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Wird sich die Hamas mäßigen?

Sie wird es müssen!

von Jochen Müller

Zweifellos ist die Hamas eine terroristische Bewegung mit übelster antisemitischer Ideologie. Ihre Charta aus dem Jahr 1988 ist zwar nicht das Wahlprogramm von 2006 gewesen - aber die Hamas hat nie irgendwelche Anstalten gemacht, diese Manifestation ihrer anti-israelischen und antisemitischen Ideologie zu revidieren. Und zweifelsohne ist die Hamas eine totalitäre radikal-islamistische Bewegung, die emanzipierten Frauen, liberalen Intellektuellen, Homosexuellen oder palästinensischen Biertrinkern über kurz oder lang das Leben schwer oder unmöglich machen wird, wenn man sie läßt.

Trotzdem: Eine Hamas an der Regierung wird nicht so können wie sie gerne möchte. Das gilt innen- wie außenpolitisch. Zwar haben ihre Führer auf die Forderung von Präsident Abbas, die Hamas solle auf Gewalt verzichten und die Abkommen mit Israel akzeptieren, vollmundig erklärt, daß sie "für eine andere Agenda" gewählt worden seien. Und auch andere islamistische Bewegungen in der Region wie die ägyptischen Muslimbrüder interpretierten den Erfolg der Hamas als Votum für einen unversöhnlichen "Widerstand".

Die palästinensische Wirklichkeit sieht allerdings anders aus. Die Hamas wurde vor allem gewählt, weil die Fatah in den Augen der meisten Palästinenser das Land in jeder Hinsicht abgewirtschaftet hatte: Sie hatte die Arbeitslosigkeit von über 50 Prozent nicht annähernd bekämpfen und den Menschen ein auch nur halbwegs hinreichendes Auskommen sowie soziale Sicherheit garantieren können. Sie hat die Korruption in ihren Rängen nicht nur nicht beenden können, sondern diese grassierte wie nie zuvor - einfache Bürgermeister brachten es in kurzer Zeit zu Prachtvillen. Auch war es der Fatah nicht gelungen, für öffentliche Sicherheit zu sorgen. Vor dem Hintergrund des vorherrschenden Klientelwesens drohte die palästinensische ‚Straße' vielmehr in einer zunehmenden Warlordisierung unterzugehen. Außerdem wurde das staatliche Gewaltmonopol von den militanten Bewegungen ausgehebelt - ein Problem, mit dem sich jetzt womöglich die Hamas angesichts der radikalen Flügel innerhalb der Fatah herumschlagen muß.

Diesen Prioritäten folgte auch der Wahlkampf der Hamas. Sie hielt sich während ihrer Kampagne weitgehend an die Waffenruhe mit Israel. Sie konzentrierte ihre Propaganda nicht auf die Bekämpfung des Erzfeindes, sondern auf das vielfältige Versagen der Fatah. Mit den entsprechenden Erwartungen ihrer Wähler sieht sich die Hamas aber jetzt auch konfrontiert. Das verdeutlichen die Ergebnisse von zwei Meinungsumfragen, die von Al-Jazeera und einem palästinensischen Institut direkt nach den Wahlen sowie Ende Februar durchgeführt wurden.

Demnach erwarten 94 Prozent der Palästinenser von der Hamas, daß sie die wirtschaftliche Situation verbessert und die Arbeitslosenquote senkt. 90 Prozent wollen die Korruption wirksam bekämpft sehen, 85 Prozent erwarten die Bekämpfung der Gesetzlosigkeit, das Einsammeln illegaler Waffen sowie Reformen innerhalb der PA. "Außenpolitisch" würden immerhin 51 Prozent den Staat Israel anerkennen, 54 Prozent plädieren für ein gewaltsames Vorgehen gegen Gruppen, welche die Waffenruhe brechen und 62 Prozent dafür, daß die Raketenangriffe gestoppt werden. 70 Prozent wollen, daß der Friedensprozeß mit Israel wieder aufgenommen wird, 75 Prozent, daß die Hamas ihr Ziel aufgibt, Israel zu vernichten und 80 Prozent plädieren dafür, die Waffenruhe weiter einzuhalten.

Statistiken und Umfragewerte hin oder her - das sind ziemlich eindeutige Zahlen. Sie zeigen, woran sich die Hamas wird messen lassen müssen. Zwar sind Hamasführer nach den Wahlen mit markigen und sicher auch todernst gemeinten Sprüchen aufgefallen, die noch einmal hervorhoben, daß Israel bekämpft werden würde, bis "ganz Palästina" wieder palästinensisch und islamisch sei. Dies könnte indes eher dazu dienen, vor allem die radikalsten Teile der Bewegung sowie ihr islamistisches und antisemitisches Klientel darauf vorzubereiten, daß in nächster Zukunft andere Prioritäten gelten dürften. Es geht um Sicherheit auf den Straßen, um Korruption in den Behörden, um Arbeitsplätze oder um die Errichtung eines Sozialsystems, das nicht mit der Form von patriarchalen Versorgungsleistungen verwechselt werden sollte, die bisher die Hamas so populär gemacht haben.

So versucht die Hamas derzeit also händeringend einzelne Ressorts mit parteiunabhängigen Technokraten und Fatahleuten zu besetzen. Ihr designierter Premier Ismail Haniya darf zumindest innerhalb der Hamas als moderat und pragmatisch gelten. Es könnte sein, daß die ideologischen Hardliner aus Damaskus um Khaled Mas´hal gegenüber den Parteiführern vor Ort an Gewicht verlieren werden. Das legen auch die Umfrageergebnisse nahe: Während 41,5 Prozent für Haniya als effizientestem Premier votierten, erhielt Mash´al nur 7,4 Prozent Zustimmung.

Vor diesem Hintergrund könnte sich ein großer Teil der Menschen, die jetzt die Fatah abstrafen wollten, noch als Wechselwähler erweisen. Finden nämlich die von ihnen erhofften Veränderungen der Lebensbedingungen nicht statt, werden sich viele von ihnen nicht mit Hasspropaganda und reaktionären Appellen an eine krude islamistische Moral abspeisen lassen. Sie würden - so kann man zumindest hoffen - die Hamas auch wieder abwählen. Die Gefahr einer totalitären islamistischen Diktatur nach iranischem Modell besteht in Palästina jedenfalls nicht.

Man kann also eine sich für ihre Verhältnisse pragmatisch gebende Hamas erwarten. Und das bringt auch die internationale Politik in eine Zwickmühle: Auf der einen Seite würde die Streichung von Hilfsgeldern der Hamas eine willkommene Ausrede für ihr Scheitern liefern und zudem der Glaubwürdigkeit "des Westens" in der gesamten Region erheblichen Schaden zufügen - waren es doch gerade die USA und die EU, die auf die Wahlen in Palästina gedrängt hatten. Auf der anderen Seite erscheint es undenkbar, daß eine Regierung anerkannt und finanziell unterstützt wird, deren Ideologie zutiefst antidemokratisch und antisemitisch, und deren programmatischer Dreh- und Angelpunkt die Auslöschung des Nachbarstaates ist. Die Realpolitik dürfte einen Zwischenweg austarieren - irgendwo zwischen Konfrontation und Kooperation.

Jochen Müller ist Leiter des Berliner Büros von MEMRI (The Middle East Media Research Institute).
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 292.

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sopos 4/2006