Theaters, mit sicherer linker Hand, ohne den Wälzer vorher gelesen zu haben, wofür er wie viele Menschen keine Zeit hat. Unser Olli schafft sowas in einer schlaflosen Nacht. Voraussichtliche Dauer der Aufführung: eine Woche (2 kleine Pausen, 1 Atem- und Generalpause). Das Publikum wird gebeten, belegte Brötchen und Handtücher mitzubringen. Benutzung der Toiletten umsonst, Rentner zahlen die Hälfte. Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 19/2006 |
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