Impressum Plattform SoPos |
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können. Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror. Bemerkungen
Kaisers KleiderFrankfurt am Main, wegen seiner Bankhochhäuser auch gerne »Mainhattan« genannt, hat leider kein Stadtschloß wie Berlin, das wiederaufgebaut werden könnte. Was also tun fürs Herz, um die soziale Kälte der modernen Zeiten, die Höhe der Hochhäuser und die Volksferne der zeitgenössischen Architektur zu kompensieren? Da gab es bis zum Zweiten Weltkrieg die historische Altstadt mit Fachwerkhäusern und verwinkelten Gassen. Da gibt es heute auf demselben Areal einen nüchternen Zweckbau der 1970er Jahre, der abgerissen, und das Historische Museum mit potthäßlicher Fassade, die erneuert werden soll. Außerdem schon einige unter dem früheren Oberbürgermeister Walter Wallmann (CDU) rekonstruierte Fachwerkhäuser am zentralen Platz, dem Römerberg, die wie eine Filmkulisse aus Disneyland wirken. Deshalb werden sie von japanischen Touristen eifrig fotografiert. Mehr davon, forderte jetzt die Junge Union. Ihre Mutterpartei sowie führende SPD-Politiker schlossen sich flugs an, denn im Frühjahr ist Kommunalwahl. Da kann man nicht genug in Nostalgie und Heimatgefühl investieren, zumal für die Reparatur von Schlaglöchern in den städtischen Straßen und für die Instandhaltung von Schulen kaum Geld vorhanden ist. Auch der ehemalige Kulturdezernent Hilmar Hoffmann (»Kultur für alle«) schaltete sich in die aufbrandende Debatte ein: »Das Fachwerk besitzt ja nicht nur eine emotionale Qualität, um Heimatgefühle zu erzeugen. Es geht doch darum, wie Frankfurt in seiner großen Zeit ausgesehen hat, der Zeit der Kaiserkrönungen. Deshalb schlage ich vor, den historischen Krönungsweg zwischen Dom und Römer wiederherzustellen…« Man sollte kühn noch einen Schritt weiter gehen und auch die Kaiserkrö-nungen selbst jedes Jahr zur Erinnerung an Frankfurts große Zeit wiederaufleben lassen. Zu diesem Event kämen garan-tiert noch mehr japanische Touristen als heute. Für die Frankfurter mit Stadtbür-gerrecht würden wieder Ochsen am Spieß gebraten, und Wein für alle würde aus dem Gerechtigkeitsbrunnen auf dem Römerberg fließen wie bei den Feier-lichkeiten damals. Die Rolle des Kaisers aber könnte meistbietend unter den Frankfurter Großbankern versteigert werden. Das würde Geld in die klamme Stadtkasse bringen und der Refeudalisierung unserer Gesellschaft endlich Ausdruck geben. Reiner Diederich
Vorübergehend nicht zu erreichenPeter Clever, stellvertretender Verwaltungsratsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit, begründete im Deutschlandfunk seinen Mißbrauchsverdacht gegen viele Leistungsempfänger damit, daß »die Bundesagentur bei 390 000 Anrufen, die sie vorgenommen hat, und bei zehn Versuchen zu unterschiedlichen Tageszeiten an unterschiedlichen Wochentagen 170 000 Menschen – das ist fast die Hälfte – gar nicht erreicht hat, da muß also wirklich nur ein sehr Naiver glauben, daß all diese 170 000 gerade in Vorstellungsgesprächen waren.« Naiv frage ich zurück: Hat ein Arbeitsloser den ganzen Tag am Telefon zu sitzen? Darf er auch mal duschen gehen und auf die Toilette, zum Einkaufen, zum Treff mit Freunden außerhalb der Wohnung, in die Bibliothek zum Lesen, ins Grüne zum Spazieren? Oder darf er das alles nicht mehr? Ich erinnere mich, wie meine Freundin im Sommer vorigen Jahres einmal versuchte, das Arbeitsamt telefonisch zu erreichen. Und noch einmal. Und ein drittes Mal. Immer wieder. An mehreren Wochentagen. Zu verschiedenen Uhrzeiten. Manchmal war besetzt. Doch meistens konnte sie das Telefon so lange klingeln lassen, wie sie wollte: Niemand nahm ab. Da stellte sich mir die Frage: Arbeiten die Beamten etwa schwarz? Inzwischen hat sich der Service ein bißchen verbessert. Er ist auf dem Niveau sogenannter Callcenter der sogenannten freien Wirtschaft angelangt: Man erreicht ziemlich schnell jemanden, der keine Ahnung hat. Neulich gelang es meiner Freundin, eine Auskunft zu erhalten – die sich prompt als falsch erwies. Hugo Steffens
Kein Platz im Fernsehen»Neue Wut« von Martin Keßler war ursprünglich für das öffentlich-rechtliche Fernsehen gedacht, das aber für derartige Dokumentarfilme keinen Platz mehr hat, denn in den zahllosen Talkshows gilt es Wichtigeres zu zerreden – Desinformation statt Aufklärung. Die Verantwortlichen von SPD/CDU tun das ihre: Nichts soll ihren von uniformen Medien hochgepuschten »Reform«-Eifer stören. Dank attac und ver.di kam nun in einem Stuttgarter Kulturzentrum eine Filmvorführung mit Diskussion zustande. Der Film landete also bei AkteurInnen gegen Hartz IV, die damit gleichsam einen Ausschnitt ihrer Geschichte präsentiert bekamen. (Genau genommen waren sie also die falsche Zielgruppe.) Im Mittelpunkt des 90-minütigen Films stehen Arbeitslose, der Arbeitskampf bei Opel, Attac-Aktivisten, der unvermeidliche Sommer (DGB), Minister Clement, Hartz selbst (vor seinem Fall) und nicht zuletzt der Initiator der Montagsdemo aus Magdeburg. Für den ökonomischen Sachverstand oder die schlichte Vernunft durfte der bei den linken Gewerkschaftern so beliebte Jesuit Hengsbach sprechen. (Gibt es keine sachverständigen und glaubwürdigen Ökonomen bei den Gewerkschaften und keine marxistischen Professoren mehr?) Dem Film ist seine Bestimmung fürs Fernsehen anzumerken. Ich vermisse Witz und Schärfe. Hauptsächlich besteht er aus Interviews, in denen Menschen etwas behaupten, zum Beispiel Erkenntnisse gewonnen zu haben. Vom Prozeß der Erkenntnisgewinnung ist aber wenig zu sehen. Wie läßt sich Solidarität bei einem Streik sichtbar machen? Von Ken Loach könnte Keßler das lernen. Sichtbar wird, was möglich wäre, beispielsweise bei der Demonstration der Hartz-Gegner vor dem polizeilich geschützten Arbeitsamt in Nürnberg. Die Uniformierten, ihrer menschlichen Individualität beraubt, sehen aus wie Kampfroboter aus Science-fiction-Filmen. Die mutig trommelnden DemonstrantInnen davor wirken wie Indianer vor den Kanonen der Konquistadoren. Wir warten auf den Film, der die katastrophalen Folgen der Verarmung für die Menschen in sprechende Bilder umsetzt; dieser Film dokumentiert nur Aussagen dazu, eine Art Vorgeschichte. Interessanter wäre es gewesen, wenn sich Keßler auf eine Gruppe von Arbeitslosen konzentriert hätte: wie sie zusammenfinden und protestieren lernen, wie sich die Proteste entwickeln und was dabei aus ihnen selber wird. Auch eine Denunziation von Gewerkschaftsführern, die ihren Aufstieg und ihre Verwandlung der SPD verdanken und von dieser nicht lassen können und wollen, wäre jedenfalls interessanter als nur ein von den Opel-Kollegen ausgepfiffener Ex-Gewerkschafter, der es zum SPD-Landesparteivorsitzenden brachte. In der anschlie-ßenden Diskussion verwies ein Betriebsrat zu Recht darauf hin, daß die Führung nicht viel besser als die Basis sei. Ein Unterschied ist, daß es sich für die einen lohnt, sich zu korrumpieren, während die anderen sich selber blockieren und schädigen. Jetzt gibt es eine Opposition gegen Hartz IV, Demokratie- und Sozialabbau im Parlament; zum zweiten Mal nach den Grünen ist eine Partei von einer Protestbewegung ins Parlament gebracht worden. Hier wäre nun ein Dokumentarfilmer zu wünschen, der ihre Entwicklung analytisch verfolgt – auch mit Rückblick auf die Grünen. Im Fernsehen wird ein solcher Film nicht zu sehen sein, aber er könnte Teil einer alternativen, einer sozialistischen Kultur sein, an der es schrecklich mangelt. Wolfgang Haible PeriodikaDas Buch des Historikers und Journalisten Götz Aly über »Hitlers Volksstaat« ist in den Medien wie eine Art von Beweismittel dafür aufgegriffen worden, daß Sozialstaatlichkeit nichts tauge; sie sei historisch belastet, denn der NS-Staat müsse als »Wohlstandsdiktatur« für das gemeine Volk begriffen werden. Mit dieser Geschichtsdeutung setzen sich im neuen Heft der Zeitschrift Sozial. Geschichte (3/2005) Angelika Ebbinghaus, Rüdiger Hachtmann, Thomas Kuczynski, Michael Wildt und andere auseinander. Alys Versuch, das Dritte Reich als »nationalen Sozialismus« zu deuten und damit die Nazi-Propaganda nachträglich zu bestätigen, wird hier gründlich beantwortet. (Bezug: Peter Lang AG, Hochfeldstr. 32, CH-3000 Bern 9) Red.
Ein Comic zur AufklärungKann Literatur den Antisemitismus besiegen? Wohl kaum, weil Antisemiten keine aufklärerischen Schriften lesen. Warum verbrachte dann das Comic-Genie Will Eisner seine letzten Lebensjahre damit, eine grafische Erzählung über die Entstehungs- und Wirkgeschichte der »Protokolle der Weisen von Zion« zu schaffen? Als Sohn jüdischer Einwanderer in den USA mußte er schon in seiner Kindheit »schmerzvolle Zwischenfälle und Ungerechtigkeiten« erleiden; als Künstler entwickelte er den Comic zu einer Kunstform, mit der er hoffte, »dieser Propaganda auf leicht zugängliche Art und Weise zu begegnen.« Während des Zweiten Weltkrieges war es Eisner, der für eine Zeitschrift der US-Armee den erklärenden Sachcomic erfand; 1978 entwickelte er mit »A Contract with God« das Konzept des Grafischen Romans. Beides verbindet er in »Das Komplott« zu einer wissenschaftlich fundierten Erzählung, die in grauer Vorzeit beginnt und in der Gegenwart endet. Im ersten Buchdrittel arbeitet Eisner mit subtilen Tuschezeichnungen genau die Charaktere seiner Hauptfiguren heraus: Maurice Joly ist ein gescheiter wie scheiternder Literat, dessen »Gespräche in der Unterwelt« Kaiser Napoleon III. stürzen sollen – während der verlogene Emporkömmling Matwej Golowinski Jolys Kampfschrift zu den »Protokollen«, einem Unterdrückungsmittel der Reaktion, verfälscht. Im Mittelteil stellt Eisner Auszüge aus 17 »Gesprächen« ihren zu »Protokollen« umgelogenen Abbildern gegenüber. Das letzte Buchdrittel beschreibt den schrecklichen Siegeszug der Fälschung, der trotz aller Gerichtsurteile, Zeitungsartikel und Sachbücher bis heute weitergeht. Will Eisner wußte, daß die »Protokolle« problemlos im Internet zu finden sind, in allen gängigen Weltsprachen. Sein packendes Buch gehört in jede Schule, jede Bücherei. Es kann die Unerfahrenen und Gedankenlosen erreichen, die auch heute für antisemitische Hetze empfänglich sind. Martin Petersen Will Eisner: »Das Komplott«, DVA, 156 Seiten, 19,90
Walter Kaufmanns LektüreDa bricht einer zu Fuß von Berlin nach Moskau auf, und in drei Monaten unterwegs sammelt er Geschichten, die tief gehen, viel über Rußland kundtun. Ein echter Erzähler, dieser Tucholsky-Preisträger Wolfgang Büscher. Ich habe sein Buch (jetzt als Taschenbuch für 4,50 ) mit Genuß gelesen. Inzwischen hat er ein neues vorgelegt, nachdem er Deutschland zu Fuß umwandert hat, immer an der Grenze entlang. Auch Landolf Scherzer hat sich zu Fuß auf den Weg gemacht, der ehemalige innerdeutschen Grenze zwischen Thüringen, Bayern und Hessen folgend, und das zu einer Jahreszeit mit Regen und Schnee – nachvollziehbar, daß ihn da manchmal der Mut verließ. Aber nein! Er gibt nicht auf. Und hat eine Art, mit den Leuten umzugehen, die selten ist: Er versteht es, sie mit einer einzigen guten Frage zum Sprechen zu bringen und ihnen dabei viel über ihr Leben im einstigen Grenzgebiet zu entlocken. Wenn es die Zeit und die Umstände erlauben, läßt er es im Gasthaus oder in einer Wohnung zu Gesprächen kommen, die nachdenklich machen: über veränderte Lebensbedingungen, Arbeitslosigkeit, Familientrennungen – die Alten harren aus, die Jungen gehen – und über das, was der Abbau kultureller und sozialer Einrichtungen mit sich brachte. Nie bleibt Scherzer allgemein, stets sind es Einzelschicksale, die er beschreibt – und seine Stärke ist: Er doziert nicht. Er stellt fest, wie die Vereinigung die einen zu Gewinnern, die anderen zu Verlierern machte, zeigt, wo Vorurteile geblieben sind oder Annäherungen zustande kamen, und immer wieder neu packt es den Leser, wenn Scherzer im nächsten Dorf, in der nächsten Stadt beim ersten Haus links anklopft. Was wird jetzt kommen? Selten nichts. Fast immer wird dem Wanderer vertraut, und er zieht bereichert weiter, zumindest mit dem Hinweis auf jemanden, der ihn bereichern wird. So schlicht wie die Grund-idee, sich auf Schusters Rappen zu machen und den Grenzstreifen zwischen Gräfenthal und Vacha abzulaufen, so ergiebig die Ausbeute: Ein aufschlußreiches Buch über die Nachwendezeit. Walter Kaufmann Landolf Scherzer: »Der Grenzgänger«, Aufbau Verlag, 393 Seiten, 19,90
Ernst und lustigErnst Lustig heißt der Ich-Erzähler in Steffen Menschings neuem Roman, und ernst und lustig ist auch das Buch, wobei die Bewertung »lustig« zu harmlos ist: Mensching spielt auf allen Registern des Komödiantischen: Situationskomik und Wortwitz, Satire und Doppel-, ja Mehrfachbödiges. Es geht schlicht um den Alltag eines Autors, der sich mit einer Friedrich-Schiller-Biographie auf dem heutigen Medienmarkt behaupten soll. Lustig weiß alles über Schiller, ein besonderes Hobby ist seine Sammlung von Schillerstraßen in ganz Deutschland. Natürlich reicht das heute nicht zur »Vermarktung«, und so hat unser Autor Probleme: Das Buch ist nicht fertig, und er selbst paßt nicht in diese Welt, schon gar nicht in die der Medien-Prominenz. Zudem ist er von Frau und Freundin verlassen. Da hilft nur Flucht. Lustig geht angeblich nach Vietnam und wirklich in die Einsamkeit mit sich selbst, was auf die Dauer so lustig auch nicht ist. »Ist nicht alles Flucht um mich herum« – fragte schon Schiller, und wir alle fühlen uns ertappt. Ein Roman voller Anspielungen und Spaß am Beschreiben heutiger Intellektuellen-Existenz, die sich selbst bei intimer Kenntnis Schillerscher Zitate damit nicht trösten läßt. Mensching brilliert mit Witz, Biß und herrlich passenden Literaturzitaten. Christel Berger Steffen Mensching: »Lustigs Flucht«, Roman, Aufbau Verlag, 328 S., 18.90
Kolossaler KohlMan höre, lese und staune: Erich Honecker war ihm »keineswegs unsympathisch«. Für Osteuropa hatte er ein »ausgesprochenes Faible«. Und ein »Mann der Amerikaner« war er nie. Helmut Kohl schreibt das in seinen »Erinnerungen 1982–1990«, dem zweiten Band, mit dem also noch nicht das Ende erreicht ist. Das Memoirenwerk wird so kolossal wie die Körperlichkeit des Mannes. Aus einem Marmorblock ist es nicht gemeißelt; Kohl ist ein Meister, der mit Gips modelliert, was er in Bronze gegossen wissen will. Seine Prosa ist Protokollprosa. Niemals läßt sie den Verdacht aufkommen, der Verfasser wolle mit bedeutender, berühmter Memoirenliteratur konkurrieren. Die sprachliche Schlichtheit, die simple Bildhaftigkeit kann getrost auch positiv gewertet werden: Niemandem bereitet sie Schwierigkeiten beim Lesen. Die Schwierigkeiten, sich die mehr als 1000 Seiten anzutun, haben andere Gründe: Helmut Kohl suggeriert den Lesern, daß seine Sicht die Sicht aller Sichten ist, also die kenntnisreichste, zutreffendste, gültigste und somit sämtlichen Historikern ins Stammbuch geschrieben. Zwangsläufig ist »ich« die Hauptvokabel des Buches, obwohl über das Ich des Helmut Kohl wenig zu erfahren ist. Das Ich, das stets im Vordergrund agiert, ist der Parteivorsitzende, der Bundeskanzler, der Staatsmann, der seine Freunde und Widersacher in der Partei, der Regierung, der weiten Welt hat. Wieder und wieder wiederholt er, daß er ein Mann ist, der Wort hält, geradezu beschwörend rühmt er sich dieser Eigenschaft. Menschen, die Wort halten, werden über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg in Ehre gehalten. Worthalter sind alle, die zu Kohl stehen wie er zu ihnen: Francois Mitterrand, Ronald Reagan, George Bush senior, in der Reihe der Widersacher stehen Margaret Thatcher und Richard von Weizsäcker. Kohl sagt, ihm sei Feindschaft zuwider, aber den ausgemachten Gegnern versetzt er nicht nur sanfte Maulschellen. Die höchste Note, die Kohl Freunden gewährt, lautet: »Das werde ich ihm nie vergessen.« Ebenso bekommen die Gegner zu spüren, was er ihnen nie vergessen wird, zum Beispiel die CDUler, die ihn Ende der Achtziger aus seinen Positionen drängen wollten. Kohl ist dauerhaft nachtragend, obwohl er alles Unliebsame geschickt verdrängen kann. Das Erinnerungsbuch zeigt einen sauberen Mann, ein reingewaschenes Leben. Kohls Ereignis-Ergebnis-Protokolle lassen bei wohlwollenden Lesern den Eindruck entstehen, an der Seite eines Einzigartigen durch die achtziger Jahre zu wandern. Im übrigen aber wird das wuchtige Werk wenig Wirkung haben. Bernd Heimberger Helmut Kohl: »Erinnerungen 1982–1990«, Droemer, 1134 Seiten, 29.90
Satirisches HochgerichtGelacht wie lange nicht. Das bewirkte Georg Schramm bei den »Wühlmäusen«. Sein Programm hieß »Thomas Bernhard hätte geschossen«. Vermutlich hätte der große Grantler das getan angesichts all dessen, was zu besichtigen ist. Nun tut es Schramm. Bernhard kommt nicht vor. Nur am Ende hören wir seine Stimme aus dem Off, während der Mime bescheiden zuhört. Wir kennen Schramm von den »Scheibenwischern«, wo er nach Hildebrandts Rücktritt allmählich der Führende geworden ist, der Nachdrücklichste. Freilich nur als der Oberstleutnant Sanftleben, der militante Schnarrer mit Krückstock und lederner Kunsthand. Selbst vor dem Bildschirm ist manchmal die glühende Eiseskälte seiner Anklage zu spüren. Hier auf der Bühne bot er viel mehr: fulminante Kritik am aggressiven deutschen Imperialismus (»Zwei Weltkriege in den Sand gesetzt«), an der Politfolkore deutscher Parteien, am Ossi-Wessi-Scheinkonflikt, der den wirklichen Ost-West-Konflikt zwischen Arm und Reich wegtuschen soll; Sprachkritik als Entlarvung (das berüchtigte »Scherflein« des Präsidenten Hundt) und ein Strafgericht über Pharma-Industrie und Ärzteschaft. Was er aus dem Deutschen Ärzteblatt herausgefischt hat: quasi der »Meineid des Hippokrates«! Und schließlich eine Fundamentalkritik an der deutschen Sozialdemokratie. Dafür hat er sich die Figur des Rentners August Dombrowski geschaffen, eine geniale Mischung von altem Proletarier und der Clownsfigur des August. Der aufrechte Sozialdemokrat hält Hochgericht über diese Partei, die immer noch den ehrlichen Namen von einst trägt. Nach Schramms Drei-Stunden-Abend steht das Urteil über ein verkommenes System fest. Jochanan Trilse-Finkelstein Kreuzberger NotizenDieser Artikel ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht verfügbar.
Eine zeitgemäße AnregungSteckt Ihnen noch der Schock vom vergangenen Jahr in den Gliedern, wie sie ihn kürzlich beim Blick auf den Jahreskalender spürten? Jener, den Sie am Weihnachtsabend erlitten, als Ihre sorgsam gewählten, den Enkeln überreichten Geschenke bei weitem nicht den Beifall fanden, den Sie sich erhofft hatten? Und nun haben Sie, weil Sie verbindliche Bestellungen trotz Mahnung wieder nicht erhielten, Ihre Entscheidung noch immer aufgeschoben? Abhilfe könnte Ihnen aus unserem westlichen Nachbarlande kommen. Dort hat sich ein Mann, den Sie vermutlich noch nicht kennen, neue Weihnachtslieder ausgedacht, dazu die Musik geschrieben und sie dann auch noch gesungen. Der Name mag Ihnen nichts sagen. Aber wenn sie die »Chansons de Noel« auch nur einmal gehört haben, werden Sie ihn schwerlich vergessen. Jean René erhält in Frankreich Einladungen von Kindergärten wie von Schulklassen, bei denen er eine Stimmung ganz eigener Art zu verbreiten versteht. Von den ersten Liedern an – das abspielbare Angebot umfaßt dreizehn und gibt die Lieder am Schluß zudem auch in der Instrumentalversion – stellt er sich mit seinem Publikum auf hochvertrauten Fuß. Er hat ihm gleichsam vordem schon ins Ohr geflüstert: Eigentlich kennen wir ja alle Geheimnisse um diesen Weihnachtsmann, um dann lachend mit ihm zu singen: »Wer kommt herein durch den Kamin?« René macht Vorschläge, wie sich hinter Mutters Rücken ein Stück vom Teig für das Weihnachtsgebäck erwischen läßt, wie das Zimmer zu schmücken ist, wo sich Geschenke verstecken lassen, wie Pakete sorgsam ausgepackt werden und was nach dem Fest mit dem Weihnachtsbaum geschehen soll. Er singt vom Vogelhäuschen vor dem Fenster, von einer sausenden Schlittenfahrt und berichtet von einem weit entfernten Land, in dem nie Schnee fällt und doch Weihnachtszeit ist. Die Lieder erzählen einfache Geschichten. Die müssen einem so erst einfallen und teils übermütig, teils besinnlich vorgetragen werden. Eine ansteckende Einladung zum Mitsingen. Ich verspreche schon in den Vorweihnachtstagen eine Versammlung mehrerer Generationen, sobald Sie Jean René in Ihrem Wohnzimmer singen lassen. Spätestens, wenn Sie bis zu Nummer 6 gekommen sind. Da erklingt »Juste une petit os«, die Bitte an den Weihnachtsmann, bei seinen Geschenken eine Gabe für den Hund nicht zu vergessen, dem nicht nachgetragen werden soll, daß er versehentlich einmal den Nachbarn gebissen hat, denn sonst war er doch das Jahr über gehorsam. Diese CD als Ihr Präsent ist freilich auch mit einem Risiko verbunden: Möglicherweise bewirkt es eine relative Entwertung des bereits vorhandenen Tonmaterials, das mehr den Himmel und die Engel als die Erde und deren Kinder besingt. Kurt Pätzold Jean René: » Chansons de Noel! Weihnachtslieder! Ein Fest für die ganze Familie in Französisch und Deutsch«, 2 CDs, ISBN: 3-8337-1374-7, Jumbo Verlag, 22,95 (Wollen Sie aber ein Ossietzky -Abo verschenken, dann bedienen Sie sich bitte des Vordrucks auf der Rückseite des Heftes)
Press-KohlMatthias Platzeck, den man vom letzten Hochwasser an der Oder noch als telegene Persönlichkeit in Erinnerung hat, trat vor einiger Zeit am Ufer der Elbe in der Nähe von Lenzen wieder als Deichgraf respektive Schimmelreiter in Erscheinung. Die Deutsche Presse-Agentur meldete: »Der neue Deich werde künftig 3800 Bürger schützen, sagte Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD), der gemeinsam mit Bundes-umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) den ersten Spatenstich vornahm .« Auch Spaten sind teuer und demzufolge knapper geworden. Deshalb mußten die beiden Politiker gemeinsam mit einem Spaten stechen. Und so demonstrierten sie endlich einmal anschaulich, was die Sparpolitiker aller Parteien immer gerne den »Synergieeffekt« nennen. Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 24/2005 |
This page is hosted by SoPos.org website
<http://www.sopos.org> Contents copyright © 2000-2004; all rights reserved. Impressum: Ossietzky Maintained by webmaster@sopos.org |