Augenblicklich zu verhaften

Daniela Dahn

Als Studentin und später als junge Autorin fand ich in Jean Villain einen der wenigen verehrenswerten literarischen Publizisten in der DDR. Wie Heinz Knobloch fürs Feuilleton, so wurde er zu meinem Lehrmeister für Reportagen. Sein Buch über die Pariser Kommune und seine Berichte von allen Kontinenten holten Welthaltigkeit ins verschlossene Land. Sein angenehmer, leicht schweizerischer Akzent und sein souveränes, bei allem sozialistischem Engagement irgendwie doch bürgerliches Auftreten fiel mir bei Treffen unter Kollegen auf. Dennoch war es mir schwer erklärlich, wie man freiwillig Genf für Ostberlin oder gar für ein Dorf in der Uckermark aufgeben konnte. Da ich ihn als warmherzigen, humorvollen Mann mit klaren Lebensmaximen kennen gelernt hatte, konnte ich ihn das fragen. Und ich hörte in Kurzfassung, was er wenig später in seinem Buch »Junger Mann aus gutem Hause« ausführlich beschrieben hat: Es ist nicht leicht, in der Schweiz ein linker Autor zu sein.

Als ich mich in der Wendezeit in einer Untersuchungskommission mit Stasi-Machenschaften rumschlug, riet er mir, wie er selbst Tagebuch zu schreiben, und schlug mich für den PEN vor. Gleichzeitig lenkte er meine Aufmerksamkeit auf den Geheimdienstskandal in der Schweiz. Eine parlamentarische Untersuchungskommission hatte herausbekommen, daß es zu jedem achten Schweizer eine Akte gibt. Außerdem existierte eine Extremistenliste mit Namen von Personen, die im Notfall augenblicklich verhaftet und interniert werden sollten, darunter Schriftsteller und andere Oppositionelle. Er hat sich darüber lustig gemacht. Und es hat ihn doch getroffen, daß auch sein Name dabei war.

Nichtsdestotrotz veranstaltete die Schweizer Sozialdemokratie, durchaus linker als die deutsche, im Sommer 1998 im Volkshaus Zürich einen Kongreß zum Thema »150 Jahre Kommunistisches Manifest« und lud uns beide dazu ein. Sowohl hier als auch bei unserer gemeinsamen Lesung am nächsten Tag in der ­Pestalozzi-Bibliothek war nicht zu übersehen, wie viel Freunde und Verbündete er unter den Schweizer Linken noch hatte.

Als ich ihn zu seinem letzten Geburtstag anrief, hörte ich kein Klagen. Er sprach dankbar von einem erfüllten Leben und von seiner Hoffnung, dessen Schilderung durch diszipliniertes Arbeiten noch abschließen zu können. Wie gut für uns, daß Jean Villain dies vergönnt war.

Erschienen in Ossietzky 19/2006