Der Guru

Anne Dessau

Es ist jetzt mehr als vier Jahrzehnte her, daß ich ihm begegnete. Benno Besson hatte mich an ihn vermittelt. Villain leitete einen »Kurs«, Auftraggeber war die Neue Berliner Illustrierte (NBI) , Ausbildungsziel: begabte Schreiber für das Genre »Literarische Reportage« auszubilden. Im Sinne von Kisch, mit Anleihe bei Brechts V-Effekt, pointiert wie Kurzgeschichten von Hemingway, soziale Analyse nach Marx und Sweezy. Letzteren besorgten wir uns »drüben«, er war nicht zugelassen im Staate DDR.

Villain, der mit seiner Arbeit zu einer »kritischen, offenen Auseinandersetzung mit den anliegenden gesellschaftlichen Problemen« kommen wollte, ignorierte uneinsehbare Vorschriften; dem Kommunisten und Weltbürger galt als unerheblich, woher die Zutaten kamen, die er für seine Zwecke benötigte. Hauptsache, sie waren hilfreich auf dem Wege zu seinem/unserem Ziel: »Für einen liberalen Journalismus gegen gebetsmühlenartigen Wortschrott«.

Wir umarmten damals die Welt und verbrauchten sehr viel schwarzen Tee. Wir – das waren Klaus Schlesinger, Landolf Scherzer, Barbara Hannig, ich. Selten habe ich eine kleine Gruppe Menschen, alle plus-minus 30 Jahre, alle fest in andere Berufe eingebunden, so intensiv arbeiten, streiten, lernen, lachen und schreibend erfinden sehen wie damals in dem kleinen Wohnzimmer bei Brun/Villain in Pankow.

Handwerk, die Techniken der Reportage, Weltsicht, Bildung trainierte Villain mit uns ohne Druck, mit Humor und Ernsthaftigkeit. Wir wetteiferten miteinander. Niemals gegeneinander. Villains Persönlichkeit bestimmte das Klima. Man wollte gut sein, mithalten, dann und wann aufleuchten in der Gruppe. Für ihn. Er war unser Guru. Was wir alle nicht bemerkten, damals, Villain war nur wenige Jahre älter als wir. Er überzeugte durch Wissen und Können, war »weltbewandert« im Wortsinn. Letzteres neideten wir ihm manchmal. »Der kann leicht Weltbürger sein und Kommunist mit seinem Schweizer Paß in der Tasche«, meckerte es aus uns nach den Seminaren im Café um die Ecke.

Beredsam stellte er für uns seine Kenntnisse aus, ließ sich ausbeuten für seine Sache, die er zu unserer machen wollte: Reporter sein für eine bessere, klügere Gesellschaft. Das hieß lernen: Mißstände aufdecken, Notlagen benennen, scheinbar kleine Mängel in große Zusammenhänge stellen, deren Gefährlichkeit verdeutlichen. Das alles gut dokumentierend, klug wägend, gerecht urteilend, und die Form sollte dem Inhalt entsprechen. Druckreife Arbeiten entstanden für die NBI , konnten dort aber nur noch gegen wachsenden Widerstand publiziert werden. Nach dem berüchtigten 11.Plenum der SED war unser Traum ausgeträumt, die Gruppe aufgelöst, und es begannen, wie Villain später in einem Interview berichtete, die »fürchterlichen Rundumschläge« gegen ihn und seine Thesen vom kritischen Journalismus.

Es war die intensivste und nachhaltigste Lernerfahrung meines Lebens.

Erschienen in Ossietzky 19/2006