Kunterbunt

von Anne Dessau

William Shakespeares "Romeo und Julia", bearbeitet von Thomas Brasch, genutzt von Katharina Thalbach im Berliner Maxim-Gorki-Theater, gespielt vor Prospekten in Ikonenmalerei (Ezio Toffolutti).

Eine Reisegruppe besucht Verona, besichtigt das Haus Capulet. "Please, no smoking, no filming, dont touch." Ironie plinkert über die Szene, der Spagat zwischen gestern und heute ist perfekt.

Ratten, Totenkarren und die Pest: Klammer für die dauerhafteste und kürzeste Liebesgeschichte aller Zeiten. Musik flutet, Mix aus Blues und mittelalterlichem Chorus. Am Bühnenhimmel hängen Seile, mal wird gebommelt wie vom Erfurter Dom, mal gebimmelt nach Armesünderglöckchenart.

Auftritt Romeo. Die Hände zeichenhaft unterm Hosenlatz. Schon mit den ersten Sätzen beißt und kaut der Bursche (Fabian Krüger) einen großen Happen Shakespeare/Brasch, ist saukomisch, derb, sensibel, spricht exzellent, bewegt sich gut, läßt die Pointen blitzen. Braschs wunderbar sinnliches Deutsch macht's möglich, und Krüger kann's. Die Truppe junger Männer - Romeo mit Mercutio (Pierre Besson) und Benvolio (Norman Schenk) - agiert lustvoll derb bis hin zur Klamotte, alsbald wieder aufgehoben in schöne Balance zwischen Sentiment und Raufbolzerei. Das ist frisch, jung, moussierend wie Prosecco. Romeo ist beklappst vor Liebeslust, Julia (Heike Warmuth) ziehts Hemdchen hoch, zeigt sehnsuchtsvoll ihre jungfräulichen Brüstchen, dann toben sie das ungestillte Verlangen in einer Kissenschlacht aus. Frech gedacht und gemacht. Endlich eine Interpretation ohne Stadttheatermuff, der wie Schimmel auf diesem Stück wucherte seit einer kleinen Ewigkeit. Wenn die Dialoge der "Herren" fett-ordinär werden, hat man das Gefühl, dem Zeitgeist nah zu sein. Dem von dunnemals wie heute. Die Amme (Jaqueline Macauly) trägt einen schönen trocknen Ton und einen lustvollen Busen vor sich her. Monika Lennartz ist Prinz und Peter. Putzig wie ein Männchen aus dem Märchen gakt sie einher, ist reizend tump und mächtig wichtig. Julias Mutter (Anna Kubin) erhielt von der Regie eine Form, die sie ausführt, aber nicht ausfüllt. Rainer Kühn als Capulet erfreut mit grotesker Komik und mephistophelischem Schrecken. Besson ist nicht nur Mercutio, sondern auch Pater Lorenzo. Eine hohe Anforderung. Er rettete den Premierenabend, eingesprungen für die erkrankte Thalbach, die den Mercutio hatte spielen wollen. Bessons Leistung kann hier also nur an dem außerordentlichen Einsatz gemessen werden. Hut ab davor. Heike Warmuth ist hochbegabt, mit allen Mitteln versehen, ganz frei und von süßer Lieblichkeit. Ein bemerkenswerter Einstand für die Schauspielschülerin in der Titelrolle.

Das spielerische Beginnen der Inszenierung türmt sich zum Drama. Thalbach schafft diese Wende. Mercutios Tod kippt die gute alte Mär in tödlichen Ernst. Der Sensenmann läßt Gevatter Zufall für sich arbeiten, die Liebenden suchen den Tod, er findet sie. Noch einmal skandiert Romeo seine Liebe, diesmal per Kardiogramm auf dem eisernen Vorhang und, herrlich ironisch, zu stimmungsvoller Blasmusik, dann ist es vollbracht. Wunderbar ist es Thalbach gelungen, den Abstand zur Tragödie, den kleinen Streifen Licht und Luft zu lassen, der immer wieder Lachen und Heiterkeit zuläßt auch in den schrecklichsten Momenten.

"This is the end and you can see the place is bloody." Mit diesem lakonischen Satz kehrt die Reisegruppe zurück aus dem Hause Capulet, und auch das Publikum taucht wieder auf und ein in die Wirklichkeit. Applaus.

Ariane, furchtbar (22. Mar. 2006, 15:42)

Erschienen in Ossietzky 3/2003