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In den umliegenden, großenteils durch Bombardements ruinierten Vierteln las sie die Gasuhren ab und kassierte die Gebühren für die begehrte, leider streng rationierte Energie, nachdem ich zwei oder drei Tage vorher in den Hausfluren von Mitte bis Moabit Zettel angeklebt hatte, auf denen beispielsweise mitgeteilt wurde: »Die Gasfrau kommt am nächsten Freitag zwischen 10 und 12«. Die Zettel hatte ich eigenhändig mit Kopierstift gefertigt; ich wollte damals Schriftgrafiker werden (auch dies ist mir nicht geglückt). Woher Papier und Stift kamen, weiß ich nicht mehr. Mein Schlafsofa stand in einer dreieckigen Stube mit zwei zu Weihnachten frostglitzernden Außenwänden. Die dritte Wand war auch kalt, denn dahinter befand sich die herdlose »Küche«. Die Gasfrau selbst verfügte über kein Gas, sondern nur über eine elektrische Kochplatte für rationierten Strom. Mittlerweile besuchte ich eine Klasse im sprachlichen Zweig der Oberschule für Jungen, Berlin-Mitte, Auguststraße, die Klassenräume waren geheizt, wir freuten uns über ein kostenloses warmes »Kotikow-Essen«, so genannt nach dem sowjetischen Generalmajor Alexander Kotikow, Kommandant im sowjetischen Sektor Berlins, der diese erfreuliche Beköstigung für Produktionsarbeiter und die Schuljugend verfügt hatte. Alle die Lehrer, denen Kälte und Hunger genauso vertraut waren wie uns und die sich fast freundschaftlich um uns bemühten, habe ich noch heute, nach 60 Jahren, in namentlicher, deutlicher und dankbarer Erinnerung. Und was habe ich sonst noch gemacht in den Tagen der Lebensmittel- und Kohlenkarten, der Stromsperren und Schwarzmärkte, der Tauschzentralen und Topfreiniger? An jeder Ecke war irgendein Laden. »Bei dem Aufbau ganz weit vorn sein / Will jeden Tag das Kaufhaus Bornschein!« Viel zu kaufen gab es nicht, aber Topfreiniger hatten sie alle! Töpfe, die nichts zu kochen hatten, blieben stets rein. Wie fast alle jungen Leute hatte auch mich damals eine neugierige Lese-Wut befallen: kein Band Brecht, Tucholsky, Kraus, Wolf, Seghers, Bruckner, O.M. Graf, Wassermann, Toller, Hasenclever, Arnold und Stefan Zweig, Heinrich und Thomas Mann, Horváth, Roth war vor uns sicher, der Onkel holte die Traven-Bücher hervor, die zwölf Jahre lang in der zweiten Reihe des Bücherschranks versteckt gewesen waren, ich verschaffte mir vier Kafka-Geschichten für 75 Reichspfennige und merkte erst Jahre später, daß ich die »Hungerkünstler«-Erstausgabe (Berlin 1924, Verlag Die Schmiede) erwischt hatte. Es gab Presse-Erzeugnisse in Fülle, Literatur aus aller Herren Länder, deren Autoren wir allenfalls dem Hörensagen nach kannten. Es gab nicht viel zu essen, aber unendlich viel zu lernen und kennenzulernen. Zum Beispiel das Theater. Von der Großen Hamburger zur Schumannstraße 13 A: Fünfzehn Minuten Fußweg zum Deutschen Theater! Am 26.6.1945 erklommen wir dort den 2. Rang (Stehplatz: 50 Pfennig), erspähten da und dort freie Sitzplätze. »Der Parasit«. Lustspiel nach Picard von Friedrich von Schiller, Leitung: Wolfgang Kühne. Mit Aribert Wäscher, Walter Franck, Paul Bildt, Max Eckard, Elsa Wagner, Antje Weißgerber. Mittendrin wurde es dunkel. Stromsperre. Man ließ eine überdimensionale Notstrom-Glühlampe aus dem Kronleuchter hinab, die Szene wie Auditorium gleichmäßig erhellte. Vor 60 oder 61 Jahren sah ich in diesem wunderbaren alten Tempel Melpomenes und Thalias: Eduard von Winterstein, Gustav von Wangenheim, Paul Wegener, Gerda Müller, Heinrich Greif, Walter Richter, Paula Denk, Horst Caspar, Gerhard Bienert, Max Gülstorff, Herwart Grosse, Friedrich Maurer, Gustaf Gründgens, Horst Drinda, Angelika Hurwicz... Bei schönem Wetter saß ich auf dem Dach des krummen alten Hauses in der Großen Hamburger auf einer Holzplanke neben den Schornsteinen, nahe dem sonnenbeglänzten Sophien-Kirchturm, las in der Berliner Zeitung (herausgegeben i. A. des Magistrats der Stadt Berlin, Chefredakteur: Rudolf Herrnstadt): »Mit dem Ziele, alle beschädigten Dächer im Bezirk Pankow mindestens provisorisch winterfest zu machen, wurde eine Großaktion eingeleitet. – Hebbel-Theater. Tägl. 16.30 Uhr: ›Die Dreigroschenoper‹.« Habe ich gesehen, mit Hubert v. Meyerinck als Macheath. Ich erfuhr auch: »Gebels Kleinkunst-Bühne, Chausseestr. 102, 18.30 Uhr: ›Laßt uns Optimisten sein!‹« Von mir aus gerne! Ich sah die Wolken. Es müßten doch bessere Zeiten kommen. Man wußte bloß noch nicht, aus welcher Richtung sie kommen müßten. Und wann.
Erschienen in Ossietzky 3/2006 |
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