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Mehr als 48 000 Lehrstellen weniger als im Vorjahr haben die Unternehmen bis Ende Juli gemeldet. Im Stellenteil einer Zeitung bettelt ein Mädchen um einen Ausbildungsplatz mit dem Hinweis: "Arbeite auch ohne Lohn; gerne in einem Autohaus." Ludwig Braun, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, beruhigt derweil in Bild besorgte Eltern und Jugendliche: "Das Jahr ist noch nicht gelaufen, es gibt noch Chancen zuhauf." Nur wo? Berufe wie Bäcker, Konditor oder Fleischer, für die Handwerkspräsident Dieter Philipp Ende August freie Lehrstellen angepriesen hat, sind wenig zukunftsträchtig. Eine qualifizierte betriebliche Ausbildung, die Perspektiven eröffnet, ist Mangelware. Strikt weigert sich beispielsweise die DaimlerChrysler AG, bundesweit mehr als 2800 Lehrlinge einzustellen. Schließlich beschäftige sein Unternehmen damit bereits 40 Prozent aller Auszubildenden in der deutschen Autoindustrie, verkündet Vorstandschef Jürgen Schrempp. Seit Jahren schon holt sich die Industrie ihren Arbeitskräftenachschub vor allem beim Handwerk. Dessen Ausbildungsquote liegt mit zehn Prozent (gemessen an der Zahl der Beschäftigten) mehr als doppelt so hoch wie die anderer Branchen (Durchschnitt: 4,3 Prozent). Die Bundesanstalt für Arbeit befürchtet, daß nach Beginn des neuen Lehrjahres im Herbst noch 40 000 bis 60 000 Jugendliche mit leeren Händen dastehen werden. Die Bundesregierung verspricht Ersatz in Warteschleifen, die keine Lehrstelle ersetzen. Schon seit Jahren ist das vielgerühmte "duale System" der beruflichen Erstausbildung in Betrieb und Berufsschule nicht mehr in der Lage, ausreichend Ausbildungsplätze bereitzustellen. So dramatisch wie in diesem Jahr war die Situation aber noch nie. Das liegt nicht nur an der Konjunkturflaute. Mehr als 70 Prozent aller Unternehmen haben den jungen Menschen inzwischen den Rücken gekehrt, bilden nicht aus. In den vergangenen beiden Ausbildungsjahren hat die Wirtschaft laut IG Metall mehr als 100 000 Lehrstellen abgebaut. Und dort, wo Lehrlinge eingestellt werden, hat die Ausbildung nicht selten "gravierende qualitative Defizite", klagt Ursula Herdt, die Berufsbildungsexpertin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Das "duale System" steckt in einer chronischen Krise. Politik und Wirtschaft haben diese bislang nur in Ausschnitten zur Kenntnis genommen. So behaupten die Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen in einem Entschließungsantrag vom April dieses Jahres, der klassische duale Pfad sei immer noch die Basis der Berufsbildung "für die große Mehrheit der Jugend". Tatsache aber ist, daß längst weniger als 50 Prozent der Mädchen und Jungen eines Jahrgangs das duale System durchlaufen. Jugendliche mit schlechteren Schulabschlüssen und aus sozial benachteiligten Elternhäusern bleiben zumeist draußen. Für Hauptschüler sind die Chancen auf eine Lehrstelle in manchen Regionen gleich null. Jungen Frauen ist der Zugang zu vielen Berufen versperrt, weil männliche Bewerber bevorzugt werden. Kinder von Migranten sind deutlich benachteiligt. In den blühenden Landschaften Ostdeutschlands hat das duale System zudem nie wirklich Fuß gefaßt. Dort erreicht das Lehrstellenangebot in keinem Arbeitsamtsbezirk die Anzahl der Bewerber. Nach der Wende hat sich im Osten ein Parallelsystem einer staatlich subventionierten Berufsausbildung entwickelt, das am Arbeitsmarkt und bei den Jugendlichen allerdings wenig Akzeptanz findet. Auch im Westen gibt es längst eine unübersichtliche Vielzahl von Ausbildungsgängen außerhalb der Betriebe. Die privaten, kirchlichen oder öffentlichen Träger kassieren teilweise Schulgeld. Vielfach entspricht die Ausbildung nicht den - sich schnell wandelnden - Anforderungen in den Berufen. 70 Prozent der Arbeitsplätze, aber nur 35 Prozent der Ausbildungsplätze befinden sich im Dienstleistungssektor. Seit Jahren liegt die Quote der "Ungelernten" bei 14 Prozent eines Jahrgangs; die amtlich registrierte Jugendarbeitslosigkeit hat mit bundesweit mehr als 550 000 Betroffenen in diesem Jahr den höchsten Stand seit zehn Jahren erreicht. Anfänglich hat die rot-grüne Bundesregierung mehr als zwei Milliarden Euro für Sofort- und Sonderprogramme und Subventionen mobilisiert, um die Jugendlichen zeitweilig von der Straße zu holen und die Chancen benachteiligter Jugendlicher zu verbessern. Strukturveränderungen wurden damit aber weder erreicht noch gewollt. An "schwerwiegende Eingriffe in die bestehenden Macht- und Herrschaftsstrukturen", wie Gerhard Schröders Berater Oskar Negt, der hannoversche Soziologe, sie in seinem Buch "Arbeit und menschliche Würde" fordert, da anders die tiefe Krise unserer Arbeitsgesellschaft nicht zu bewältigen sei, mag Rot-Grün nicht einmal denken. Folgenlos appelliert Wirtschaftsminister Wolfgang Clement lieber an die "Ethik" der Unternehmer. Diese sollten doch bitte ausbilden, statt Arbeitskräfte irgendwo "wegzukaufen". Gleichzeitig hofiert die Regierung die wirtschaftlich Mächtigen, erfüllt deren immer dreister werdende Forderungen nach "mehr Spielraum" für das Kapital. So wurden Qualitätsstandards durch die Suspendierung der Ausbilder-Eignungsverordnung gesenkt. Obwohl das Angebot an Stellen für wenig qualifizierte Arbeitsuchende seit Jahren sinkt, will die Regierung kurze Schmalspurausbildungen in bis zu 56 Berufsfeldern gegen den Widerstand der Gewerkschaften "notfalls dekretieren" (Clement). Der Niedriglohnsektor, politisch gewollt, um das Tarifniveau insgesamt zu drücken, soll auch auf diese Weise erzwungen werden. Im Zuge der "Hartz-Reformen" hat die Bundesanstalt für Arbeit abrupt Angebote für benachteiligte Jugendliche gestrichen, ohne daß die neu eingeführten Bildungsgutscheine die Lage verbessert hätten. Im Gegenteil: Durch den "marktliberalen Kurswechsel" seien in diesem Jahr Hunderte Arbeitsplätze bei den Trägern der Jugendberufshilfe vernichtet worden, klagt Henning Schierholz vom Arbeitskreis "Berufsnot junger Menschen in Niedersachsen". Schon 1980 hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil festgestellt: Wenn der Staat den Arbeitgebern die Verantwortung für die betriebliche Ausbildung überlasse, müßten die Unternehmen diese Aufgabe so erfüllen, "daß grundsätzlich alle ausbildungswilligen Jugendlichen die Chancen erhalten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen". Dazu, so die Richter, müßten sie für acht Bewerber mindestens neun Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen - einen Überhang von 12,5 Prozent. Diese Quote wird seit Jahren kraß unterschritten. Doch Parlament und Regierung nehmen die Wirtschaft nicht in die Pflicht. Bundeskanzler Schröder hat zwar Anfang des Jahres, als er die "Agenda 2010" ankündigte, eine gewerkschaftliche Forderung aufgegriffen: Er hat in Aussicht gestellt, Betriebe, die nicht ausbilden, mit einer Abgabe zu belegen. Das Geld würde dringend für eine Erneuerung des dualen Systems und für ein ergänzendes staatliches Angebot gebraucht. Doch diese Ankündigung war nicht neu: Rot-Grün hatte sie nach dem Wahlsieg 1998 bereits einmal sang- und klanglos fallen gelassen. Sie ist wohl auch dieses Mal nur politisches Spielmaterial. Vorauseilend hat Niedersachsens DGB-Vorsitzender Hartmut Tölle bereits Verständnis signalisiert: Die Wirtschaft könne das ja auch über die Industrie- und Handelskammern selbst regeln. Solche Modernisierer erfreuen das Kapital. Die Zeche zahlen die Menschen.
Erschienen in Ossietzky 18/2003 |
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