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Und dies trotz einer endlosen Kette von Mißerfolgen, Korruptionsskandalen, Vertuschungsversuchen, Kabinettsumbildungen, fragwürdigen Allianzen mit ultrarechten und kriminellen Organisationen und anderer Unsäglichkeiten mehr. Die Kommentatoren fragen ratlos oder auch entsetzt nach den Fundamenten solchen Erfolgs. Ein Neologismus mußte her: Der »Lulismo« sei es, die totale Personalisierung des Wahlkampfs unter dem Motto »Der Präsident ist das Volk und das Volk ist der Präsident«. Das Charisma des Drehers mit neun Fingern. Das verbindende Gefühl, daß es einer »von ganz unten« geschafft hat, dem man nun ständig Knüppel zwischen die Beine wirft, sprich Skandale jeder Art andichtet. Wenn er mit Enbompoint, väterlicher Stimme und dem Akzent des verelendeten Nordostens alte Frauen und kleine Kinder tröstet und dabei Tränen vergießt, wirkt und ist er so echt wie seine Tränen – Lula, der erste brasilianische Präsident ohne Bindungen an die herkömmlichen »Eliten«. Lulas Wiederwahl ist eine Folge der Gefühle, des politischen Instinkts, nicht unbedingt die Sache kühler politischer Überlegung. Eher eine Suche nach dem vertrauenswürdigen Übervater, den die Konkurrenzparteien nicht im Angebot haben und dessen eventuelles Versagen man nur zu gerne anderen zuschreibt, während man von ihm weiterhin Großes erwartet. Deshalb konnte er in einem als Sensation empfundenen Fernseh-Interview am 13. September den deftigsten seiner Parteiskandale ganz souverän als Verrat an seiner Person abtun: Etwa zwei Jahre lang hatte man regelmäßig Stimmen gekauft, nämlich Abgeordnete anderer Parteien bestochen, indem man ihnen schlicht den »Monatlichen« überreichte, einen Aktenkoffer voller Bargeld. Spitzenfunktionäre der Regierungspartei wußten davon, waren möglicherweise sogar Urheber dieser Strategie. Nun ist »Lulismo« wie Peronismo, Getulismo oder Chavismo nichts weiter als ein lateinamerikanisches Etikett für schwer zu bestimmende Inhalte, in der Regel für den bekannten Typ des abgehobenen Alleinherrschers mit nebulöser Ideologie, den die einen als Retter der Nation bejubeln, die anderen als unerträglichen Diktator anklagen. Doch solchen »-ismo« hat Lula nicht verdient. Jedenfalls noch nicht; es mehren sich aber die Visionen eines autokratischen Präsidenten, berauscht und getragen von einem unerhörten Wahlerfolg. Dagegen spricht seine persönliche Geschichte, eng verbunden mit derjenigen seiner Partei, der Partei der Arbeiter (Partido dos Trabalhadores, abgekürzt PT) mit 840.000 eingeschriebenen Mitgliedern. Lula hat sie 1980 noch während der Militärdiktatur mitbegründet. Zwei Jahre zuvor hatte ich ihm zum ersten Mal gegenübergesessen, und zwar anläßlich der großen Metaller-Streiks von 1978/79 in der Automobilstadt São Bernardo do Campo. VW hatte gerade die berittene Polizei im Werk einquartiert; bei Daimler-Benz standen die Räder still. Lula, jung, aggressiv und selbstsicher, beschwerte sich über mangelnde Solidarität der ausländischen Kollegen , auch der deutschen (»...die kamen mir mit Spanisch!«). Die damalige Kraftprobe leitete das Ende der Militärregierung ein (1984) und zugleich den Aufstieg der Gewerkschafter zu Hoffnungsträgern der Nation. Kaum einer von ihnen, der zuvor nicht verfolgt oder gefoltert worden wäre. Mit dem Charisma ihrer Exponenten und mit dem roten Stern im Logo blieb die PT bis heute Sammelbecken nicht nur der politisierten oder einfach nur solidarischen Arbeiterschaft, sondern auch der Intelligenz. Die PT wird heute von den beiden kommunistischen Parteien direkt (PC do B) und indirekt (PCB) unterstützt, wiewohl letztere Lulas Partei zurecht als »liberal« einstuft. Gleichfalls förderlich für die PT ist die allgemeine Wahlpflicht für alle, die einmal Lesen und Schreiben gelernt haben. Sie zwingt jeden Brasilianer auch dann noch an die elektronische Urne, wenn er den eigenen Namen schon längst nicht mehr buchstabieren kann. Gerade solche Wähler identifizieren sich vor allem mit Lula. Nach einer Erhebung in 121 Gemeinden im August dieses Jahres sind Lulas Wähler 58 Prozent derjenigen, die weniger als vier Jahre eine Schule besuchen konnten. Sie gehören zugleich zur den 63 Prozent, die weniger als ein Mindestgehalt (etwa 125 Euro) beziehen. Aber auch 25 Prozent der Befragten mit Hochschulbildung und 26 Prozent der Gutgestellten (Einkommen über 1.250 Euro) wollen den Präsidenten wiederwählen. Die Liberalen sind von Lulas Wirtschaftspolitik entzückt. Seinem roten Stern zum Trotz hat der Präsident seine rigoros neoliberale Politik auf eine breitere Basis gestellt als sein bürgerlicher Vorgänger Fernando Henrique Cardoso. Lulas »Brief an die Brasilianer« – sein Wahlprogramm von 2001 – hatte den damaligen Vorsitzenden des Industrieverbandes Mario Amato noch zur Voraussage eines kollektiven Exodus der brasilianischen Mittelklasse veranlaßt. Doch kaum im Amt holte sich Lula seinen Zentralbankpräsidenten aus den USA: Henrique Meirelles, World-Chairman der Bank of Boston. Und damit Lob von rechts bis rechtsaußen: Delfim Netto, langjähriger Wirtschaftspapst der Militärregierungen, bescheinigt Lula, »die makroökonomischen Fundamente bewahrt zu haben...« und damit »die Bedingungen für das Vertrauen auf die brasilianische Wirtschaft im In- und Ausland«. Diese Politik habe ihn »in die Nachfolge der von Ronald Reagan und Margret Thatcher begonnenen Entwicklungslinie gestellt«, die »heute universell in allen zivilisierten Mehrparteien-Staaten« befolgt werde. Auf diesem Fundament, konzediert Netto weiter, könne »jede Regierung ihre eigenen Ideen verwirklichen«. Soll heißen: Sogar an das Soziale ließe sich denken, nicht nur an die von Lula favorisierte Privatisierung und monetaristische Gesamtausrichtung. Das Lob bezieht sich aber vor allem darauf, daß die Funktion Brasiliens im internationalen Wirtschaftssystem als Lieferant von Roh- und Landwirtschaftsprodukten (Erze, Öl, Soja, in Zukunft auch Gas) und Bereitsteller von Industriestandorten nicht beeinträchtigt, das Verhältnis zu den USA nicht übermäßig belastet wurde. Ein Lob mit Ohrfeigen. Lula steckt es einfach weg, ebenso den häufigen parteiinternen Verrat und die Korruptionsskandale im engsten Umfeld. Angeblich retten ihn häusliche Wutausbrüche oder der notorische Griff zur Flasche. Auch muntern ihn die stets gut inszenierten Kontakte zu Fidel Castro und Hugo Chavez sichtlich auf, seien sie auch in der Hauptsache Rhetorik und Ablenkung von der inneren Lage oder Beschwichtigung der Fundamentalisten im eigenen Lager. Zuweilen kommt aber der energische Lula der Arbeitskämpfe nochmals durch, setzt sich über sogenannte Sachzwänge und über seine Technokraten hinweg. So tilgte er vorzeitig und gegen den Willen der Berater die brasilianische Schuld beim Weltwährungsfonds, mehr als 15 Milliarden Dollar. Einer weiteren Fessel entging er durch geduldiges Lavieren und Auf-Zeit-Spielen, nämlich der von den USA gewünschten Einbeziehung Brasiliens in die Freihandelszone ALCA, Damoklesschwert für die noch nicht wettbewerbsfähige brasilianische Industrie. Beides schon fast vergessene Kraftakte, deren Bedeutung nur angesichts der rücksichtslosen US-amerikanischen Erpressungspraxis ermessen werden kann. Brasilien ist die wichtigste Karte in der Südamerikapolitik Washingtons, getreu der Mahnung Richard Nixons »Wohin sich Brasilien wendet, dahin geht ganz Südamerika«. In Brasilien leben 186 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte aller Südamerikaner, und das Wirtschaftsvolumen (997 Milliarden Dollar im Jahr 2005) steht weltweit an zehnter Stelle. Sein Agrarpotential und sein Süßwasservorrat sind unermeßlich, die Öl- und Gasreserven nur teilweise ausgelotet. Doch der große Bruder wacht; das Land ist von US-Militäreinrichtungen umstellt. Einer Politik im Stil von Chavez, der sich auf weit größeren Erdölreichtum stützen kann, sind eindeutige Grenzen gezogen. Lula hat stattdessen den »Mercosul« (spanisch »Mercosur«) vorangetrieben, den gemeinsamen Markt von Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay und Venezuela als Gegengewicht zum US-Einfluß in Kolumbien, Ekuador und Peru. Vorsichtiges Verhandeln, geduldiges Abwarten und realistisches Einschätzen der eigenen Möglichkeiten sind traditionelle Stärken brasilianischer Außenpolitik. Innenpolitisch verspricht Lula Besserung in seiner zweiten Amtsperiode, die ihm größeren Entscheidungsspielraum geben wird. Eine radikale soziale Neuordnung bleibt jedoch außer Betracht – aus Sorge, daß dann sofort mit US-ame-rikanischer Einmischung, erzwungenem Bürgerkrieg und Umsturz nach dem Muster Chile zu rechnen wäre. Der energische Abbau der sozialen Ungleichheit ist aber unumgänglich, lebenswichtig für Brasilien wie für Lula und seine Partei. Die schüchterne Sozialpolitik muß konkreten Vorgaben weichen, auch gegen den Widerstand von Banken, Industrie und Latifundien. Und die Landreform im fünftgrößten Land der Welt steckt noch immer in den Anfängen. Darin sind sich die wenigen verbliebenen Gralshüter der reinen Lehre der Partei, die Mitstreiter der PC do B und auch die Militärs einig. Lula bedauert inzwischen den Hinauswurf seiner »Partei-Schiiten«. Der überraschende Aufstieg der gefeuerten Senatorin Heloisa Helena und der von ihr begründeten Konkurrenzpartei Partido Socialismo e Liberdade hat ihn tief getroffen. Helena hat nach den Vorhersagen fast zehn Prozent kritischste und wertvollste PT-Wähler abgeworben, nachdem sie all das in ihr Programm geschrieben hat, was in Lulas erster Amtszeit unter den Tisch gefallen ist. Nun kann die »brasilianische Jeanne d'Arc«, wie die Zeitschrift Época sie genannt hat, die ideologische Latte bedenkenlos hochlegen – sie wird ihre Versprechen kaum je zu verwirklichen haben. Sie ist und bleibt Lulas »Stein im Schuh«, wie die Brasilianer sagen. Sie fordert Lulas ureigene Sache, mit der er angetreten ist und die nicht länger übergangen werden kann. Lula hat die Wahl schon gewonnen. Jetzt ist die Wahl an ihm: zurück zu seinen wichtigsten eigenen Vorgaben und damit zur Chance einer entscheidenden Weichenstellung für Brasilien und Südamerika oder Verlängerung der Landesgeschichte um vier weitere unnütze Jahre.
Erschienen in Ossietzky 19/2006 |
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