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Ein Vierteljahrhundert war Beate R. in der Gewerkschaft Handel, Banken, und Versicherungen (HBV) aktiv gewesen: zuverlässige Mitarbeiterin in Betriebsgruppe und Frauenausschuß, Delegierte zu Gewerkschaftstagen, langjährige Betriebsratsvorsitzende, Mitglied im Aufsichtsrat der Firma, eines großen Finanzkonzerns – im Kleinkrieg mit dem Kapital konnten ihre Kolleginnen und Kollegen verläßlich auf Beate R. als unerschrockene und kompetente Mitstreiterin zählen. Begeistert berichtet sie, wie sie und andere junge Auszubildende in den 1970er Jahren ihre Durchsetzungskraft erprobten und ihrem Arbeitgeber unentgeltliches Lehrmaterial abtrotzten; wie es gelang, immer mehr Frauen gewerkschaftlich zu aktivieren; wie eine kürzere Wochenarbeitszeit erstreikt wurde. Zufrieden bilanziert sie die schwierigen, aber erfolgreichen Verhandlungen über einen gut dotierten Sozialplan, als Ende der 1990er Jahre »ihr« Konzern von einem größeren geschluckt wurde. »Danach brauchte ich eine Pause«, berichtet Beate R. Eine Zeitlang war sie gewerkschaftlich passiv, widmete sich Familie, Garten und Beruf, las viel und diskutierte bis in die Nacht die Formveränderungen des zunehmend finanzgetriebenen Kapitalismus. Nach der Jahrtausendwende mochte sie der neoliberalen Offensive des Kapitals aber nicht länger tatenlos zusehen. »Bei uns in der Firma war die Gewerkschaft überhaupt nicht mehr sichtbar. Lediglich zu den Tarifrunden gab es mal Flugblätter neben der Stempeluhr«, berichtet die Angestellte, die sich nach der Gründung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), in der die HBV aufgegangen war, neu zu orientieren versuchte. Ihr gelang es, an einem Treffen der bis dahin unsichtbaren ver.di-Betriebsgruppe teilzunehmen. »Ein ver.di-Sekretär und eine Handvoll Kollegen waren anwesend; wir verabredeten Termine quer durchs Jahr, es herrschte Aufbruchstimmung.« Davon blieb nichts. Anders als verabredet, schickte der Sekretär keine Einladung zum nächsten Treffen. Auf telefonische Nachfrage hieß es: »Die Sitzung findet nicht statt.« Die nächsten Treffen fielen ebenfalls aus. »Von dem Sekretär habe ich nie wieder etwas gehört.« Sie erfuhr, er arbeite heute als Unternehmensberater mit eigener Firma. Stattdessen trat Monate später während einer Betriebsversammlung ein anderer ver.di-Hauptamtlicher ans Mikrofon. Vor mehreren hundert Beschäftigten und einem zufrieden grinsenden Unternehmensvorstand verkündete er beiläufig, die gewerkschaftliche Arbeit im Betrieb sei ziemlich desolat, müsse mal belebt werden. »Passiert ist nichts.« Beate R. bat deshalb Anfang des Jahres 2004 in einem Schreiben an die ver.di-Bezirksverwaltung einer westdeutschen Großstadt, ihren monatlichen Mitgliedsbetrag auf fünf Euro zu reduzieren. »Eine Provokation«, erläutert sie. »Ich hoffte, daß ver.di nun aufwacht, das Gespräch mit mir sucht.« Tatsächlich erhielt sie wenig später mitten in der Arbeit den Anruf einer ver.di-Mitarbeiterin. Auf den Hinweis, daß Beate R. im Großraumbüro und am Telefon schlecht über ihre Beweggründe reden könne und ein Treffen hilfreich wäre, wurden ihr die ver.di-Satzung sowie ein Formblatt (»Änderungsmittei-lung«) zugeschickt. Damit wurde die Bitte verbunden, den Antrag auf Reduzierung ihres Monatsbeitrages »um eine entsprechende Mitteilung zu Ihrer veränderten Situation« zu ergänzen. Vorher könne ihr Gewerkschaftsbeitrag nicht gesenkt werden. Statt anzukreuzen, ob sie nun »teilzeitbeschäftigt«, »Auszubildende«, »Haus-frau«, »Rentnerin« oder im »Erziehungsurlaub«, »Wehrdienst/Zivildienst« oder »ohne Einkommen« sei, versuchte Beate R. eine neue Provokation. Sie kündigte die ver.di erteilte Lastschriftermächtigung – und erhielt drei Monate später eine Beitragsmahnung: »Bitte bedenken Sie auch, daß Ihnen die Leistungen unserer Satzung nur gewährt werden können, wenn Sie mit Ihrer satzungsgemäßen Beitragszahlung auf dem laufenden sind.« Weitere fünf Monate später kam ein neues Mahnschreiben der ver.di-Verwaltung. Mit »freundlichen Grüßen« wurde der »lieben Kollegin« nüchtern mitgeteilt, daß ihr Beitragsrückstand mehr als 200 Euro betrage. »Sollte Ihnen die Begleichung Ihrer Beitragsschuld derzeit Probleme bereiten, sind wir gerne bereit, eine angemessene Ratenzahlung mit Ihnen zu vereinbaren. Möglicherweise sind auch Umstände eingetreten, die eine Reduzierung Ihres Beitrages (gem § 14 der ver.di-Satzung) rechtfertigen und damit eine Verringerung Ihrer Beitragsschuld bewirken. Zu ihrer Unterstützung fügen wir unserem heutigen Schreiben einen Antwortbogen bei.« Ein neues Formblatt (»Änderungsmitteilung/Einzugsermächtigung«), das Beate R.. umgehend ausfüllen und zurücksenden solle, »da wir sonst die Angelegenheit an die von uns beauftragte Anwaltskanzlei zur Einleitung des gerichtlichen Mahnverfahrens übergeben müssen, wodurch für Sie zusätzlich unabwendbare Kosten entstehen.« Jetzt reagierte Beate R.. mit einer ausführlichen politischen Begründung. In einem längeren Brief schilderte sie, wie sie früher aktiv Gewerkschaftsarbeit gemacht habe und daß sie den Gewerkschaftsgedanken weiter vertrete. Leider habe sie aber »feststellen müssen, daß diese Arbeit nicht mehr gewünscht wird«. Solange in dem Betrieb, in dem sie arbeite, »eine offene und aktive Gewerkschaftsarbeit nicht feststellbar« sei, werde sie nur noch einen »Solidaritätsbeitrag« entrichten. Sollte dies gemäß ver.di-Satzung nicht möglich sein, schrieb Beate R., »kündige ich meine seit nunmehr über 29 Jahren bestehende Mitgliedschaft«. Eine Antwort kam nicht. Stattdessen zeigte ihr fünf Monate später eine Anwaltskanzlei an, daß sie ver.di im gerichtlichen Mahnverfahren vertrete. »Unsere Mandantin hat uns beauftragt, Sie an die Überweisung der fälligen Beiräge zu erinnern.« Die geforderten mehr als 300 Euro zahlte Beate R. umgehend. Sie hat resigniert, sich ins Private zurückgezogen. »In den gewerkschaftlichen Strukturen ist etwas faul«, lautet ihr Urteil. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die von der ver.di-Führung eingeräumten Probleme, Mitglieder dauerhaft zu binden. Zwar sei die Werbung neuer Mitglieder erfolgreich. Allein im vergangenen Jahr seien 110.000 Menschen ver.di beigetreten. Doch der Mitgliederschwund ist beängstigend, auch wenn die ver.di-Pressestelle dies Ende Januar mit der Formulierung zu kaschieren suchte, mit einem Minus von 4,27 Prozent habe der Mitgliederverlust 2005 »deutlich unter dem in 2004« gelegen: »Gemessen an den Ein- und Austrittszahlen war das letzte Quartal das beste seit ver.di-Gründung.« Damals war ver.di als »weltgrößte Gewerkschaft« mit mehr als drei Millionen Mitgliedern gestartet. Heute sind es nur noch 2,36 Millionen. In diesen Verlusten spiegeln sich die Massenarbeitslosigkeit und der massive Stellenabbau gerade im öffentlichen Dienst und bei früher öffentlichen Unternehmen wie Post und Telekom. Doch der erklärt nicht alles: Mit der Ansiedlung der ver.di-Zentrale in Berlin wurde eine personell und finanziell recht komfortabel ausgestattete Bundesverwaltung geschaffen. Dagegen wurden in der Fläche Gewerkschaftsbüros personell ausgedünnt oder geschlossen. Im Zuge sinkender Mitgliedsbeiträge, woran neben Austritten auch die sinkende Lohnquote der Beschäftigten schuld ist, verschärfte sich dieser Trend. Die ver.di-Bezirke, besonders in den Flächenländern, werden immer größer: »Fußlahme schließen sich zusammen, in der Hoffnung, dann besser gehen zu können«, wie Funktionäre mit schwarzem Humor spotten. In manchen Fachbereichen ist inzwischen ein Sekretär für die Betreuung tausender Mitglieder in Bezirken zuständig, die sich über tausende Quadratkilometer erstrecken. Versuche gewerkschaftlicher Selbstorganisation der Mitglieder, ohne die die Gewerkschaften keine Zukunft haben werden, sind eher zaghaft. Auch treffen sie immer wieder auf bürokratisierte Abläufe. Hinzu kommen organisatorische Mängel, die Mitglieder vergraulen: So mußten Streikende teilweise Wochen auf die Auszahlung ihrer Streikunterstützung warten, weil ver.di-Verantwortliche über Zuständigkeiten rangelten oder schlicht eine Sachbearbeiterin erkrankt war, ohne daß sich jemand um die Erledigung ihrer Aufgaben gekümmert hätte. Das Grundproblem aber ist, daß immer noch nicht alle Gewerkschafter im vollen Umfang verstanden haben, welche Stunde geschlagen hat: daß die lange Zeit stil- und bewußtseinsbildende Sozialpartnerschaft vom Kapital längst aufgekündigt worden und eine Rückkehr zu ihr nicht beabsichtigt ist. »Die gesamte ver.di muß begreifen«, fordert deshalb der Stuttgarter ver.di-Geschäftsführer und Sprecher der ver.di-Linken, Bernd Riexinger, »daß wir uns auf dauerhafte Gegenwehr gegen die Kapitaloffensive einstellen müssen.« Notwendig sei eine »Repolitisierung der gewerkschaftlichen Arbeit in den Betrieben und Dienststellen, die in der Vergangenheit nicht selten zu politikfreien Zonen erklärt wurden.« Beate R. sieht das genauso, macht aber nicht mehr mit.
Erschienen in Ossietzky 3/2006 |
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