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Sozialbetrug

Humor ist, wenn man trotzdem lacht

von Utz Anhalt (sopos)

Kennen sie den schon? Ein Schwarzfahrer meint vor Gericht, er wäre dutzende von Malen schwarz gefahren, und niemand hätte einen Anspruch angemeldet. Und überhaupt: Die Bahn betrügt ihn, nicht er die Bahn. Kalauer sind auch unserem Kanzler nicht unbekannt. Leistungen würden abgezweigt, wo es nur geht. Das könne sich kein Sozialsystem leisten. Andere verrieten vorzeitig die Pointe: Sozialbetrug.

Sozialforschung kalauert selten, sondern begnügt sich mit Fakten. Die Berliner Freie Universität und die dortigen Wohlfahrtsverbände starteten 2000 die Kampagne „Fehlt ihnen etwas?“. Sie richteten eine Beratungs-Hotline für sozial Marginalisierte ein. Die Ergebnisse liegen vor: Sechs von zehn Anrufern hatten Anspruch auf Sozialleistungen, diese nicht bezogen und sich nicht beraten lassen. Ältere schämten sich, zum Sozialamt zu gehen, obdachlose Jugendliche fürchteten, in ein Heim verwiesen zu werden. Erwerbstätige mit Niedriglohn wussten nicht, dass ihnen ergänzende Sozialhilfe zusteht. Die Erfahrungen der 40 Prozent, die zu Ämtern gingen, sind ernüchternd. Individuelle Beratung fand praktisch nicht statt. Ausländische Mitbürger wurden nur in Ausnahmefällen in ihrer Muttersprache belehrt, staatliche Leistungen nur unzureichend in Anspruch genommen.

Neoliberale Witzbolde wüssten vermutlich eine Antwort. Wer zu faul zur Arbeit ist, ist eben zu faul, sich zu informieren. Die Studie trennt auch hier Kalauer von Wirklichkeit. Der Zulauf war riesig. Phlegmatismus der Hilfsberechtigten kann demnach nicht der Grund gewesen sein, Sozialleistungen nicht einzufordern. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, die Inszenierung von Sozialbetrügern, lässt Bedürftige aus der Statistik verschwinden. Hilfsberechtigte nahmen ihr Recht nicht in Anspruch. Die Debatte um den Missbrauch von Sozialleistungen schreckte sie ab. Die neoliberale Propaganda wirkt bar der Fakten; sie wirkt als Drohung. Was geschah? Nur das, was auf dem Sozialamt passieren soll: Die Berater der Wohlfahrtsverbände und der FU stellten ihre Laptops auf und klärten über den jeweiligen Anspruch auf.

Das Berliner Beispiel macht Schule. Das Institut für Soziologie, das DRK, die Arbeiterwohlfahrt, die Diakonie und der Paritätische Wohlfahrtsverband richten in Hamburg 70 Beratungsstellen ein. Die Verbände geben 10.000 Euro aus, um praktische Tipps für Hilfsbedürftige zu leisten. Das ist Aufgabe des Sozialstaates. 10.000 Euro aus Spendengeldern werden verbraucht, weil Sozialämter ihre Aufgaben nicht erfüllen.

Aber wer wird denn so bierernst sein? Schröders Funtruppe hat noch mehr Gags auf Tasche: Die Bevölkerung sei nicht über Hartz IV informiert, die Notwendigkeit der Reformen noch nicht anerkannt, Lafontaine ein Politiker des vergangenen Jahrhunderts; die PDS würde mit den Ängsten der Menschen Politik machen.

Die Berliner Studie verweist in der Tat auf unzureichende Information, unzureichend ist die Information über vorhandene soziale Rechte. Ruth Keseberg-Alt erkennt einen Missbrauch des sozialen Systems. „Der Staat spart an der verdeckten Armut Milliarden“; so lautet das Fazit der Sozialreferentin der Caritas und: „Auf hundert Sozialhilfeempfänger kommt mindestens noch einmal die gleiche Zahl von Berechtigten.“

Spaßverderber könnten Unwissenheit und mangelhafte Personaldecke als Fahrlässigkeit, vorsätzliches Handeln als Betrugsversuch bezeichnen. Noch Griesgrämigere sprächen von Nötigung, wenn Politiker Anspruchsberechtigte einschüchtern. Neue Kalauer sind in Aussicht. Kennen sie schon den von der Caritas, die mit den Ängsten der Leute Politik macht? Am lustigsten ist der mit dem Obdachlosen, der sich im Januar nackt auf die Straße legt. Als er gefragt wird, was er da macht, antwortet er: „Ich leiste meinen Beitrag zum sozialen System.“ Der Kampagne „Fehlt ihnen etwas“, fehlt wohl etwas Humor. Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht – diesmal mit Direktschaltung in den Bundestag. Helau.

Information: www.Fehlt-ihnen-etwas.de

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https://sopos.org/aufsaetze/420fdf3987fc6/1.phtml

sopos 2/2005